«Wir liefen einfach weiter, obwohl wir wussten, dass jemand unsere Hilfe brauchte», erzählt Niamh Oeri. Die Gymnasiastin ging vor drei Jahren mit zwei Freundinnen in Basel durch die Bahnhofunterführung und sah, wie ein Schweizer einen dunkelhäutigen Mann beschimpfte und verprügelte. «Danach fühlte ich mich ohnmächtig und feige.» Die 19-Jährige ist sonst eine engagierte Frau: So zeichnet sie unter anderem als Mitorganisatorin des Basler «Imagine», eines Festivals gegen Rassismus. Weshalb handelte Oeri nicht? «Es war nicht Gleichgültigkeit», sagt sie. «Wir wollten eingreifen, aber wir trauten uns nicht, weil wir uns körperlich unterlegen fühlten.»

Niamh Oeri stellte sich vor, sie hätte körperlich eingreifen müssen, um den Mann vom Prügeln abzubringen. «Das wäre falsch gewesen», sagt Veronika Brandstätter, Professorin für Psychologie an der Universität Zürich. «Wer einen Täter angreift, gibt ihm das Gefühl, selbst attackiert zu werden und deshalb zu Recht dreinzuschlagen.» Der Rat der Psychologin, die seit rund fünf Jahren Kurse in Zivilcourage anbietet, ist erstaunlich einfach: mit einem gewissen Sicherheitsabstand stehen bleiben, möglichst laut rufen, andere Leute auf die Situation aufmerksam machen und die Polizei benachrichtigen (siehe Nebenartikel «Zeugen: ‹Hier stimmt was nicht›»). Ein Grossteil der Täter lasse dann von den Opfern ab. In den Zivilcourage-Kursen üben die Teilnehmer solche Situationen in Rollenspielen und lernen dabei, das richtige Verhalten konkret anzuwenden.

Es braucht also keine Heldentat à la Superman, der sich todesmutig zwischen die Kontrahenten wirft. Man muss nur hinschauen, rufen und Leute ansprechen. Wieso tun das so wenige?

«Höred uuf, ir Stifelibuebe!»
Alois Christen ist Polizei- und Militärdirektor im Kanton Schwyz, ehemaliger Maurer und früherer Schwinger. Er sass am 1. August vor einem Jahr auf dem Rütli unter den rund 2’500 Zuschauerinnen und Zuschauern, als der damalige Bundespräsident Samuel Schmid seine Ansprache hielt. Dann begannen etwa 700 Rechtsextreme die Rede mit Buhrufen zu stören, skandierten Parolen und schrien Schmid wiederholt nieder. Anfänglich hätten alle für den Bundespräsidenten geklatscht, erzählt Christen, dann aber immer weniger - wohl weil die Rütlibesucher meinten, die Rechtsextremen könnten den Beifall auf sich beziehen.

Zuletzt habe er noch eine Weile allein geklatscht, schliesslich auch aufgehört, sagt Christen. «Ich fühlte mich ohnmächtig, wie benommen», sagt der Regierungsrat. «Ich hatte das ‹Höred doch uuf, ir Stifelibuebe› zuvorderst auf den Lippen, habe dann aber doch geschwiegen.» Das sei ihm noch heute unerklärlich, gelte er doch sonst als eher starke Persönlichkeit. Wahrscheinlich habe er sich geschämt, als Einziger zu reagieren.

«Ein bekanntes Phänomen», so Psychologin Brandstätter: «Je grösser die Gruppe, desto grösser der Druck, sich wie alle andern zu verhalten.» Eigenständiges Handeln, und sei es noch so wenig, brauche in einer solchen Situation grossen Mut. «Schweigen und wegschauen ist aber das Schlimmste, was man machen kann», sagt die Professorin. Es gebe den Tätern das Gefühl, dass ihre Handlung gebilligt werde. Mehr noch: dass sie machten, was eigentlich alle tun möchten, sich aber nicht trauten. «Als die 2500 Menschen auf dem Rütli schwiegen, bekamen die Rechtsextremen Oberwasser», erinnert sich Christen. Einzelne Zuschauer hätten sogar begonnen, ihnen zu applaudieren. «Dabei wäre es so einfach gewesen, zu klatschen und ‹Hopp Sämi› zu rufen.»

Rückzug im richtigen Moment
Der Berner Elias Gutscher sass vor rund einem Jahr bei einem Fussballmatch der Young Boys gegen den FC Schaffhausen unter den Zuschauern, als ein YB-Fan anfing, gegnerische Spieler als «Scheissjugos» zu beschimpfen. Gutscher und seine Kollegin reagierten sofort und sagten ihm, so etwas wollten sie nicht hören. Der YB-Fan bestand aber darauf, es sei sein Recht, sich frei zu äussern. «Ich entgegnete, die freie Meinungsäusserung höre dort auf, wo die Diskriminierung beginne», erzählt Gutscher. Darauf bildete sich um die Streitenden ein Kreis von Leuten, die alle für den YB-Fan Partei nahmen. Gutscher und seine Kollegin merkten, dass sie im falschen Sektor sassen, und zogen sich zurück.

