Sie fällt nicht auf, die Scheune oberhalb des Dorfs Sufers. Doch wer genauer hinsieht, merkt, dass Fenster und Luken fehlen, dass das vermeintlich hölzerne Tor aufgemalt und aus Stahl ist. Die Tarnung des Artilleriebunkers aus dem Zweiten Weltkrieg ist perfekt. «Es ist einer unserer schönsten», sagt Peter Baumgartner, Aktuar der Militärhistorischen Stiftung Graubünden. Die Anlage ist gut erhalten, wie damals, als Soldaten von hier aus den Talkessel vor dem Splügenpass kontrollierten. Nur der Stacheldraht fehlt.

Als «Wölfe im Schafspelz» bezeichnet Peter Baumgartner die Bunker, die als Wasserreservoir angeschrieben, als Scheune oder Chalet getarnt sind. «Graubünden ist voll davon», weiss der ehemalige Vorsteher des Bündner Amts für Natur und Umwelt. Nur, so richtig geheim waren die Bunker schon damals nicht: Im Bündnerland wurden sie mithilfe italienischer Gastarbeiter gebaut. «Sie waren eher zur Abschreckung gedacht; die rege Bautätigkeit sollte Wehrwillen demonstrieren.»

Doch die Gegend am Hinterrhein hat weit mehr zu bieten als die Überreste der Reduit-Schweiz. Es ist ein reizvolles Gebirgsland, geprägt vom tosenden Rhein und einer 2000-jährigen Transitgeschichte. Entlang des alten Säumerwegs über den Splügenpass, der Via Spluga, liegen alte Walsersiedlungen, Burgen, grüne Matten und tiefe Schluchten. Einst der Schrecken der Reisenden, sind Rofflaschlucht und Viamala heute Anziehungspunkt für Naturliebhaber. Reste des «schlechten Wegs» sind immer noch sichtbar: Er führte Felswände entlang, die senkrecht in den schäumenden Rhein abfallen.

Vom Kampfbau zum Kulturdenkmal

Ein Grund, weshalb Italienreisende, Töfffahrer und Wanderer an der alten Passstrasse heute einen Stopp einlegen, ist das Museum Crestawald. Die einstige Festung liegt strategisch günstig, mit Blick auf den Talkessel und den Sufnersee, im Rücken die schroffe Rofflaschlucht. 1941 war die Festung bezugsbereit. Zusammen mit Panzersperren und Drahtverhauen war das Fort das modernste an der Südgrenze. «Das Ziel dieser Sperrstelle war, die Transitachse abzuriegeln», erklärt Baumgartner.

Heute gilt der ausgemusterte Kampfbau als Kulturdenkmal. In der Armee 95 war für die Festung kein Bedarf mehr – sie wurde zur Entwaffnung freigegeben. Doch so weit kam es nicht: Die Militärhistorische Stiftung kaufte das Artilleriewerk, um es der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Crestawald ist überraschenderweise auch für Kunstfans von Interesse. Die Festung schmücken Wandgemälde des Bündner Malers Turo Pedretti, dessen Werke heute für viel Geld gehandelt werden. Es sind patriotische Motive, die den Soldaten Mut machen sollten. «Wenn wir in Finanznot geraten, können wir immer noch die Pe-drettis veräussern», scherzt Baumgartner.

Gruslige Reise in die Vergangenheit

In die Zeit des Zweiten Weltkriegs einzutauchen fällt einem in der jahrzehntelang streng geheim gehaltenen Festung nicht schwer. Es scheint, als seien die Wehrmänner nur kurz raus an die frische Luft. Vor dem Schlafraum hängen Mäntel samt Abzeichen, die schweren, genagelten Lederschuhe sind ordentlich im Gestell versorgt, im Gang stehen blankgeputzte Gewehre und Militärvelos, im Krankenzimmer liegt das Besteck zur Notoperation bereit. Im Speisezimmer der Offiziere ist gar Porzellan aufgedeckt – das Festungswachtgeschirr ist heute bei Sammlern sehr gefragt.

Plötzlich ertönt ein Alarm, und der Schrecken fährt den Gästen in die Glieder. «Die Besucher sollen ein Gefühl für die Zeit des Kalten Kriegs bekommen», sagt Hans Stäbler, Lehrer von Beruf und Präsident des Museumsvereins. Für Gänsehaut sorgen auch die kühlen Temperaturen. Konstante zwölf Grad misst das Thermometer das ganze Jahr über. Heute leben im Felsenwerk, einem eigentlichen Dorf im Fels mit Strom und eigener Wasserversorgung, nicht einmal mehr Mäuse.

Die Enge wirkt beklemmend. «Festungskoller», stellt Stäbler trocken fest. «Stellen Sie sich erst die Besatzung vor, die wochenlang im Stollen ausharren musste, ohne Tageslicht und frische Luft.» Bei Vollbelegung waren es in Crestawald 97 Mann, die in zwei Schichten essen, schlafen und mit drei Duschen vorliebnehmen mussten. Privatsphäre gab es, ausser für den Kommandanten, keine. In seinem Schlafzimmer erweckt ein aufgemaltes Fenster samt Geranie einen Hauch von Normalität.

Selbst ein Bundesrat blitzte ab

Das Herzstück der Festung sind «Lucrezia» und «Silvia»: zwei Festungskanonen vom mächtigen Kaliber 10,5 Zentimeter, benannt nach den Töchtern des einstigen Kommandanten – und damals die modernsten Geschütze überhaupt.

