«Vom Fernsehen bekommt man viereckige Augen»

Von morgens bis abends laufen Kinderprogramme. Noch nie konnten Kinder so viel Zeit vor dem Fernseher verbringen wie heute. Und sie tun es. Sie werden dabei träge und dick, aber hat irgendjemand quadratische Augen? Eben. «Vom Fernsehen bekommt man bestimmt keine viereckigen Augen. Allerdings kann das lange Hinstarren dazu führen, dass weniger geblinzelt wird und sich die Augen deshalb trocken anfühlen», sagt Anja Palmowski-Wolfe, leitende Ärztin der Augenklinik des Universitätsspitals Basel. TV glotzen macht den Bauch rund - das stimmt zwar auch nicht so direkt, aber kommt der Wahrheit schon ein bisschen näher.

«Ein Hornissenstich tötet ein Kind, sieben ein Pferd»

Ein Stich einer Hornisse ist etwa so giftig wie ein Wespen- oder ein Bienenstich. Es wären demnach 100 bis 200 Stiche nötig, bis überhaupt eine toxische Wirkung bei einem erwachsenen Menschen eintreten würde - bei Kindern die Hälfte. Doch das Gefährliche an der Hornisse - und allen anderen sogenannten Hautflüglern (Bienen, Wespen et cetera) - ist weniger das Gift als die mögliche allergische Reaktion darauf. Dieses Risiko ist ziemlich hoch, wie Arthur Helbling, Leiter der Allergiestation des Spitals Ziegler in Bern, betont: «In der Schweiz sterben pro Jahr zwei bis vier Menschen an den Folgen eines Insektenstichs.» Und es besteht ein Risiko von knapp vier Prozent, auf einen Bienen- oder Wespenstich allergisch zu reagieren. «Das ist ein hohes Risiko», betont Helbling.

Was die meisten Menschen allerdings nicht wissen: Der erste Insektenstich im Leben eines Menschen ist meistens ungefährlich. Helbling: «In aller Regel muss jemand bereits einmal gestochen worden sein, um allergisch zu reagieren.»

«Wer ins Schwimmbad pinkelt, der zieht eine rote Spur»

 Tja, das Märchen vom Urinindikator im Schwimmbecken hat schon manchen Jungen das Crawlen gelehrt. Doch die Angst, nach «versehentlichem» Wasserlassen im Wasser von einem Wasserzusatz namens «Pinkelstopp» oder so entlarvt zu werden, ist unbegründet. «Es gibt keinen chemischen Zusatzstoff, der sich färbt, wenn jemand ins Wasser pinkelt», lässt das Alpamare in Pfäffikon SZ verlauten. Kinder, denen mal ein «Unfall» passiere, bräuchten sich vor einer solchen Blossstellung «sicher nicht zu fürchten». Wie nett für den Übeltäter. Die anderen rufen: Eine Welle für das Chlor und die Frischwasserzufuhr!


Auf die Frage, ob Kids in den Höllenrutschen nicht zwangsläufig in die Badehosen pinkeln, meint das Alpamare: «Auf unseren Rutschen kommen die Kinder gar nicht zum Pinkeln.» Der Adrenalinschub lasse den Harndrang schlicht vergessen. «Und wenn sie unten ankommen, gibts für den Notfall genügend Toiletten.»

«Rohen Teig essen gibt Würmer im Magen»

«Diese Regel könnte durchaus einen wahren Kern haben», sagt Franziska Schürch, Projektverantwortliche des Vereins Kulinarisches Erbe der Schweiz. «Früher, als die hygienischen Verhältnisse schlechter waren als heute, gab es im Mehl häufig Schädlinge, etwa Milben oder Käfer. Auch das Wasser, das zum Backen verwendet wurde, war meist verunreinigt.» Es sei also theoretisch gut möglich, dass mit dem rohen Teig auch Eier von Schädlingen in den Magen gelangt seien, so Schürch. Heute sei das allerdings unwahrscheinlich.

