«Essen ist fertig!» – Der Ruf verhallt ungehört im Kinderzimmer. Nur dank Einzelvorladungen findet die Familie komplett am Tisch zusammen. Doch die Kinder sind nur physisch da. Ihr Geist konzentriert sich auf den Bildschirm in der linken Hand, verliert sich in den Weiten des Internets. Der vom beiläufigen Essen gefettete Zeigefinger zieht Schlieren über das Display. Vor wenigen Jahrzehnten sass Gott noch mit am Tisch, beim gemeinsamen Dankgebet. Die Hände waren gefaltet. Dann hörte man Radio Beromünster und schwieg. Der Vater setzte die Anstandsregeln durch. Er war eine Autorität, der man nicht widersprach. «Das ist heute kaum mehr denkbar», sagt Jürgen Oelkers, emeritierter Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich. «Und wenn es Eltern doch probieren: Schauen Sie mal, wie die Kinder reagieren.»

Die Gesellschaft ist heute ein Sammelsurium verschiedenster Glaubensrichtungen, kultureller Ausprägungen und Lebenseinstellungen; jeder für sich, alle nebeneinander. «Es existiert keine Institution mehr, die stellvertretend für alle Regeln aufstellt, an die man sich hält», sagt Oelkers. Die «Benimmlehre», einst Teil der Erziehung in Schule und Familie, sei weitgehend weggebrochen. «Die Notwendigkeit von Anstandsregeln ist zwar unbestritten. Doch wer sie heute verbindlich vermitteln kann, ist völlig unklar.»

Timeline: Der Anstand im Wandel der Zeit

Eltern hoffen auf die Schule, die ihren Sprösslingen elementarste Regeln beibringen soll. Kindergärtnerinnen lehren die Kleinen, die Hand zu reichen, ein paar Minuten stillzusitzen und anderes. «Die Schule ist heute die einzige grosse Klammer, die versucht, die extrem heterogenen Elternhäuser unter einen Hut zu bringen», sagt Beat W. Zemp, Präsident des Lehrerverbands. 

Jeder habe eine andere Auffassung von Erziehung, von streng bis gar nicht erzogen. Am besten klappe das Zusammenleben in der Schule, wenn gegenseitiger Respekt gelehrt werde und Lehrer und Lernende gemeinsam an Anstandsnormen arbeiteten.

Anstandsregeln legen fest, wie wir miteinander umgehen. Sie sind das ungeschriebene Gesetz, das nicht täglich neu ausgehandelt werden muss. Wenn jemand die stille Abmachung verletzt, bekommt er das zu spüren: Sein Verhalten wird sanktioniert. «Dieses System funktioniert ohne Eingreifen von Sittenwächtern oder des Staats», sagt Karin Frick, Zukunftsforscherin am Gottlieb-Duttweiler-Institut. «Es ist zutiefst sinnvoll und stabilisiert die Gesellschaft.»

Neue Normen entstehen meist, indem alte bekämpft werden. Vor ein paar Jahrzehnten waren Frauen gesellschaftlich geächtet, wenn sie Hosen trugen, Sex vor der Ehe hatten und die Pille nahmen. Vor allem die jüngere Generation stellte geltende Normen in Frage und sorgte für heftige Debatten.

Heute ist es allein schon schwierig, solche Regeln zu erkennen. Ein Beispiel: Soll man älteren Personen in Tram und Zug den Platz anbieten? «Dass das nicht mehr partout geschieht, hat schlicht damit zu tun, dass die Alten nicht mehr als schwach angesehen werden», sagt Frick. Das bedeute aber nicht, dass die Anstandsregel, Schwächere zu schützen, keine Bedeutung mehr habe. «Das Bild des Alters hat sich einfach stark geändert.»

Manche Regeln wie Grüssen oder Danken blieben universell gültig und bleiben über die Zeit hinweg erstaunlich stabil. Andere wandeln sich mit der Zeit, Kleider- und Tischregeln etwa oder der Umgang mit dem anderen Geschlecht. Entsprechend muss sich eine Gesellschaft auf ständig neue Normen einigen.

Strassenumfrage: Was finden Sie unanständig?

Wir haben in Zürich einige Passanten zum Thema Anstand befragt. Wir fragten: Was finden sie unanständig? Was nervt sie im Alltag? Und welche Werte geben sie ihren Kindern weiter?

Die erste Antwort stammt von Florian Jenzer, einem jungen Familienvater:

Diskutieren Sie mit

Was empfinden Sie als respektlos? Welche Regeln sollte man an Kinder weitergeben?

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Das Internet öffnet zusätzliche Welten, in denen sich andere Benimmfragen stellen als auf der Strasse. «Die Face-to-Face-Kommunikation fällt weg – die unmittelbare Beobachtung durch ein Gegenüber, die uns zwingt, gewisse Konventionen einzuhalten», so Jürgen Oelkers. Mit der mobilen, digitalen Kommunikation sind Schlupflöcher des Anstands entstanden – und Konflikte mit der realen Welt.

