Verachtet und vergessen
Der Beobachter-Artikel über ledige Mütter hat ein grosses Echo ausgelöst. Viele betroffene Frauen melden sich und klagen an: Im Verborgenen mussten sie ihre Kinder zur Welt bringen.
Veröffentlicht am 9. Mai 2006 - 10:56 Uhr
Als ob sie ansteckend wären. Das Basler Frauenspital trennte ledige Schwangere bis 1971 von verheirateten. «Es war wie eine geschlossene Abteilung», erinnert sich die 60-jährige Theresia Rohr. Sie verbrachte 1969 mehrere Monate in diesem abgeschotteten Trakt, um ihr uneheliches Kind zur Welt zu bringen. Tagsüber musste Rohr Krebskranke betreuen - «das war fürchterlich» -, um die Geburt ihres Kindes «abzuverdienen». In der Freizeit hatten die «gefallenen Mädchen», wie sie damals genannt wurden, Operationstupfer aus Gaze herzustellen. Die Kinder, die in diesem Trakt zur Welt kamen, waren in der Regel schon vor der Geburt zur Adoption bestimmt. Rohr wehrte sich gegen die Freigabe ihres Kindes, das sie noch im Bauch trug, «obwohl die Spitalfürsorgerin mich immer wieder unter Druck setzte. Ich hatte Schiss, dass sie mir das Kind wegnehmen.»
Der Basler Frauenarzt Michael Ramzin bestätigt die Existenz der Abteilung für «Volontärinnen», wie diese Frauen bezeichnet wurden. Volontärin heissst eine Person, die gegen geringen Lohn zur beruflichen Ausbildung arbeitet. Doch diese Frauen, oft verstossen von ihrer eigenen Familie, wollten ja nur in Ruhe ihr Kind zur Welt bringen. In der Abteilung waren permanent 10 bis 15 Frauen untergebracht. «Wenn die Frauen ankamen, hatten sie ihr Kind bereits zur Adoption freigegeben, und alles war schon festgelegt», sagt Michael Ramzin, der zu jener Zeit als junger Assistenzarzt in der Frauenklinik arbeitete.
Die Kinder seien den Müttern nach der Geburt nicht einmal gezeigt worden, erinnert sich Ramzin. Dabei galt das Basler Frauenspital damals weltweit als besonders fortschrittlich, weil es die Neugeborenen nicht wie anderswo üblich von ihren Müttern trennte. Doch das war nur bei den verheirateten Frauen der Fall - und nicht bei den «gefallenen Mädchen».
«Verwahrloste Uneheliche»
Man kann sich heute kaum mehr vorstellen, wie diese meist jungen Frauen ausgegrenzt, verachtet und pathologisiert wurden. Eine Ahnung davon vermittelt ein Ausschnitt aus dem damaligen Standardwerk von Hans Binder mit dem Titel «Die uneheliche Mutterschaft». Binder, bis 1964 Direktor der psychiatrischen Klinik Rheinau ZH, hatte die Fälle von 350 unehelichen Müttern untersucht und kam zum Schluss: «Das Phänomen der Unehelichkeit tritt in gewissen Familien gehäuft auf. Dies sowie die drei- bis fünfmal stärkere Beteiligung der Unehelichen an Verwahrlosung, Dirnentum und Verbrechen erklärt sich einerseits durch die gehäufte Vererbung minderwertiger Konstitutionen (Schwachsinn und primitive Psychopathieformen) in diesen Familien, andererseits durch die damit Hand in Hand gehenden Milieuschäden. Die meisten unehelichen Mütter stammen aus den niederen Volksschichten, oft aus besonders kinderreichen, unruhig herumziehenden Familien.» Das Buch, das sich an Ärzte, Juristen und Fürsorgebeamte richtete, wurde 1941 geschrieben, es strahlte aber bis weit in die sechziger Jahre aus. Die Universität Zürich verlieh Binder 1964 den Ehrendoktortitel.
Uneheliche Mutterschaft war bis weit in die siebziger Jahre hinein eine Schande. Viele Mütter wurden unter Druck gesetzt, ihr Kind zur Adoption freizugeben.
Auch Adelheid Weber, 66, zählt dazu. 1967 brachte sie im Liebfrauenspital der Diakonissen in Zug einen Sohn zur Welt. «Im Spital sagten mir die Schwestern: ‹Sie können doch als Ledige nicht drei Kinder versorgen. Dann kommt das Büblein eben zur Adoption.›» Sie bekam ihren Sohn Beat nicht zu Gesicht - nur seine Füsschen auf dem Wickeltisch hat sie gesehen. Adelheid Weber hofft nun, ihn über den Beobachter zu finden: «Ich würde Beat gern einmal sehen. Ich warte ja schon ewig darauf.»
