Als Anna Stierli* im Schwimmkurs aus drei Metern Tiefe auftaucht, ist nichts mehr wie zuvor. Ihr ist schwindlig, der Kopf pocht. Und irgendwie hört sich das Hallenbad Schaffhausen an, als sei es unter einer Käseglocke. Weil es schon 21 Uhr ist, geht die Physiotherapeutin direkt nach Hause. Doch die ganze Nacht hindurch fliesst Blut aus dem schmerzenden Ohr. Am nächsten Morgen diagnostiziert ihre Hals-Nasen-Ohren-Spezialistin eine traumatische Trommelfellperforation: ein kleines Loch, das zuwachsen wird. Offen bleibt aber, wer die Arztrechnung über 410 Franken zahlen muss.

Die Axa Winterthur will nicht. Auf Stierlis Unfallmeldung antwortet sie: «Gemäss obigen Ausführungen handelt es sich bei diesem Ereignis, mangels Vorliegen eines ungewöhnlichen äusseren Faktors, nicht um einen Unfall.» Doch Anna Stierli lässt nicht locker. Sie legt Einspruch ein, zieht den Fall erst ans Schaffhauser Obergericht und dann ans Bundesgericht.

Experten schmunzeln, wenn man ihnen von dem Fall erzählt. Sie sagen dann, ein Unfall liege nur vor, wenn es sich um ein ungewöhnliches Ereignis handelt, das plötzlich und unbeabsichtigt eintritt und die Gesundheit beeinträchtigt. Das treffe hier nicht zu. In einem ähnlichen Fall hat ein Unfallversicherer auch schon einem Vergleich des Versicherungsombudsmanns zugestimmt.

Hinzu kommt: In Artikel 9 der Unfallversicherungsverordnung steht ausdrücklich, gewisse Körperschädigungen seien «auch ohne ungewöhnliche äussere Einwirkung» Unfällen gleichgestellt – neben Knochenbrüchen, Verrenkungen, Meniskus- und Muskelrissen, Zerrungen, Sehnenrissen und Bandläsionen auch die Trommelfellverletzung, wie Anna Stierli sie erlitten hat.

Der Luzerner Opferanwalt Bruno Häfliger, der ähnliche Fälle vor Gericht vertreten hat, sagt: «Konflikte entzünden sich meistens um die Frage, ob ein Ereignis plötzlich und unvorhersehbar eingetreten ist.» So komme es immer wieder zu spitzfindigen Unterscheidungen, was als Unfall und was als Krankheit zu gelten habe. Das sei umso stossender, als die Konsequenzen für die Betroffenen enorm sein können.

Denn bei Unfällen muss die Versicherung Arzt- und Spitalkosten übernehmen. Der bei Krankenkassen übliche Selbstbehalt und die zehnprozentige Kostenbeteiligung entfallen. Zudem sind beispielsweise Zahnschäden mitversichert. Noch grösser sind die Vorteile bei dauerhaften Schäden. Dann übernimmt die Unfallversicherung auch eine Integritätsentschädigung, die mehrere tausend Franken ausmachen kann, sowie ein Taggeld oder eine Invaliditätsrente von 80 Prozent des aktuellen Jahreslohns – inklusive Familienzulagen.

Aber selbst Experten sagen, die Unterscheidung von Unfall und Krankheit sei nicht immer nachvollziehbar. Das zeigen diverse Urteile (siehe: «Der ganz normale Wahnsinn: Fälle aus der Praxis»).

Die Unfallversicherer gewinnen selbst kuriose Fälle – dank waghalsigen Verrenkungen von Seiten des Gerichts. So im Fall des Sohnes einer Drogensüchtigen: Er trank eine Dose Cola aus dem Kühlschrank leer, in die seine Mutter Methadon gemischt hatte. Der benebelte Junge stürzte daraufhin von einem Hocker. Kein Unfall, urteilte das Bundesgericht. Das Kriterium der Ungewöhnlichkeit sei nicht erfüllt: Der Junge habe damit rechnen müssen, dass seine Mutter die Cola mit Drogen versetze.

Doppeltes Pech hatte ein Mann, der bei einem Suizidversuch ein Bein verlor: Nachdem er einen Tablettencocktail getrunken hatte, stürzte er von einem Hochbett, blieb mit einem Bein hängen und dämmerte weg. Das Bein musste amputiert werden. Auch dieser Unfall ist für Richter nicht ungewöhnlich genug.

David Husmann, Co-Präsident der Rechtsberatungsstelle für Unfallopfer und Patienten, kritisiert solche Urteile schon länger: «Oft entscheidet nicht der Unfallhergang, wie ein Fall beurteilt wird, sondern die Höhe der Folgekosten. Droht eine Invalidität, urteilen Gerichte besonders restriktiv.» Husmann bemängelt auch, dass die Gerichte bei Rückenverletzungen unbeirrt darauf verweisen, die Verletzung sei «beim normalen Gebrauch der Körperteile» erfolgt – also kein Unfall. Bei Skiunfällen komme diese Argumentation dagegen nur selten zum Zug. «Gemeinsam ist diesen Urteilen, dass die Versicherer fast durchwegs gut wegkommen.»

Unverständlich sind solche Urteile auch für den Sozialversicherungsexperten Ueli Kieser, weil damit praktisch identische Schadensfälle für die Betroffenen unterschiedliche finanzielle Folgen haben. «Deshalb darf es nicht sein, dass man nur bei Unfall sehr gut versichert ist.» Die logische Konsequenz wäre für Kieser, auf die unsinnige Unterscheidung zu verzichten und eine obligatorische Krankentaggeldversicherung einzuführen. Doch diese Forderung sei im gegenwärtigen politischen Klima kaum durchsetzbar. Das Risiko sei zu gross, dass eine Reform dazu benutzt würde, die Leistungen der Unfallversicherung abzubauen. Darum werde der Kampf vor allem im Gerichtssaal ausgetragen.

Etwa vor dem Solothurner Verwaltungsgericht: Dort ist die Beschwerde eines Mannes hängig, der bei einer Herzoperation das Augenlicht verlor. Ein klarer Unfall, möchte man meinen. Genau das aber bestreitet der Versicherer. Der Patient habe die Erblindung bei dieser Operation in Kauf nehmen müssen – gemäss einem Fachgutachten liegt das entsprechende Risiko bei 1 zu 185'000. Es sei auch als Krankheit zu taxieren, weil der Unfall nicht plötzlich erfolgte, sondern das Gehirn während der gesamten Dauer der Operation schlecht durchblutet worden sei.

Geht es um kleine Summen, kommen die Fälle meist gar nicht vor Gericht. Denn das Risiko, auch noch die Anwalts- und Gerichtskosten zahlen zu müssen, ist den Betroffenen in der Regel zu hoch. Viele, die Bescheid wissen, schildern deshalb den Unfallhergang so, dass es sich auch im juristischen Sinn um einen Unfall handelt – und sie sich nicht an den Heilungskosten beteiligen müssen. «Die heutige Regelung belohnt Schlitzohrigkeit», sagt Sozialversicherungsexperte Ueli Kieser.

Opferanwalt Bruno Häfliger bestätigt: «Schlaumeier, die ihre Schadensmeldung geschickt ausfüllen, fahren besser.» Wer nicht mit den Feinheiten der Rechtsprechung vertraut sei, habe Pech gehabt. Kieser rät Betroffenen dringend, den Unfallhergang wahrheitsgetreu und möglichst genau zu schildern. «Immer wieder stelle ich fest, dass viele ein vermeintlich nebensächliches Detail vergessen, das aber entscheidend sein kann.» Das Unfallprotokoll nach einem ablehnenden Entscheid nachzubessern bringe nichts. Bei widersprüchlichen Angaben hat die erste Schilderung des Vorfalls mehr Gewicht.

Das Bundesgericht hält wenig von Physik

Anna Stierli, der beim Tauchen in drei Metern Tiefe das Trommelfell riss, hält nichts von faulen Tricks – und fiel vor Bundesgericht prompt durch. Im Urteil heisst es, dass «rechtsprechungsgemäss der normale Wasserdruck auf den Körper kein relevanter äusserer Faktor» sei, deshalb liege kein Unfall vor. Für Anna Stierli eine erstaunliche Begründung. Jeder wisse doch, dass der äussere Druck schon in drei Metern Wassertiefe enorm sei. Aber das oberste Gericht könne sich offenbar die Arroganz leisten, sich um einfachste physikalische Erkenntnisse zu foutieren.

Der normale Wahnsinn: Fälle aus der Praxis

  • Bandscheibenvorfall: Nimmt man beim Treppensteigen zwei Stufen aufs Mal, handelt es sich um einen Unfall. Geht man brav Stufe für Stufe, ist die Hernie die Folge einer Abnützung, also Krankheit. Zieht man sich den Bandscheibenvorfall beim Aufspringen vom Bürostuhl zu, handelt es sich nur dann um einen Unfall, wenn es aus Freude etwa über den Erhalt eines hohen Bonus erfolgte.

  • Rückenschaden beim Reiten: Ist die Ursache ein Stolperer des Pferdes, ist die Krankenkasse zuständig. Bricht aber das Bein des Pferdes weg, der Unfallversicherer.

  • Zahn ausgebissen: Wer bei einem Praliné «Griotte au Kirsch» auf einen Stein beisst, erleidet keinen Unfall. Denn man muss annehmen, dass es das Fleisch dieser Früchte enthält, also eventuell auch einen Stein. Dasselbe gilt für Oliven auf der Pizza. Der Biss auf ein Stück Schale im Nussbrot ist dagegen nicht vorhersehbar, also ein Unfall.

  • Sehnenriss beim Heben einer Last: Reisst die Sehne, wenn man sich einen 15 Kilo schweren Tisch mit einer Drehbewegung auf den Rücken hievt, ist es ein Unfall. Verletzt man sich dagegen beim Ablegen eines 25 Kilo schweren Rucksacks, entspricht das wie das Ausziehen einer Jacke dem «normalen Gebrauch der Körperteile».

  • Sehnenriss nach dem Werfen eines Abfallsacks: Bei einem Kübelmann ist es kein Unfall, da «eine alltägliche Handlung ohne gesteigertes Gefährdungspotential» vorliegt – bei Privaten dagegen schon.

*Name geändert