Um der Wahrheit gänzlich auf den Grund zu gehen, müsste man noch wissen, ob die Eier im Magen überhaupt eine Überlebenschance haben und zu Würmern heranwachsen können. «Milben und deren Eier können sich im Magen-Darm-Trakt des Menschen nicht entwickeln», sagt Claudia Hirschi, leitende Ärztin des Magen-Darm-Zentrums des Kantonsspitals Luzern. Fazit: Die Regel ist sinnvoll, aber nur, um den Guetsliteig vor hungrigen Schleckermäulern zu schützen.

«Nicht den Rotz in der Nase hochziehen, sonst setzt er sich fest»

Klingt plausibel, denkt man zuerst - bis man mit Claudine Gysin, Leiterin der Hals-Nasen-Ohren-Abteilung am Kinderspital Zürich, spricht. «Den Nasenschleim hochziehen ist völlig ungefährlich», sagt sie. Die Eltern wollten ihren Kindern natürlich lieber die Nase putzen, da das in ihren Augen einen besseren Eindruck mache. «Aber Naseputzen bei Kindern - das ist ein ‹never-ending job›.»

«Rasieren fördert den Haarwuchs»

Schön wärs, denkt sich der pubertierende Sohnemann und kappt den Flaum mit Papas scharfem Messer. Doch das nützt nicht viel. Laut dem «British Medical Journal» ist seit 1928 bekannt, dass Rasieren keinen Effekt hat auf die Geschwindigkeit des Haarwuchses. Das einzelne Haar wird auch nicht dicker. Das scheint nur so, weil es an seiner dicksten Stelle abgeschnitten wird. Ausserdem ist neues Haar nicht sonnengebleicht und wirkt somit optisch kräftiger.

«Lesen im Dunkeln schädigt die Augen»

Weil Ärzte medizinische Fragen selten so erfrischend beantworten, hier der O-Ton des Augenarztes und Redaktors der Fachzeitschrift «Ophta», Dr. med. Dietmar W. Thumm: «Prinzipiell kann man sich die Augen durch ‹angestrengtes Gucken› nicht kaputtmachen. Die Augen sind zum Sehen da, und sie nehmen wahr, was sie eben zu den gegebenen Umständen aufnehmen können. Aus diesem Grunde ist Lesen bei schlechten Lichtverhältnissen anstrengend, aber eigentlich mehr fürs Hirn. Wenn das Hirn genug hat, liefert es die Info ‹Ihr Scheissaugen macht mich müde› an die Glubscher, die daraufhin mit Ärgernis reagieren und zu brennen anfangen. Und der Ärger des Gehirns führt zu Kopfweh.» Das haben wir doch mal verstanden, oder? Natürlich schrieb Thumm auch noch etwas unter der Bemerkung «Jetzt aber ernsthaft». Doch das meinte eigentlich dasselbe, klang aber nicht so gut. Etwas sei noch angemerkt: Unter der Bettdecke sollte man die Nase nicht allzu tief ins Buch stecken. Denn «Naharbeit» könne bei entsprechender genetischer Veranlagung «die Entwicklung der Kurzsichtigkeit fördern».

«Man soll Bonbons lutschen, nicht beissen»

Wo Oma recht hat, hat sie recht. Denn die Kauflächen der Backenzähne weisen tiefe und enge Furchen auf, die sogenannten Fissuren. Und die füllen sich beim Zerbeissen der «Zeltli» mit Zucker - und dort bleibt er dann für lange Zeit und ernährt die schädlichen Mundbakterien. «Gerade bei Kindern ist Fissuren-Karies die häufigste Form der Karies», erzählt Thomas Imfeld, der die Abteilung Präventivzahnmedizin und orale Epidemiologie der Universität Zürich leitet. Die Härte der Bonbons hingegen stelle in der Regel keine Gefahr dar.

