Als ich dalag – an einem Felshang, mit etwa 50 Knochenbrüchen, ohne Aussicht auf Rettung –, musste ich die folgenschwerste Entscheidung überhaupt treffen. Ich entschied mich für das Leben.

Jener Pfingstsonntag ist ein herrlicher Tag. Ideal für die Kristallsuche. Eine Passion, der ich schon seit meiner Kindheit fröne. Mit meinem Kollegen Walter mache ich mich früh am Morgen auf zur Alp Masügg am bündnerischen Piz Beverin. Es ist nicht das erste Mal, dass wir dort auf knapp 2000 Metern über Meer nach Kristallen suchen. Wir beide kennen das Gebiet wie unsere Westentasche und machen uns deshalb keine Gedanken, als wir den Weg verlassen und durch Alpenrosenstauden hinunter zu unserer Fundstelle steigen. Plötzlich ruft mir Walter zu, er fühle sich nicht wohl und kehre um.

Über einen Felsabsatz erreiche ich schliesslich allein die Kluft. Mit der rechten Hand halte ich mich an einer Erle fest und steige über einen zweistufigen Felsen dem Ziel entgegen. Doch plötzlich gibt der Stamm nach, und der vor mir liegende Fels beginnt sich ganz langsam auf mich zuzubewegen. Wie in Zeitlupe sehe ich, wie meine Füsse langsam vom Fels abrutschen. Rücklings stürze ich die Felsstufen hinab und mit mir ein gewaltiger Gesteinsbrocken, der mir auf Brust und Gesicht prallt. Eine Blutfontäne, die aus meinem Kopf spritzt, ist das letzte Bild, das ich sehe. Danach werde ich ohnmächtig.

Wenn ich jetzt die Augen schliesse

Als ich meine Augen öffne, hänge ich – wie ein Hampelmann – in einer Erlenstaude am Felshang. Noch immer schiesst Blut aus meinem Kopf. Doch auf einmal entspannt sich mein Körper, ich fühle kaum noch Schmerzen. Mir wird klar: Nun ists vorbei. Instinktiv versuche ich, mich Richtung Norden zu drehen, wo all meine Lieben wohnen, um mich zu verabschieden. Und da ist es: das weisse Licht!

Die Medizin liefert plausible Erklärungen für dieses Phänomen. Dennoch bin ich fasziniert, das Licht nun selber zu sehen. Weisses Licht mit Grauschattierungen auf der rechten Seite. Sollte ich die Augen jetzt schliessen, wird es für immer sein. Doch ich bin zu neugierig, als dass ich diesen Moment verpassen würde. Ich will meinen Tod bewusst erleben, will wissen, was nun passiert, wohin ich gehe. Voller Erwartungen reisse ich meine Augen auf und warte darauf, die Schwelle zu übertreten.

Ein heftiges Krachen bringt mich zurück in die Realität. Ein schwerer Felsbrocken schlägt unter mir in der Erlenstaude ein und schüttelt mich aus dem Geäst. Ich überschlage mich und komme einige Meter weiter unten, in einer in den Hang gekerbten Furche, halb sitzend zum Stillstand.

Ich warte. Nichts passiert. Sekunden. Minuten. Nichts passiert. Ich überlege mir, wer bemerken könnte, dass ich verschollen bin. Würde mich mein Freund Walter suchen? Kaum. Immerhin liege ich nicht einmal 500 Meter vom Parkplatz entfernt, in einem eigentlich völlig sicheren Gebiet. Ich kann kaum mehr denken, muss mich auf meine Atmung konzentrieren.

Ich fange an, meine Körperfunktionen zu testen. Meine Arme und Beine lassen sich, wenn auch nur unter grossen Schmerzen, leicht bewegen. Also keine Querschnittslähmung, ich bin erleichtert. Dann überprüfe ich meine Hirnfunktionen. Von einer Bekannten, die beruflich mit Menschen mit Hirnverletzungen zu tun hat, weiss ich, worauf ich achten muss. Ich versuche mich an Dinge in jeder Phase meines Lebens zu erinnern, zähle vorwärts, rückwärts, merke mir Zahlen. Offenbar ist alles in Ordnung. Mein Dickschädel ist wohl doch zu etwas nütze.

In Gedanken versunken, spüre ich plötzlich, wie Regentropfen das Blut aus meinen Wunden waschen. Wenn ich mich nicht irgendwie wärme, werde ich in dieser Nacht erfrieren. Mit den Fingern taste ich nach Moos, Steinen, Gräsern – alles, was mich irgendwie schützen könnte. Die Sonne geht schon fast unter. Ich muss mich beeilen. Schon bald wird das Thermometer unter null Grad fallen.

Diese Arbeit dauert ewig, sie schmerzt und raubt all meine Kraft. Doch nur Bewegung hält mich warm. Also schüttle und rüttle ich meinen Körper während Stunden. Endlich wird es Morgen. Es ist Montag. Pfingstmontag. Vielleicht rufen heute meine Eltern an. Doch wenn ich mich nicht melde, denken sie wohl, dass ich das Wochenende geniesse. Jahrelang habe ich ihnen eingebläut, sie sollen nicht immer gleich das Schlimmste denken, wenn ich mich einmal einen Tag lang nicht melde.

Es muss jemand kommen, irgendjemand

Die Sonne strahlt in mein Gesicht. Ich habe Durst, grossen Durst. Überlege mir gar, meinen Urin zu trinken. Doch was ist wohl kräftezehrender? Zu wenig Flüssigkeit oder die Funktion der Nieren zu beanspruchen? Ich verzichte vorerst aufs Trinken.

Es wird wieder Abend. Ich beobachte Wolken. Doch sie bewegen sich nicht weiter. Hier ist etwas falsch. Dem Programmierer meiner Wettersimulationskarte muss ein Fehler unterlaufen sein. Ich schaue nach links, und da fällt mir auf, dass gar kein Bildschirmrand zu sehen ist. Da wird mir klar: Ich halluziniere. Mein Hirn nimmt allmählich Schaden. Jetzt wirds eng.

In den nächsten Stunden pendle ich zwischen Realität und Wahn. Irgendwie schaffe ich es, nicht einzuschlafen, auch wenn es so viel einfacher wäre. Aber nein. Es muss jemand kommen, irgendjemand. Immer wieder höre ich Autos in der Nähe vorbeifahren, Helikopter über mich hinwegfliegen. Keiner sieht mich.

Doch da, an diesem kalten Dienstagmittag, erscheint ein roter Engel direkt vor meinen Augen. Die Rega-Leute entdecken mich sofort. Ich habe es geschafft.

Dok-Film: «Das Wunder vom Piz Beverin»

Der Kristallsucher Patrik Stalder gerät am Piz Beverin in einen Felssturz und bleibt schwer verletzt liegen. Niemand kann seine Hilferufe hören. Zuhause wartet niemand auf ihn. Bei Regen, nächtlichen Temperaturen unter dem Gefrierpunkt, ohne Wasser und Nahrung und nur dürftig bekleidet, beginnt für Patrik Stalder ein über 50 Stunden lang dauernder Kampf ums Überleben, den er wie durch ein Wunder gewinnt.

Ein Film von Gieri Venzin

Buch

Patrik Stalder hat sein Erlebnis in Buchform festgehalten: «Die roten Engel», erhältlich unter www.pyramedia.ch oder im Buchhandel.