In die Festung zu kommen war für Zivilisten ein Ding der Unmöglichkeit. Als im Oktober 1941 ein eleganter Herr in Zivil eintraf und sich als Bundesrat Karl Kobelt, Vorsteher des Militärdepartements, vorstellte, dachte der Wachsoldat nicht daran, das Tor zu öffnen. Das könne jeder sagen, meinte er. Erst der Festungskommandant liess den verärgerten Magistraten herein.

Peter Baumgartner, Generalstabsoberst im Ruhestand, erzählt aus jener Zeit, als sei es gestern gewesen. Als Stabschef der Grenzbrigade 12 hat er selber noch den Abwehrkampf in Graubünden trainiert. «Wir waren wie 8000 Touristen, die drei Wochen Ferien machten.» Das Militär war in vielen der 150 Täler Graubündens ein bedeutender Wirtschaftsfaktor.

Arbeitslose wegen Gotthardtunnel

«Heute bleiben die meisten Touristen nur noch drei, vier Tage», sagt Baumgartner und löffelt seine Gerstensuppe im «Bodenhaus» in Splügen. Im geschichtsträchtigen Hotel ist zurzeit wenig los. Die Wintersaison ist fast zu Ende. Der stattliche Bau, ursprünglich Lagerhaus und Pferdewechselstation, legt Zeugnis ab von der Bedeutung Splügens als Säumerstation. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts sollen es monatlich bis zu 2000 Pferde gewesen sein, die über die abenteuerliche Via Spluga Waren von München nach Mailand schleppten. 1882, mit der Eröffnung des Gotthardtunnels, verlagerte sich der Nord-Süd-Verkehr in die Zentralschweiz, der Warentransit über den Splügen brach zusammen. Viele Menschen im Tal wurden arbeitslos und wanderten aus. Der Bau des San-Bernardino-Strassentunnels 1967 drängte die Splügenroute endgültig ins Abseits.

Dorf mit ursprünglichem Charakter

Entsprechend verschlafen, aber auch sehr entspannt wirkt der Ort. Splügen, eines der ältesten Passdörfer Graubündens, hat sich gerade durch sein jahrzehntelanges Abseitsstehen viel von seinem Charakter bewahren können. Das 414-Seelen-Dorf mit seinen weissgetünchten, südländisch anmutenden Patrizierhäusern und den verwitterten Holzfassaden der Walserhäuser ist 1995 vom Schweizer Heimatschutz mit dem Wakkerpreis ausgezeichnet worden. Auch die historischen Warenlager, die sogenannten Susten, sind erhalten. Aus einigen sind mittlerweile schicke Wohneinheiten geworden: Wo einst Getreidesäcke lagerten, stehen heute Designerküchen.

Im Tal des Hinterrheins hat man den Anschluss an die Moderne gefunden, ohne die Vergangenheit ausser Acht zu lassen. Die Mischung stimmt. Auf den einstigen Saumpfaden, der neu belebten Via Spluga, sind Sommer für Sommer mehr Menschen unterwegs. Und die Bunker am Wegrand erinnern höchstens noch an ein ungemütliches Kapitel in der langen Geschichte des Hinterrheins – diesem Sehnsuchtsland und Tor zum Süden.

Am Hinterrhein: Wo schon Römer die Alpen querten

(Klicken Sie auf die Karte, um diese vergrössert darzustellen)

Quelle: Tanja Demarmels
Via Spluga: Stationen auf der Transitroute


Via Spluga

Der Fernwanderweg führt auf 65 Kilometern von Thusis nach Chiavenna. Die kürzeste Alpenüberquerung in der Schweiz lässt sich in vier Etappen absolvieren (Wanderzeit: fünf bis sechs Stunden pro Tag). Unterwegs trifft man auf Spuren der 2000 Jahre alten Alpentransitgeschichte.
www.viaspluga.ch

Festungsmuseum Crestawald

Das Museum mit Restaurant ist von Juni bis Oktober jeweils samstags geöffnet. Auf Anfrage finden ganzjährig Führungen für Gruppen statt: Telefon 081 650 90 30.
www.festung-gr.ch

Walserdorf Splügen
Die Geschichte des Transitverkehrs über die Alpenpässe Splügen und San Bernardino steht im Zentrum der Ausstellung im Heimatmuseum Rheinwald.
www.viamala.ch

Übernachten: Alte Herberge Weiss Kreuz, www.weiss-kreuz.ch; Hotel Bodenhaus, www.hotel-bodenhaus.ch

Rofflaschlucht

Die «kleine Schwester» der Viamala birgt einen spektakulären Wasserfall. Zur Touristenattraktion wurde die enge Rheinschlucht 1914, auf Initiative eines Wirts. Heute führt sein Urgrossneffe das Gasthaus in der Schlucht. www.rofflaschlucht.ch

Mineralbad Andeer
Das Mineralwasser, das in Andeer aus dem Berg kommt, wird seit 700 Jahren genutzt. Heute taucht man im «Aquandeer» ins kostbare Wasser ein. www.mineralbadandeer.ch

Kirche in Zillis

Die Kirche St. Martin ist berühmt für ihre bemalte Kirchendecke aus dem 12. Jahrhundert. Die Bilderdecke ist weltweit die einzige, die nahezu vollständig erhalten ist. Die 153 Bildtafeln stellen Fabelwesen und Stationen aus dem Leben Christi dar. www.zillis-st-martin.ch