Blanca Gauch, 70, nahm man die Tochter ebenfalls weg, obwohl «ich nie etwas unterschrieben habe». Sie brachte ihr uneheliches Baby 1955 im Mütterheim Alpenblick in Hergiswil NW zur Welt. Das Heim war speziell für ledige Mütter gedacht und wurde vom Schweizerischen Katholischen Fürsorgeverein geführt. Der «Alpenblick» war bis Anfang der siebziger Jahre in Betrieb.
Auch die 62-jährige Heidi D. (Name der Redaktion bekannt) aus einer Luzerner Vorortsgemeinde musste sich gegen die Kindswegnahme wehren. «1962 wurde ich von einem verheirateten Italiener geschwängert. Ich 18 Jahre jung, er 35.» Vater und Brüder wollten, dass sie ihr Kind abtreibt. Heidi D. nicht. In ihrer Not wandte sie sich an die Gemeindebehörde und fragte, wo sie ihr Kind gebären könne. «Ich wurde in den Jura verfrachtet, wo ich immer wieder Besuch von der Gemeindefürsorgerin bekam, die mich zwingen wollte, das Kind zur Adoption freizugeben. Sie sagte: ‹Du bist mit einem unehelichen Kind geschändet fürs Leben, findest keinen Mann mehr, bist eine Hure.›»
Mit dem Segen der Kirche
Das besagte Heim im jurassischen Goumois war eine christliche Einrichtung ausschliesslich für ledige Mütter, die im äussersten Winkel der Schweiz ihr Kind zur Welt brachten. Von 1952 bis 1978 waren es 900 Kinder, «etwas weniger als die Hälfte» seien adoptiert worden, sagt Marie-Theres Rotzetter vom Seraphischen Liebeswerk Solothurn (SLS). Dieser aus dem Franziskanerorden herausgewachsene Laienorden hatte 1960 in der Schweiz 13 voneinander unabhängige Sektionen - die meisten gibt es inzwischen nicht mehr. Es ist unbekannt, wie viele Kinder die anderen Sektionen zur Adoption vermittelt haben.
Eine ehemalige Hebamme im jurassischen Heim bestätigt, dass die Fürsorge immer mal wieder versucht habe, ledige Mütter zur Adoption zu überreden. «Die Zusammenarbeit mit den Behörden war unumgänglich», verteidigt sich Rotzetter. Und: Die SLS-Schwestern hätten die Mütter nicht zur Adoption überredet. Diese Aussage bestätigt auch Heidi D. Die Ordensschwestern wollten Heimplatzierungen und wohl auch Abtreibungen verhindern. Das Heim hatte offenbar den Segen der katholischen Kirche: Es erhielt 1971 Besuch von Bischof Anton Hänggi.
Basler Spital entschuldigt sich
Das Liebeswerk führte zusätzlich zwei «Beobachtungsstationen» - «eine Art Wartestationen für Kinder, welche dringend einer Versorgung oder Placierung bedurften», wie es die Jubiläumsschrift formuliert. Bis 1969 machten Ärzte und Fürsorger in drei- bis viermonatigen Aufenthalten Platzierungsabklärungen für 5000 Kinder.
Das Seraphische Liebeswerk ist kein unbeschriebenes Blatt. Es tauchte bereits im Zusammenhang mit dem Skandal um die «Kinder der Landstrasse» auf: Dieses Pro-Juventute-Hilfswerk hatte zwischen 1926 und 1973 systematisch über 600 jenische Kinder ihren Eltern weggenommen und fremdplatziert. Im offiziellen Bericht des Bundes aus dem Jahr 1998 heisst es, «weitgehend unbekannt» sei die Rolle privater Organisationen: «Zu nennen ist hier etwa das Seraphische Liebeswerk, das in den katholischen Gebieten, besonders in Luzern und Solothurn, eine bedeutende Stellung innehatte und das neben der Aktivität im Adoptionswesen und in der allgemeinen Waisenfürsorge eine bis heute unbekannte Anzahl Kinder von Fahrenden betreute.» Marie-Theres Rotzetter räumt ein: «Wir platzierten diese Kinder, wenn sie uns gebracht wurden. Unsere Sozialarbeiterinnen haben nie jenische Kinder aus den Wohnwagen geholt.»
Bleibt zu hoffen, dass auch das Schicksal der ledigen Mütter endlich aufgearbeitet wird. Das Basler Universitätsspital bietet jedenfalls Hand dazu: «Falls Frauen sich im Zusammenhang mit diesen Vorkommnissen in den sechziger Jahren im damaligen Frauenspital in ihrer Würde verletzt fühlen, bedauern wir dies», so Sprecher Andreas Bitterlin gegenüber dem Beobachter. «Falls die Betroffenen zur Aufarbeitung ihrer Geschichte ein Gespräch mit Fachleuten von uns wünschen, sind wir hierzu selbstverständlich gern bereit.»