Wir gehen wenn möglich zu zweit los, um halb elf Uhr nachts, und machen unsere Runde bis etwa halb zwei. Eine feste Route haben wir nicht. Ich verlasse mich da auf mein Bauchgefühl, denke plötzlich: «Diese Ecke müsste man mal wieder abklappern, dort sollte man noch vorbeischauen.» Das ist die Erfahrung.

In Zürich schlafen mindestens 20 Personen seit Jahren regelmässig draussen. Ich kenne die meisten, und sie kennen mich. Ich mache die Kältetouren seit etwa 15 Jahren, seit ich für Pfarrer Siebers «Sunestube» arbeite. Wenn es nachts eisig kalt wird, ziehen wir los. Besuchen Schlafplätze, schauen nach, ob dort Leute sind. Wir suchen das Gespräch, fragen, ob sie warm genug haben, ob ihre Kleider, Decken und Schlafsäcke trocken sind. Falls nicht, geben wir ihnen das Notwendige ab und bieten an, mit uns ins Warme zu kommen. Wenn sie nicht wollen, ziehen wir weiter. Wir suchen auch nach Leuten, die im Drogenrausch die Kälte nicht wahrnehmen oder irgendwie gestrandet sind. Unser Ziel ist klar: Es darf niemand erfrieren in einer so reichen Stadt wie Zürich.

Quelle: Vera Hartmann
Blödsinnig: Nachts schliesst der Bahnhof

Dieser Winter ist aussergewöhnlich belastend für Obdachlose. In früheren Wintern fielen die Kälteperioden kürzer aus. Nach einer Woche stiegen die Temperaturen wieder an, das gab den Menschen auf der Strasse eine Verschnaufpause. Jetzt aber ist es wochenlang bitterkalt. Richtig hart wird es nach halb ein Uhr morgens, wenn die Trams aufhören zu fahren. Für jemanden ohne Wohnung und ohne Geld gibt es dann praktisch keinen warmen Ort mehr.

In der städtischen Notschlafstelle kommen nur jene länger als eine Nacht unter, die auch in der Stadt angemeldet sind. Für alle anderen bleiben die Plätze in privaten Institutionen wie der Heilsarmee oder den Sozialwerken Pfarrer Sieber, die eine Notschlafstelle in Urdorf und den «Pfuusbus» beim Albisgüetli betreiben. Oder eben die «Sunestube» im «Chreis Cheib», die wir im Winter auch nachts geöffnet haben. Wir haben dort zwar keine Betten, aber immerhin können Leute eine Nacht im Warmen verbringen, und unser Team schenkt Suppe und warme Getränke aus. Um halb zwei Uhr schliesst sogar der Bahnhof. So ein Blödsinn! Welche andere Grossstadt schliesst schon den Bahnhof? Berlin etwa? Oder Paris? Ach was, das macht nur Zürich. Und dann gibt es nichts mehr, nur noch kalte Nacht.

Man schätzt, dass im Raum Zürich zwischen 800 und 1200 Menschen ohne Wohnung sind. Meist Leute, die irgendwann im Leben den Tritt verloren haben. Sie sind plötzlich den Job los, dann die Wohnung, sie landen im Alkohol, in den harten Drogen. Viele ziehen umher, kommen immer irgendwie kurz unter, in einer WG, bei einem Kumpel, irgendwo. Andere nicht. Sie landen auf der Strasse, für ein paar Tage vielleicht, vielleicht auch für länger. Es sind hauptsächlich Männer, manche sind 20 oder jünger, manche sind 70. Frauen werden eher von Bekannten ins Warme geholt, Prostituierte häufig von Freiern. Was auch mit Risiken verbunden ist.

Wer auf der Strasse landet, sucht häufig Unterschlupf in Neubauten, in denen die Schlösser noch nicht montiert sind. Ich weiss auch von einem, der einen Winter lang hinter einem Haus auf dem Lüftungsschacht geschlafen hat. Ein anderer lebte jahrelang in der Waschküche und in einem Kellerabteil eines Wohnhauses, eine unglaubliche Geschichte. Die Bewohner wussten Bescheid und liessen ihn dort leben. Aber es muss nur ein neuer Mieter einziehen, dem das nicht passt, und schon ist Schluss damit. Dann steht ein solcher Mensch wieder auf der Gasse.

Und auf der Gasse ist es nicht einfach, gerade in Zürich. Die Stadt stopft alle Schlupflöcher. Im Zentrum gibt es kaum mehr einen Ort, an dem ein Obdachloser einen Schlafplatz findet. Die Leute werden an den Stadtrand gedrängt. Zürich will keine Obdachlosen, das passt nicht ins Image, das sieht nicht gut aus. Zürich will mit Verlierern nichts zu tun haben.

Bis vor kurzem haben zwei im Wald am Üetliberg gewohnt, jahrelang, in einem Zelt. Ein anderer hat auf einem schmalen Plätzchen direkt an der Sihl geschlafen. Wir haben versucht, ihn von dort wegzuholen, denn er ist Epileptiker, das war gefährlich, er hätte bei einem Anfall leicht in den Fluss fallen und ertrinken können. Aber er wollte sich nichts vorschreiben lassen. Bis er tatsächlich einmal einen Anfall hatte und wir gerade vorbeikamen. Wir konnten ihn aus dem Wasser holen, und erst dann, klatschnass, sagte er mir: «Du hast recht, ich komme mit.»

Quelle: Vera Hartmann
Die Hoffnung, dass sie es schaffen

Ich sehe in meinem Job vieles, was mich schmerzt. Ich sehe Menschen, die ganz unten sind und sich nicht helfen lassen wollen, weil sie sich selber zu wenig wert sind. Ich kann einem Menschen Hilfe anbieten, doch ich kann ihn nicht dazu zwingen, sie auch anzunehmen. Klar: Ich hoffe immer, dass diese Leute es schaffen, aus ihrer Misere herauszukommen. Viele haben das auch getan und leben heute wieder in einer Wohnung, sind von den Drogen weg, haben einen Job, eine Familie. Es gibt diese positiven Beispiele, und die helfen mir über die zuweilen schwierigen Erfahrungen hinweg. Sie und meine Winterspaziergänge durch die Natur, mit meinen Hunden und dem Pferd. Ich mag den Winter überhaupt. Deshalb machen mir auch die Touren durch die kalten Nächte Zürichs nichts aus. Ich bin kälteresistent.