Wer auf den Bildschirm starrt, nimmt die reale Welt nur noch in Fragmenten wahr. Ob sich jemand im Zug auf dem Sitzplatz niederlassen will, auf den man seine Tasche gelegt hat, wird oft nicht mehr wahrgenommen. Auch nicht, ob einer auf der Strasse Hilfe braucht. Diese Zerstückelung der Aufmerksamkeit findet ständig statt. Mitten im Gespräch wendet sich das Gegenüber ab, um eine Mail zu lesen.

«Wir kennen das alle», so Oelkers, «und die meisten von uns stört solches Verhalten.» Dennoch tun wir es. «Weil wir noch kaum Erfahrung im Umgang mit den neuen Geräten haben. Wir schaffen es nicht, uns abzugrenzen. Die Attraktivität, sich mit der weiten Welt im Display zu beschäftigen, siegt über die Höflichkeit in der Realität.»

 

Quelle: Andreas Klammt

Mit der Möglichkeit, Online-Beiträge anonym zu kommentieren, fallen im Internet mitunter alle Hemmungen. Das Schlimmste sehen die meisten Besucher nicht, weil die Betreiber von Websites rassistische und sexistische Beiträge löschen müssen. «Wenn Kommentare mit der Identität des Nutzers auf anderen sozialen Plattformen verbunden wären und somit Bestandteil seiner Online-Identität, wären solche Ausschweifungen nicht an der Tagesordnung», glaubt Zukunftsforscherin Karin Frick. Ohne soziale Kontrolle arte es schnell aus.

Dabei ist Frick davon überzeugt, dass es gerade in sozialen Netzwerken immer mehr auf Anstand und Respekt ankommt. «Diese Tugenden werden künftig darüber entscheiden, ob man die Karriereleiter hinaufklettert oder nicht.» Die soziale Kompetenz sei zwar schon früher ein wichtiger Faktor für Erfolg gewesen, doch noch nie hätten so viele Augen auf einer Person geruht wie heute. Das Privat- und das Berufsleben sind im Internet unwiderruflich verknüpft. «Früher waren die Regeln von oben her klar gesetzt, heute braucht man möglichst viele Verbündete, um weiterzukommen», so Frick.

Der neue Beobachter

Lesen Sie die vollständige Titelgeschichte in der aktuellen Ausgabe des Beobachters. Weitere Themen: Faszination Hagel, wie eine Amateur-Radfahrerin über drei Schweizer Pässe strampelt und wie sich die Freiwilligenarbeit neuer Beliebtheit erfreut.

Der Beobachter 14/2015 erscheint am Freitag, 10. Juli 2015. Sie erhalten die Ausgabe am Kiosk, als E-Paper oder im Abo.

Quelle: Reuters

Anpassung in sozialen Netzwerken ist eine erfolgreiche Strategie, um möglichst viele Freunde zu gewinnen. Frick: «Man muss positiv sein, lustig, angenehm. Rebellion führt nirgends mehr hin, weil der Kampf gegen oben gar nicht mehr nötig ist – das Oben existiert schlichtweg nicht mehr.» Auch darum seien die Jugendlichen heute angepasster. «Es gibt keine Institutionen mehr, gegen die sich die jungen Leute auflehnen können – heute geht es um Likes und Links, um die Beliebtheit in jedem Segment, zu jeder Zeit», sagt Frick.

Die «unanständige, rebellische Jugend» ist auch für den St. Galler Soziologieprofessor Peter Schallberger ein Bild aus der Mottenkiste. «Noch nie waren die Jugendlichen ihren Eltern so ähnlich.» Kollegiale, kumpelhafte Beziehungen statt Über- und Unterordnung. Die Jungen sind keine Revoluzzer mehr, wie eine im Juni veröffentlichte Befragung von 17-Jährigen in der Schweiz zeigt. Sie vertrauen der Marktwirtschaft und tendieren pragmatisch zur politischen Mitte. «In einer Zeit, in der alles möglich sein soll, man aber auch unendlich viel beherrschen muss, wächst das Bedürfnis nach Sicherheit und Klarheit. Das dürfte mit ein Grund für die konservativere Grundhaltung der Jungen sein», sagt Schallberger.

In Zukunft werden Anstand, Höflichkeit und Freundlichkeit schiere Notwendigkeit, prognostiziert Karin Frick. «Unfreundlichkeit wird sich die Gesellschaft nicht mehr lange leisten können.» Die Bevölkerungsdichte, vor allem in grossen Städten, zwinge die Leute dazu, sich miteinander zu arrangieren und sich freundlich zu begegnen. «Die formelle Höflichkeit, wie sie vor 100 Jahren galt, ist sicher nicht die Zukunft unserer Gesellschaft», sagt Frick. Die Notwendigkeit, soziale Normen neu auszuhandeln, werde aber zunehmen.

Quelle: Andreas Klammt

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Quelle: Andreas Klammt