«Wenn man zu oft schielt, können die Augen so stehen bleiben»

An dieser Regel sei überhaupt gar nichts Wahres dran, sagt Joachim Esser, leitender Arzt der Sehschule der Universitätsaugenklinik Essen und Präsident der Bielschowsky-Gesellschaft für Schielforschung. In der Regel seien Schielerkrankungen angeboren und fallen nicht einfach so vom Himmel. Einem Menschen ohne Schielerkrankung sei es zudem gar nicht möglich, über eine längere Zeit aktiv zu schielen. «Wenn das so einfach wäre, wäre Schielen längst ein beliebter Trick, um sich vor der Wehrpflicht zu drücken», so der Forscher Esser.

«Chriesistei schlucken gibt Bauchweh»

«Ein Ammenmärchen», sagt Rémy Meier kurz und deutlich. Und er muss es wissen: Seit über 20 Jahren arbeitet der Magen-Darm-Spezialist als Facharzt für Gastroenterologie und innere Medizin am Kantonsspital Liestal - «quasi im Hochrisikogebiet», wie er betont.

Das Baselbiet ist eines der bekanntesten Kirschanbaugebiete der Schweiz, und in kaum einer anderen Region werden pro Saison mehr Kirschen verdrückt als dort. «Und sogar ich schlucke die Steine immer runter», gibt Rémy Meier zu. Ohne schlechtes Gewissen? «Im Gegenteil, die Steine im Bauch tun gut, weil sie die Darmfunktion regulieren.»

Rémy Meier hat in all seinen Berufsjahren erst eine Komplikation erlebt, die auf übermässigen Konsum von Kirschsteinen zurückzuführen war. «Eine Frau hat beim Kirschenlesen den ganzen Tag über genascht. Am Abend bekam sie dann Probleme mit dem Schliessmuskel.» Sprich: Die Dame war verstopft. Manuell und mit dem Endoskop verschaffte Meier Linderung - und entfernte ein Kilo Kirschsteine aus dem Darm der Patientin. Wer also mal einen verschluckt, oder auch zwei oder drei, muss nichts befürchten.

Dass Kirschkerne eine Blinddarmentzündung auslösen könnten, wie gerne behauptet wird, hat Meier jedenfalls noch nie festgestellt. Wäre auch seltsam; der Durchgang zum Blinddarm ist meist nur wenige Millimeter breit, und da passt kein Kirschstein rein. So gilt höchstens noch das Motto des Eidgenössischen Chriesisteispuckerverbands: «Verschluckte Chriesisteine können Kratzer in der Klosettschüssel verursachen. Darum die Chriesisteine spucken und nicht schlucken!»

«Nicht mit nassen Haaren rausgehen, sonst erkältet man sich»

Viren mögen die beheizten Räume im Winter. Mit Kälte oder nassen Haaren habe eine Erkältung nichts zu tun, sagt der Kinderarzt Rolf Bienentreu. Doch Vorsicht: «Wenn es eiskalt ist draussen, kann es mit nassen Haaren zu Erfrierungen kommen.»

«Kaugummi verschlucken verklebt den Magen»

In Deutschland gibt es einen Kaugummi-Verband, dessen Geschäftsführerin Marie Dubitsky sagt: «Dass das Quatsch ist, lässt sich empirisch leicht nachweisen.» Sie erzählt von ihrem Sohn, der, als er klein war, immer wieder mal einen Kaugummi verschluckte. «Die fand ich dann in seiner Windel wieder.» Ärzte bestätigen diese Schilderungen. Etwa der amerikanische Kinderarzt David Milov. Probleme gebe es nur bei massivem Kaugummikonsum. Er beschreibt in der Zeitschrift «Pediatrics» den Fall eines vierjährigen Jungen, der täglich fünf bis sieben Kaugummis verschluckte. Irgendwann habe sich eine Art Gummipfropf im Dickdarm des Jungen festgesetzt.