Beobachter:Sie arbeiten seit 35 Jahren als Kindergärtnerin. Wie oft kommt es vor, dass ein Kind zum Beispiel noch Windeln trägt beim Eintritt in den Kindergarten?
Ruth Zenger-Goerner: Das ist bei mir, glaube ich, noch nie vorgekommen. Aber man würde es vermutlich gar nicht merken.

Beobachter: Das würde Ihnen doch auffallen?
Zenger-Goerner: Nein, ich glaube nicht. In einem anderen Kindergarten gab es das mal, und die Kindergärtnerin hat es sehr lange nicht bemerkt. Ich begleite Kinder nicht aufs WC. Das mache ich prinzipiell nicht. Sonst hätte ich diesen Job nicht gewählt. Ein vierjähriges Kind muss das selber können. Unfälle können natürlich passieren. Wenn eines sich in die Hosen macht, gebe ich ihm frische Wäsche. Was man hingegen oft antrifft, sind Kinder, die nachts noch Windeln tragen oder zum Einschlafen ein Fläschchen kriegen. Den Kindergarten tangiert das im Grunde nicht. Ich persönlich finde das aber nicht gut.

Beobachter: Sagen Sie das den Eltern?
Zenger-Goerner: Eher nicht. Eigentlich geht es mich ja nichts an, und Eltern müssen selber wissen, ob sie ihr Kind zur Selbständigkeit erziehen möchten. Grundsätzlich wollen ja alle Eltern nur das Beste für ihr Kind.

Beobachter: Was ist denn das Schlimmste, was Sie diesbezüglich schon erlebt haben?
Zenger-Goerner: Einmal hatte ich ein Kind, das nicht selber auf dem WC-Rand sitzen konnte, weil es zu Hause noch ein Häfeli benutzte. Es machte sein Geschäft dann einfach in eine Ecke. Ich habe sofort die Eltern angerufen und gesagt, sie sollten kommen, um zu putzen.

Beobachter: Wie haben die Eltern reagiert?
Zenger-Goerner: Es war ihnen natürlich furchtbar peinlich. Danach haben sie mit dem Kind geübt, und es passierte nicht mehr.

Beobachter: Kommen solche Situationen heute häufiger vor als früher?
Zenger-Goerner: Ich stelle fest, dass Kinder heute in vielen Dingen unselbständiger sind. Früher war es zum Beispiel gang und gäbe, dass man als Kindergartenkind die Schuhe selber binden konnte. Heute kann das praktisch keins mehr. Wo sollen sie das auch lernen? Es gibt ja nur noch Klettverschlüsse. Aber es ist dann peinlich, wenn sie sich in der ersten Klasse im Turnen ein Seil um den Bauch binden sollen und keine Ahnung haben, wie man einen Knoten macht. Ich habe hier im Zimmer Schuhbindediplome aufgehängt. Die Kinder sehen das und wollen natürlich auch eins. Sie gehen nach Hause und bitten die Eltern darum, ihnen zu zeigen, wie man Schuhe bindet.

Beobachter: Woran liegt es denn, dass Eltern das nicht von sich aus machen?
Zenger-Goerner: Ich glaube, es hat damit zu tun, dass fast alle dieser Kinder zu Hause kleine Prinzessinnen und Prinzen sind. Die Eltern nehmen ihnen vieles ab, auch aus Zeitgründen. Sie sind immer pressant. Da geht es einfach schneller, wenn man es rasch selber macht. Einige Kinder können sich zum Beispiel auch nicht selber die Nase schnäuzen. Viele können nicht auf einem Bein stehen, in Gänseschritten gehen, galoppieren, mit der Schere umgehen, einen Stift richtig in der Hand halten, wissen nicht, wie man einen Mannsgöggel zeichnet.

Beobachter: Einerseits werden die Kinder verhätschelt, anderseits bringen die Eltern ihnen elementare Dinge nicht bei?
Zenger-Goerner: Ja, das ist paradox! Ich glaube, vielen Eltern sind diese Sachen einfach nicht so wichtig. Und sie sind sich der Konsequenzen nicht bewusst. Es ist ja nicht schulisch, denken sie. Das stimmt aber nicht. Das Schuhebinden etwa ist sehr wichtig für die Feinmotorik, es hängt zusammen mit der Fähigkeit, Dinge zu ordnen, und letztlich mit Mathematik.

Beobachter: Was muss ein Kind denn können, wenn es zu Ihnen in den Kindergarten kommt?
Zenger-Goerner: Es muss vor allem zuhören können. Und es muss unabhängig hier sein können, ohne dass es wochen- oder gar monatelang von einem Elternteil begleitet werden muss.

Beobachter: Monatelang? Das gibt es?
Zenger-Goerner: Ja, klar! Ich hatte mal eine Mutter, die zwei oder drei Monate lang die ganze Zeit mit hier drinnen sass. Ich finde, da machen die Eltern einen grossen Fehler. Meist ist es auch nicht so, dass das Kind sich nicht lösen kann, sondern umgekehrt: Eltern tun sich oft schwer, sich von den Kindern zu lösen. Auch das gibt es immer häufiger.

Beobachter: Weshalb?
Zenger-Goerner: Sie wollen dem Kind etwas zuliebe tun und es nicht allein lassen. Der Begriff der Elternliebe wird auch oft falsch interpretiert. Ich verstehe darunter eben auch, den Kindern Richtlinien und Leitplanken aufzuzeigen. Kinder können Eltern auch schnell um den Finger wickeln und ihnen regelrecht Befehle erteilen, die dann aus dem schlechten Gewissen heraus befolgt werden.

Beobachter: Das passiert im Kindergarten nicht?
Zenger-Goerner: Nein. In einer Gruppe von 20 Kindern und mehr kann sich das einzelne nicht so in den Vordergrund stellen. Es muss lernen, zu verzichten, zu warten und sich als Teil einer Gruppe zu verstehen. Kinder, die zu Hause sehr stark im Zentrum stehen, haben damit meist mehr Mühe. Dann gibt es auch bis zu einem Jahr Altersunterschied, was sich enorm auswirkt: Kinder, die im Juli Geburtstag haben, kommen eigentlich zu früh in den Kindergarten. Es wäre oft sinnvoller, noch ein Jahr zu warten. Aber im Gegensatz zur Krippe ist der Kindergarten halt gratis. Es gibt Eltern, die nicht realisieren, dass der Kindergarten eine Vorschule ist und keine Betreuungseinrichtung.

Beobachter: Wie können Eltern denn die Selbständigkeit der Kinder fördern?
Zenger-Goerner: Das Wichtigste ist, dass man ihnen etwas zutraut. Es ist von Vorteil, ihre Interessen frühzeitig wahrzunehmen, zu wecken und vor allem, sie zu fördern. Ich habe meine eigenen Kinder einfach alles ausprobieren lassen. Es war mir egal, wenn der Küchenboden danach voller Essen war und ich alle Kleider waschen musste, als sie anfingen, selbständig zu essen. Ich habe sie ermutigt: Das kannst du, das schaffst du. Gehen Sie mal mit heutigen Kindern in den Wald. Die sind teils noch nie einen steilen Hügel hochgelaufen oder durchs Dickicht gegangen, weil sie es nicht durften. Sie könnten hinfallen und sich wehtun, sich schmutzig machen. Ein Problem ist, dass Eltern ihren Kindern wahnsinnig vieles zugestehen wie zum Beispiel unkontrolliertes Fernsehen, ihnen aber gleichzeitig nichts zutrauen.

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Quelle: Beobachter Edition