Und wer ist das? Das ist Johann. Bolzengerade steht er da, ein stattlicher Herr, er lächelt breit. Er ist für die Studenten da, damit sie wissen, wie die 206 Knochen des Menschen angeordnet sind. Vom munzigen Steigbügel im Mittelohr bis zum halbmetrigen Oberschenkel. Alles lässt sich an Johann nachprüfen.

Johann ist ein Skelett, eins von Hunderten im Keller des Naturhistorischen Museums Basel. Den Keller nennt man Gruft und flieht in sein kühles Klima, wenn der Basler Sommer die Stadt backt. Die Skelette sind mehr oder minder vollständig. Dem einen fehlt das Becken. Es ist eine Frau. Sie hiess Babette. Babette Saxer. Von ihr wird noch die Rede sein. Dem anderen fehlen die Füsse. Es ist ein Mann. Der Mann hat keine gesicherte Identität. Noch nicht. Vielleicht findet man nie heraus, wer er war. Das macht nichts. Oft ist der Weg das Ziel.

Die Füsse mussten im Boden bleiben

Man nennt den Mann Theo, weil die Archäologische Bodenforschung Basel-Stadt sein Gerippe 1984 in einem längst aufgegebenen Friedhof bei der Kirche St. Theodor in Kleinbasel ausgrub. Und man nennt ihn den Pfeifenraucher, wegen seines Gebisses. Das war zwei Studenten aufgefallen, die Jahre später im Museum als Praktikanten arbeiteten und sich die Schädel ansahen.

Theos Gebiss zeigt halbrunde Löcher. Als habe er ständig eine Pfeife im Mund gehabt. Eine Pfeife aus Ton, die sich ihren Platz in die Zähne schabte und schliff. Als das Zahnfleisch den Zahnhals freilegte, was schmerzt, verschob Theo die Pfeife zwei Zähne nach vorn. Das gab zwei halbrunde Löcher mehr. Einer der Studenten wollte Theos Gesicht wiederherstellen und im Museum ausstellen.

Die Spur führt oft in ferne Länder

Kurator Gerhard Hotz nahm die Idee auf, obwohl er es eigentlich verrückt findet, «ein beliebiges Skelett herauszunehmen und zu sagen, wir wollen herausfinden, wer das ist». Er schob damit eine Suche nach Theos Identität an, die ihn zu Familienforschern führte, zu Forensikern und Genetikern. Die hoffnungsvoll in Basler Archiven begann und oft ergebnislos in Ländern wie Argentinien oder Indonesien endete. Denn nach dem Hungerjahr 1816, dem Jahr ohne Sommer, hatte die Regierung die ärmsten Basler dazu ermuntert, auszuwandern. Was vor allem viele ledige Männer auch taten.

«Man muss die Person im Familienumkreis von drei Generationen verorten», sagt Hotz. Er holte die Familienforscherin Marina Zulauf an Bord. «Ich ging in sein Büro und sagte, ich würde das gern übernehmen. Er sagte, wir reden von x-tausend! Wir brauchen Genealogen! Suchen, suchen und nochmals suchen, das ist das Brot der Genealogen. Manchmal hat man Glück. So kamen wir ins Geschäft.»

Geschlecht? Alter? Sterbedatum?

Einen ersten Hinweis auf Theos Identität lieferte das Bestattungsregister im Staatsarchiv Basel-Stadt. Von 1779 bis 1833 waren in Kleinbasel 4334 Personen beerdigt worden, eine davon Theo. Bloss fehlte ein Plan, wen man wo begraben hatte. Um ein Skelett wie Theo zu identifizieren, sind drei Informationen entscheidend. Mann oder Frau? Wie alt wurde die Person? Und wann wurde sie bestattet?

Die erste Antwort war einfach. Theos Becken war eng, er war eindeutig ein Mann. Es blieben 2069 Möglichkeiten. In welchem Alter war Theo gestorben? Anhand seiner Zähne konnte man feststellen: mit rund 30 Jahren. Es verblieben 134 Namen. Und zur dritten Antwort, dem Jahr der Beisetzung: Theo konnte keins der vielen Typhus-Opfer sein, die man 1814 möglichst tief vergrub und mit Kalk bedeckte, um die Überlebenden vor den angeblich giftigen Dämpfen zu schützen. Theo lag höher als die Typhus-Toten. Folglich war er später bestattet worden.

«Wir gingen davon aus, dass alle, die vor 1814 starben, nicht in Frage kamen. Wenn diese Annahme nicht stimmt, suchen wir seit Jahren den Falschen», sagt Gerhard Hotz. Die Liste schrumpfte auf 25 Kandidaten. Man kreiste sie weiter ein. Theo war ein eher zierlicher Mann, also kein Schwerarbeiter. Er war Raucher, was Berufe mit Holz oder Textilien tendenziell ausschloss, denn in jenen Branchen war Rauchen streng verboten.

Wurde Theo von seiner Frau umgebracht?

Es blieben zehn «Theos» übrig. Darunter Glasermeister Bender, Kesselflicker Kestenholz und Achilles Itin, Beruf unbekannt. Deren Umfeld wurde nach und nach von der Familienforscherin Zulauf und ihren Kolleginnen ausgelotet. Historiker erklären die grosse Welt, Genealogen schreiben die Mikrogeschichte.

Christian Friedrich Bender war 32 und Vater von acht Kindern, als er sich eines frühen Novembermorgens 1816 das Rasiermesser an den Hals setzte und tief bis auf den Knochen schnitt. Sie habe ihm «zu Hülfe» eilen wollen, gab seine Frau Sara zu Protokoll. Doch ihr Mann habe sie weggestossen und sich abermals die Kehle durchtrennt. Schnittverletzungen waren an der Frau keine festzustellen – trotz dem angeblichen Handgemenge. Ihr Mann habe religiöse Zweifel gehabt und an einer «Gemüths-Krankheit» gelitten. Daher habe er sich das Leben genommen.

Das kann stimmen. Oder die Frau hat die «Gemüths-Krankheit» vorgeschoben, damit ihr Mann ein «ehrliches» Grab innerhalb des Kirchhofes bekommt und nicht ein «unehrliches» ausserhalb, wie damals für Selbstmörder üblich. Oder aber die Frau hat ihrem Mann die Kehle durchgeschnitten. Theo war Rechtshänder. