Marie Anzi wollte nicht sterben. Nach Leibeskräften wehrte sie sich gegen ihren Mörder. Aber gegen die Körperkraft von Krankenpfleger Roger A. hatte die 76-jährige Frau – ihr Geburtstag lag nur gerade eine Woche zurück – nicht den Hauch einer Chance. Der 36-Jährige presst der Rentnerin einen zusammengefalteten Plastiksack auf Mund und Nase und schneidet ihr dadurch die Luftzufuhr ab. Marie Anzi erstickt nachts in ihrem Zimmer im Pflegeheim Eichhof in Luzern – nach einem grauenvollen Todeskampf.

«Ich weiss, dass meine Mutter in ihrer Todesstunde durch die Hölle ging», sagt Charles Anzi, einer der drei Söhne von Marie Anzi. Roger A. fuhr nach vollbrachter Tat nach Hause und schaute sich mit seiner Freundin einen Film an.

Seit dem Mord an seiner Mutter im Juni 2001 findet Charles Anzi keine Ruhe. Die immergleiche Frage ist es, die ihn umtreibt: «Könnte die Mutter noch leben?» Zu Hause in seinem Wohnzimmer stapeln sich neben dem Esstisch in einem extra eingerichteten Gestell die Ordner, in denen das Treiben von Roger A. minuziös festgehalten ist. Stundenlang hat sich Charles Anzi schon in diese traurige Lektüre vertieft; je mehr er erfuhr, desto drängender wurde das Bedürfnis, grösstmögliche Gewissheit zu haben über die genauen Todesumstände seiner Mutter. Und Anzi reichte gegen die Leitung des städtischen Pflegeheims Strafanzeige ein.

«Intervention auf gut Glück»
Roger A. wird schon am Morgen nach dem Mord an Marie Anzi verhaftet. Er lässt sich widerstandslos festnehmen und gesteht bei der ersten Befragung. Die Polizei war mit einem Grossaufgebot ausgerückt, als sie die Meldung erhalten hatte, im «Eichhof» sei erneut jemand zu Tode gekommen.

Es habe sich um eine «Intervention auf gut Glück» gehandelt, sagte der Chef der Luzerner Kriminalpolizei, Daniel Bussmann, später an einer Medienkonferenz – die Verdachtslage gegen Roger A. sei sehr vage gewesen. Und der Luzerner Sozialdirektor Ruedi Meier führte aus, die «den üblichen Rahmen übersteigende Sterbehäufigkeit» habe «die Aufmerksamkeit des erfahrenen Geriaters und Heimarztes Dr. W.*» geweckt. Charles Anzi hingegen hat nach seinem Aktenstudium ein anderes Bild der Ereignisse gewonnen.

Roger A. tritt seine Stelle als diplomierter Krankenpfleger im Betagtenzentrum Eichhof im Dezember 2000 an. Er arbeitet auf der Pflegestation A, auf der die ruhelosen und altersdementen Heimbewohnerinnen betreut werden. Niemand ahnt, dass ein mehrfacher Mörder eingestellt wurde. Mehr als zehnmal hatte Roger A. zuvor schon getötet: auf der Geriatrieabteilung des Obwaldner Kantonsspitals in Sarnen, im Betagtenheim Am Schärme in Sarnen, im Pflegezentrum Seematt in Küssnacht SZ.

Wenige Tage nach seinem Stellenantritt, es ist kurz vor Weihnachten, beginnt das Sterben auch auf der Pflegestation A.

Die plötzliche Häufung der Todesfälle wird entgegen der offiziellen Darstellung schon früh registriert. Angestellte werden stutzig, einzelne stellen bereits im Januar eine Verbindung her zwischen der Häufung der Todesfälle und der Person von Roger A. Denn das Verhalten des neuen Mitarbeiters ist mehr als merkwürdig.

Der Pfleger soll die Todeszeitpunkte einzelner Bewohnerinnen vorausgesagt und sich damit gebrüstet haben. Er soll Leichen ungebührlich behandelt haben, indem er sie wie eine Puppe manipulierte. Das Pflegepersonal bemerkt bei einzelnen Heimbewohnerinnen blaue Flecken, deren Ursache es sich nicht erklären kann. «Meine Mutter wurde von Roger A. in den Monaten vor ihrer Ermordung aus persönlicher Antipathie schikaniert, vielleicht sogar geschlagen», sagt Anzi.

