Das Besucherzimmer in Hindelbank mit Sicht auf den Garten vermittelt keine Strafanstaltsatmosphäre. Auch die 26-jährige N.S. (Name der Redaktion bekannt), gekleidet in Jeans und roten Pullover, die entspannt an ihrer Zigarette zieht, vermittelt nicht den Eindruck einer Strafgefangenen. Ihre Stimmung wechselt aber augenblicklich, wenn man sie auf ihre Strafe anspricht. «Wenn ich daran denke, dass die Begnadigungskommission mein Gesuch ohne Begründung einfach ablehnte, komme ich mir manchmal vor wie ein Stück Scheisse», sagt sie. Ihre Augen funkeln.

Rückblende ins Jahr 1998: Die Genfer Justiz ermittelt gegen neun Personen, darunter die Mutter von N.S. und ihre Schwester wegen Drogenhandels. Mit ihrer Familie hat N.S., gerade 19 geworden, zum Zeitpunkt der in Frage stehenden Straftaten keinen Kontakt, mit den Delikten nichts zu tun, wie sie sagt. Sie gesteht aber sofort, dass sie zu einem früheren Zeitpunkt und unabhängig von der Familie 900 Gramm Kokain von Jamaika nach Zürich gebracht hat.

Als «Maultier» engagiert

N.S. Kindheit und Jugend verliefen wenig glücklich. Nach der Scheidung der Eltern kommt sie zum Vater, wo sie aber die nötige Nestwärme nicht findet. Vom 12. bis zum 16. Altersjahr wird sie von den Behörden in verschiedenen Heimen und Institutionen untergebracht. Schliesslich landet sie wieder bei der Mutter, die tief im Milieu steckt. Zwar zieht sie dort bald aus und schlägt sich mit Hilfsjobs durch, doch vermag sie sich in den folgenden zwei Jahren nicht von der Kokainszene zu lösen. Dass sie mit 18 die Abkehr schafft, erklärt sie mit ihrem Glauben. Nun will sie die versäumte Ausbildung nachholen. Doch diesem Vorhaben stehen ihre Schulden im Wege. Dass sie sich mit einem Drogentransport finanziell sanieren will, bezeichnet sie als den dümmsten Fehler.

Weil sie in der Untersuchungshaft ihre Tat sofort gestanden hat, wird sie nach einigen Wochen entlassen. Das Genfer Gericht verurteilt N.S. im Jahr 2000 zu 24 Monaten Gefängnis. Appellationsgericht und Bundesgericht bestätigten das Urteil.

In der Untersuchungshaft gesteht sie ihre Tat sofort und wird nach einigen Wochen entlassen. Das Genfer Gericht verurteilt N.S. im Jahr 2000 zu 24 Monaten Gefängnis. Appellationsgericht und Bundesgericht bestätigten das Urteil. Beide Instanzen finden, ihre untergeordnete Funktion als «Maultier» und die miserablen Startchancen im Leben seien angemessen berücksichtigt worden. Für eine Strafe auf Bewährung gebe es keinen Grund. N.S. bleibt aber frei. Eine Verpflichtung, den Behörden ihren Aufenthaltsort zu melden, wird ihr nie auferlegt.

Am 3. Januar 2001, einen Monat nach dem Entscheid des Bundesgerichts, reicht ihr Anwalt ein Gnadengesuch ein. Die Begnadigungskommission bestätigt dessen Eingang. Danach hört der Anwalt geschlagene zwei Jahre nichts mehr. Erst am 15. September 2003 fragt ein Mitglied der Kommission bei ihm nach, wo sich N.S. aufhalte. Die Kommission wolle nämlich noch am selben Nachmittag mit ihr sprechen und darauf den Entscheid über eine Begnadigung fällen. Der Anwalt kennt die Adresse nicht und kann sie auch nicht plötzlich aus dem Hut zaubern.

Auf die Frage, warum es nun so eile, bekommt der Anwalt zum ersten Mal zu hören, die Kommission habe vor zwei Jahren Gnade auf Bewährung ausgesprochen. Falls sich N.S. in den letzten zwei Jahren gut verhalten und keine Vergehen begangen habe, könne sie mit der Begnadigung rechnen. Die zwei Jahre seien nun um, und die Kommission wolle definitiv entscheiden. Davor wolle man aber noch mit N.S. sprechen.

Heute stellt Marie-Françoise de Tassigny, Präsidentin des Genfer Grossen Rats, die Darstellung des Anwalts in Abrede. Die Begnadigungskommission habe lediglich den Entscheid um zwei Jahre vertagt, mit Gnade auf Bewährung habe dies rein gar nichts zu tun. Für die heutige Anwältin, die den Fall 2004 übernommen hat, ist hingegen klar: «Wenn die zwei Jahre keine Bewährungsfrist sind, machen sie überhaupt keinen Sinn.»