«Ich finde es immer noch wichtig, dass wir unsere Meinung gesagt haben», meint Gutscher. Sie hätten natürlich an den Vorurteilen nichts ändern können, aber den Beteiligten klargemacht, dass diese Beschimpfungen andere störten. «Bei mir kommt Mut aus der Angst heraus», sagt der 19-jährige kaufmännische Angestellte. Zuerst fühle er jeweils ein diffuses Gemisch von Angst und Wut. Wut über die Ungerechtigkeit, die er sehe, und Angst, sich zu exponieren und nicht zu wissen, was passiere, wenn er eingreife. Zum Handeln brauche es dann immer einen Entscheid im Kopf.

«Genau solche kleinen mutigen Taten im Alltag sind wichtig», ist Psychologie-Professorin Brandstätter überzeugt. «Man muss nicht nur wissen, was man in einer solchen Situation sinnvollerweise tun kann, sondern muss dieses Wissen im entscheidenden Moment anwenden können.» Da man relativ selten in solche Situationen käme, fehle einem schlicht und einfach die Übung. In Brandstätters Zivilcourage-Kursen lernen die Teilnehmer unter anderem, dass man das Heft selbst in die Hand nehmen muss. «Man darf nicht darauf warten, dass jemand anders handelt», sagt Brandstätter. Entscheidend sei allerdings, dass man eine Form des Eingreifens wähle, die zu einem passe. «Ist jemand etwa sehr sprachgewandt, kann eine witzige Bemerkung eine diskriminierende oder ungerechte Situation bereits entschärfen.»

Vor Angst wie gelähmt
Vielleicht wäre das die Lösung gewesen für Erika Müller (Name geändert). Vor zehn Jahren wohnte die damals 37-Jährige in einem Mehrfamilienhaus in Riehen BS. Ihre Nachbarin war eine allein stehende ältere Dame, die vom Liegenschaftsbesitzer, der ebenfalls im Haus wohnte, regelmässig beschimpft wurde. «Ich setzte mich nicht für die Frau ein, weil ich nicht aus der Wohnung fliegen wollte», erzählt Müller. Der Vermieter sei ein despotischer Mensch gewesen, der immer gleich mit Kündigung gedroht habe, wenn ihm etwas nicht passte. Die Mieter seien aus Angst vor ihm wie gelähmt gewesen. «Wir gingen uns aus dem Weg, weil er Vertraulichkeiten oder Freundschaften unter uns Mietern als Verschwörungen gegen ihn hätte interpretieren können.» Erika Müller wohnt nicht mehr dort, sagt aber, sie hätte heute mehr Mut und würde sich in einer vergleichbaren Situation gegen das Unrecht wehren. Sie sei inzwischen älter und erfahrener geworden und wisse, wo sie Hilfe holen könne.

«Menschen mit höherem Selbstvertrauen haben mehr Zivilcourage», sagt Veronika Brandstätter. «Dieses Selbstvertrauen kann durch Lebenserfahrung wachsen oder eben gelernt werden.» Eigentlich ist es erstaunlich: In der Schweiz muss jeder Autofahrer einen Nothelferkurs machen, um zu lernen, wie man sich bei einem Unfall zu verhalten hat. Wieso verlangt man nicht von Jungbürgerinnen und Jungbürgern ein Training in Zivilcourage, bevor sie das Schweizer Bürgerrecht erhalten?

Dieser Idee kann der Schwyzer Regierungsrat Alois Christen einiges abgewinnen. Er war dieses Jahr am 1. August das erste Mal seit 30 Jahren nicht auf dem Rütli, sondern unterwegs in Brunnen mit dem Einsatzleiter der Kantonspolizei. Ein enormes Polizeiaufgebot versuchte zu verhindern, dass Rechtsextreme wieder auf die symbolträchtige Wiese gelangen und sich die Ereignisse vom Vorjahr wiederholen. «Wir waren erfolgreich», sagt Christen, «es waren keine Rechtsextremen auf dem Rütli.» Aber zufrieden ist Christen trotzdem nicht. «Wieso braucht es ein so grosses Polizeiaufgebot?», fragt er sich. «Nur weil wir Bürgerinnen und Bürger es nicht geschafft haben, diese Hitzköpfe im richtigen Moment mit Zivilcourage in die Schranken zu weisen.»

Fünf Schritte zu mehr Zivilcourage

Zivilcourage lässt sich in alltäglichen Situationen üben:

  • Drücken Sie die eigene Meinung auch gegenüber Vorgesetzten aus.
  • Beziehen Sie auch in grösseren Gruppen klar Stellung.
  • Bewerten Sie eigenes Handeln wichtiger als Anpassertum.
  • Nehmen Sie persönliche Nachteile bewusst in Kauf, die mit diesem Handeln verbunden sind.
  • Verdrängen Sie die eigene Angst nicht, sondern handeln Sie mit dieser Angst.