Zumindest eine, vermutlich aber mehrere Krankenschwestern melden ihre Beobachtungen den Vorgesetzten. Auch Pflegedienstleiter F., im «Eichhof» für den gesamten Pflegebereich zuständig, wird aufmerksam: Zu allen Todesfällen – es sind mittlerweile schon vier – kommt es, wenn Roger A. im Dienst ist. Der Pflegedienstleiter holt bei früheren Arbeitgebern von A. Referenzen ein, seine Nachforschungen können den Verdacht aber nicht bestätigen. Kein Wunder: Wichtige Informationen erhält F. nicht. Denn zumindest im Pflegeheim Am Schärme ist das Personal auch auf Roger A. aufmerksam geworden und stellt eine Verbindung her zwischen ihm und der Häufung der Todesfälle.

Edith Schuler, Leiterin Pflegedienste «Am Schärme», will dies aber nicht bestätigen: «Niemand vom Pflegepersonal hat zu mir einen Verdacht gegen Roger A. geäussert.» Und Heimdirektor Zdenek Madera sagt: «Keiner hatte damals einen Verdacht. Im Nachhinein kann jeder etwas behaupten. Wir haben aber aus den Ereignissen gelernt, die Weiterbildung verstärkt und die Sicherheit verbessert. Heute sind wir viel sensibilisierter.»

Die Öffentlichkeit erfuhr nichts
Pflegedienstleiter F. wechselte im März 2001 die Stelle. Zuvor hatte er seine Bedenken dem Heimarzt W. und dem Heimleiter Z.* mitgeteilt. «Der Pflegedienstleiter forderte den Heimarzt W. nach seinen eigenen Angaben explizit auf, ein Auge auf Roger A. zu haben – besonders im Fall von weiteren überraschenden Todesfällen», sagt Charles Anzi.

Doch die Befürchtungen von F. scheinen bei der Heimleitung nicht auf die gebührende Beachtung gestossen zu sein. Diesen Schluss lässt zumindest die Tatsache zu, dass die Polizei von den unheimlichen Vorgängen im «Eichhof» erst am 11. Juni 2001 erfuhr – rund sechs Monate nachdem ein Teil des Personals Verdacht geschöpft und knapp vier Monate nachdem der Pflegedienstleiter auf die Problematik um die Person von Roger A. hingewiesen hatte.

Der frühe Verdacht des Pflegepersonals, die ungeklärten blauen Flecken bei einem Teil der Heimbewohnerinnen, der ungebührliche Umgang mit den Leichen, die Warnung des Pflegedienstleiters F.: Von all diesen Dingen erfuhr die Öffentlichkeit an der Medienkonferenz im Anschluss an die Verhaftung von Roger A. nichts.

«Ich habe den damaligen Kenntnisstand referiert, wie er mir bekannt war. Aus dieser Sicht war die Kausalkette zwischen dem Verhalten des Täters und den Todesfällen nicht erkennbar und nicht so klar wie heute», sagt Stadtrat Ruedi Meier. Der mittlerweile pensionierte Heimarzt W. und der damalige Heimleiter Z. wollen sich mit Hinweis auf das laufende Strafverfahren nicht äussern.

Roger A. wurde im Januar 2005 vom Luzerner Kriminalgericht wegen 22fachen Mordes und mehrfachen Mordversuchs zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. «Ich habe Gott gespielt», sagte der Todespfleger vor Gericht. Der Staatsanwalt qualifizierte ihn als geltungssüchtigen und überforderten beruflichen Versager. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, Roger A. hat Berufung eingelegt.

Die Strafuntersuchung gegen die Heimleitung soll noch in diesem Jahr zum Abschluss kommen. Dann entscheidet der mit der Untersuchung beauftragte Amtsstatthalter, ob Anklage erhoben wird. Charles Anzi fragt sich: «Wie hätte sich die Heimleitung wohl verhalten, wenn in der Zeit, als sich die Todesfälle häuften, ein eigenes Familienmitglied im ‹Eichhof› gewesen wäre? Wären Massnahmen zum Schutz der bedrohten Heimbewohnerinnen auch unter diesen Umständen unterblieben?»

*Initial geändert