Marie-Françoise de Tassigny behauptet ausserdem, N.S. sei nach dem Eingang des Gnadengesuchs im Jahr 2001 über die Vertagung des Entscheids direkt informiert worden. Man habe einen Brief an ihre Zürcher Adresse geschickt. «Einen solchen Brief habe ich nie erhalten», sagt N.S. Der Beobachter bat darum die Ratspräsidentin schriftlich, eine Kopie des Briefs vorzulegen. Eine Antwort erfolgte nie. Am Datenschutz kann es nicht gelegen haben, denn N.S. hat alle Instanzen vom Amtsgeheimnis entbunden.

Immerhin gestand die Präsidentin des Grossen Rats ein, dass der erwähnte Brief von 2001 nicht eingeschrieben versandt worden sei. Ausserdem habe man es versäumt, dem Anwalt eine Kopie zuzustellen. Dies widerspricht allen Gepflogenheiten; denn der Anwalt, der das Gnadengesuch eingereicht hat, wäre auch der erste Adressat einer Antwort gewesen. Für N.S. und ihre heutige Anwältin ist ganz klar: Dieses Schreiben von 2001 wurde nie versandt.

Gnadengesuche abgelehnt

Doch zurück zur Situation von 2003. Die Begnadigungskommission hatte nur einen kurzen Versuch unternommen, N.S. zur finden. Danach nahm man an, die inzwischen 24-Jährige sei untergetaucht, und liess sie zur Verhaftung ausschreiben. Das Gnadengesuch wurde – unter diesen Annahmen wenig überraschend – abgelehnt.

Dabei wäre es nicht schwierig gewesen, N.S. zu finden. Die Zürcher Adresse war den Genfer Behörden nach eigenen Angaben bekannt. Dorthin wollen sie ihr ja 2001 einen Brief geschickt haben. N.S. hatte sich danach in Zürich abgemeldet und zuerst an ihrem neuen Wohnort in Neuhausen und später in Schaffhausen pflichtgemäss gemeldet. Sie hatte keine Verpflichtung und auch keinen Anlass, ihren Wohnortswechsel den Genfer Behörden zu melden. «Nachdem ich zwei Jahre nichts mehr gehört hatte, dachte ich, die Sache sei erledigt.»

Am 13. März 2004 wurde N.S. in Schaffhausen verhaftet und ins Gefängnis gebracht. Ihre Anwältin reichte sofort ein zweites Gnadengesuch ein, das ohne Begründung abgelehnt wurde. N.S. hatte sich zwar sechs Jahre mustergültig verhalten, doch dies beeindruckte die Begnadigungskommission nicht.

Pflichtbewusste Pflegemutter

Dass sie nicht untergetaucht war, bestätigt ein Vertrag mit der Vormundschaftsbehörde der Stadt Schaffhausen. Darin wird sie als Pflegemutter für die Kinder ihrer Schwester eingesetzt. Eine professionelle Erzieherin attestiert, dass N.S. diese Aufgabe mit Wärme und Pflichtbewusstsein erfüllt habe. Auch Arbeitsbestätigungen liegen vor. Aktenkundig sind die Bemühungen, eine Ausbildung nachzuholen. Hinweise für Verstösse gegen das Gesetz fehlen. Seit sieben Jahren hat sie keine Kontakte zum Drogenmilieu mehr, seit acht Jahren ist sie clean.

Die konsternierte N.S. zum Beobachter: «Hätte ich damals gewusst, wie man mich behandeln würde, hätte ich den Richter angefleht, mich sofort zu inhaftieren. Zum damaligen Zeitpunkt hätte ich die Strafe akzeptiert. Auch eine Ablehnung des Gnadengesuchs hätte ich akzeptiert.» Doch in der Verbüssung vier Jahre nach dem Urteil sieht sie keinen Sinn, zumal die Behörden Fehler über Fehler im Umgang mit ihr begangen hätten.

Peter Aebersold, Professor für Strafrecht an der Universität Basel und langjähriger Präsident der Basler Begnadigungskommission, führt zum Prinzip der Begnadigung Folgendes aus: «Begnadigung ist Einzelfall-Gerechtigkeit. Sie soll dann zum Tragen kommen, wenn die korrekte Anwendung des Strafrechts keinen Sinn macht.»

Macht es Sinn, N.S. sechs Jahre nach der Tat und nach der Abkehr vom Drogenmilieu einzusperren? Für die Genfer Justiz offenbar schon.

Hinweis der Redaktion:

In diesem Text stand ursprünglich, N.S. sei am Flughafen mit Drogen erwischt worden. Das ist falsch. Als sie in einem Strafverfahren gegen ihre Mutter und ihre Schwester zu Vorwürfen befragt wurde, mit denen sie nichts zu tun hatte, gestand sie unabhängig davon eine Straftat, die sie zu einem früheren Zeitpunkt begangen hatte.