Die Eltern waren geschockt: «Es wäre besser, wenn Dario ein drittes Jahr im Kindergarten bleiben würde», teilte ihnen die Kindergärtnerin mit. Die Begründung: Dario habe gravierende Defizite im sprachlichen Bereich. «Er kann keine vollständigen Sätze bilden und keine einfachen Formen erkennen.» Möglicherweise mache Dario noch grössere Entwicklungsschritte, aber eine schulpsychologische Abklärung sei sicher sinnvoll.

Kinder entwickeln sich nicht gradlinig, das zeigt die Entwicklungspsychologie. Jedes Kind hat sein individuelles Tempo. Deshalb stellt sich die Frage, wie sinnvoll ein bestimmtes Alter samt Stichtag für den Schuleintritt Einschulung Was muss ein Kind für die Schule können? ist. Anders gefragt: Soll ein Kind reif sein für die Schule oder die Schule reif für ein Kind?

Die Schwächen des Systems

Im Idealfall sollten Lehrpersonen die Kinder im jeweiligen Entwicklungsstadium abholen können. Im schweizerischen Bildungssystem klappt das leider nur sehr beschränkt, da der Schuleintritt an ein bestimmtes Alter geknüpft ist. Immerhin zeigen jene Kantone, in denen die Grund- respektive Basisstufe möglich ist, vielversprechende Ansätze für einen fliessenden Übergang von Kindergarten in die Volksschule. So werden im Kanton Bern in jenen Schulen, die die Basisstufe eingeführt haben, vier- bis achtjährige Kinder in einer altersgemischten Klasse unterrichtet – während drei bis fünf Jahren, nach den Lehrplänen für Kindergarten und Volksschule. In der Basisstufe ist nicht das Alter, sondern der Entwicklungsstand und das Interesse des Kindes dafür entscheidend, wann es beginnt, das Lesen, Schreiben und Rechnen zu üben.

Mehr zu Schule bei Guider

Werden Kinder eingeschult, ist das nicht nur für die Kleinen ein bedeutender Einschnitt ins Leben. Guider bietet Eltern wertvolle Tipps rund um die Schule: Erfahren Sie als Beobachter-Abonnentin unter anderem, wie Sie zu einem angenehmen Lernklima beisteuern können und welche Mittel Ihnen bei Unzufriedenheit mit der Schule offenstehen.

Wann gilt ein Kind als schulreif?

Wenn Kinder für den Übergang in die Schule etwas mehr Zeit brauchen, können sie auf Antrag der Eltern, der Kindergärtnerin oder des schulpsychologischen Dienstes ein Jahr später eingeschult werden. Gewisse Kantone stellen dafür allein auf den Wunsch der Eltern ab, in anderen liegt der Entscheid bei der Schulkommission.

Wann aber gilt ein Kind als schulreif? Früher war dafür entscheidend, dass es zugleich mit den Fingerspitzen der linken Hand über den Kopf das rechte Ohr und mit der rechten Hand das linke Ohr berühren konnte. Heute sind neben der körperlichen auch die kognitive und die soziale Entwicklung ausschlaggebend, also die Gesamtpersönlichkeit mit allen Stärken und Schwächen. Die Kindergärtnerin, die das Kind täglich erlebt und seine Entwicklung verfolgt, ist bei der Beurteilung der Schulreife die wichtigste Ansprechperson. Sie weiss vor allem auch, wie sich das Kind in der Gruppe verhält, und hat Vergleichsmöglichkeiten mit anderen Kindern. Die konkrete Beurteilung folgt schliesslich einem Kriterienkatalog (siehe Kriterienkatalog weiter unten).

Zurückstellen ist oft ein weiser Entscheid

Darios schulpsychologische Untersuchung ergab, dass ihm eine logopädische Begleitung und ein drittes Jahr im Kindergarten helfen würden. Die Eltern stimmten zu. Dario wird also im Kindergarten bleiben.

Vielleicht pflichten seine Eltern später Selinas Mutter bei, die ihre Tochter ebenfalls um ein Jahr zurückstellen liess: «Es war die beste Entscheidung. Vom dritten Jahr im Kindergarten hat Selina profitiert. Sie findet in der ersten Klasse überall Anschluss. Wir sind sehr glücklich!»

Je mehr der unten aufgelisteten Eigenschaften und Fähigkeiten auf ein Kind zutreffen, desto vielversprechender ist der Übertritt vom Kindergarten in die Primarschule.

Soziale Reife: Das Kind kann…

  • Kontakt zu Gleichaltrigen aufnehmen
  • sich in eine Gruppe einfügen
  • sowohl zurückstehen wie sich behaupten
  • sich wehren, ohne handgreiflich zu werden
  • Vereinbarungen und Regeln einhalten
  • anderen Kindern beistehen, wenn sie Hilfe brauchen
  • sich auf neue Bezugspersonen einlassen


Körperliche Reife

  • Körpergrösse, Körperbau und Gestaltwandel sind altersentsprechend.
  • Es kann hüpfen, springen, klettern und so seine Bewegungen steuern, koordinieren und kontrollieren.
  • Es kann die Schuhe schnüren und die Hose zuknöpfen. Es kann mit Messer und Schere umgehen, basteln und zeichnen.


Geistige Reife

  • Wahrnehmung: Es kann einfache geometrische Figuren 
erfassen und zeichnen und stellt Fragen, um seine Umwelt 
zu verstehen. Es kann Farben unterscheiden.
  • Raumorientierung: Es kennt Begriffe wie vorne, hinten, oben, unten, links, rechts.
  • Sprache: Es kann sich verständlich ausdrücken, kann Gehörtes mit eigenen Worten wiedergeben, versteht Anweisungen und Verbote, hat einen altersgemässen Wortschatz und kann ganze Sätze bilden.
  • Gedächtnis: Es kann mehrere Anweisungen im Kopf behalten und auch ausführen.
  • Logik: Es kann Zusammenhänge erkennen und Neues schnell erfassen.
  • Mathematik: Es kann zählen und kennt Begriffe wie 
mehr/weniger und grösser/kleiner.
  • Kreativität: Es hat eigene Ideen und kann diese verfolgen.
  • Ausdauer/Konzentrationsfähigkeit: Es kann sich längere Zeit mit einem Thema beschäftigen.


Seelische Reife: Das Kind kann…

  • mit Misserfolg und Kritik, aber auch mit Lob umgehen
  • einen eigenen Willen und Eigeninitiative zeigen
  • sich mit unterschiedlichen Dingen beschäftigen
  • einmal gefasste Vorsätze zielgerichtet umsetzen
  • sich allein an- und ausziehen
  • seine Sachen altersgerecht in Ordnung halten
  • sich auf das Lernen einlassen
  • Fantasie und Realität trennen

Live-Talk mit Kinder- und Jugendpsychiater Dr. med. Kurt Albermann

Am 04. Dezember 2017 diskutierte Urs Gysling, Leiter des Beobachter-Buchverlags, mit Kinder- und Jugendpsychiater Dr. med. Kurt Albermann über psychische Entwicklungsstörungen bei Kinder und Jugendlichen.

Buchtipp
Motivierte Kinder
Motivierte Kinder