Wäre mein Vater etwas strenger gewesen und hätte darauf bestanden, dass ich mein Gesangstalent nutze, wäre ich vielleicht Opernsängerin geworden. Und wäre vielleicht in der Carnegie Hall in New York aufgetreten wie die Tochter der chinesischstämmigen US-Amerikanerin Amy Chua, die mit ihrem Buch «Die Mutter des Erfolgs» die Diskussion über Strenge und Disziplin in der Erziehung wieder anheizt. Das Buch reiht sich ein in die unzähligen Ratgeberbände, die vorgeben, Eltern in der Erziehung zu unterstützen.

Sollte uns der Fleiss und die Disziplin asiatischer Länder wirklich Vorbild sein, auch in der Erziehung? Sind westeuropäische Eltern tatsächlich zu lasch? Erziehen sie ihre Kinder zu respektlosen Weicheiern, die zwar sehr gut diskutieren und ihren Willen durchsetzen können, aber immer weniger Anstand und Durchhaltevermögen zeigen? Ich meine nein.

Tatsächlich schneiden Japan, Südkorea und Singapur bei der Pisa-Studie immer wieder gut ab. Dabei wird aber gern vergessen, dass der Drill zu Leistung und Gehorsam gehäuft zu psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Essstörungen führen kann. Auch die Suizidrate unter asiatischen Schülern ist hoch. Es kann und darf sich nicht alles an Leistung orientieren – das macht schnell einsam. Wichtig sind Nähe und Anerkennung. Eine feste Beziehung der Kinder zu ihren Erziehenden ist Basis dafür, dass Erziehung gelingt, darin sind sich alle pädagogischen Fachleute einig. «Ein Kind braucht nicht zum Gehorsam gezwungen zu werden», so der Kinderarzt Remo Largo. «Es ist bereit, sich an seiner Bezugsperson auszurichten und sich von ihr leiten zu lassen. Es gehorcht, ohne dass sein Wille gebrochen und seine Selbständigkeit eingeschränkt wird.»

Autorität vermitteln, Grenzen setzen

Ein Kind soll Kind bleiben dürfen. Es ist von Natur aus neugierig und motiviert zum Lernen. Es soll sich viel bewegen, Zeit haben, viel Körperkontakt, Aufmerksamkeit und Liebe erfahren. Kinder müssen Entwicklungsstufen durchlaufen und mit Gleichaltrigen spielen. Beim Geigespielen, Reiten oder auch Frühenglisch konzentrieren sie sich mehr auf Leistung und weniger auf soziales Lernen. Es braucht keinen Drill und keine übertriebene Strenge. Konsequenz und das Setzen von Grenzen gilt als Gradmesser für eine erfolgreiche Erziehung. «Ist ein Kind aufgrund seiner Entwicklungsstufe kompetent, kann man es gewähren lassen», so Experte Remo Largo. Wo es nicht kompetent ist, braucht es aber eine klare Führung.

Kinder bis drei Jahre brauchen keine Begründung, warum sie um sieben Uhr zu Bett gehen sollen. Die Bedingungen setzen die Erwachsenen, die Kinder vertrauen ihnen. Später fordern sie mehr Begründungen ein. Der kindzentrierte autoritative Erziehungsstil, bei dem Erwachsene ihre Forderungen begründen, aber auch klar Autorität vermitteln, verspricht am meisten Erfolg. Eltern können damit eine Atmosphäre schaffen, in der sich ihre Kinder zu selbstbewussten, verantwortungsbewussten und sozialen Menschen entwickeln.

Ich bin froh, dass ich nicht zur Opernsängerin gedrillt wurde. Stattdessen konnte ich mein Bedürfnis nach Bewegung, Spiel und Spass mit Freundinnen ausleben und Freundschaften knüpfen, die bis heute bestehen. Und das hat mir nachweislich nicht geschadet – im Gegenteil.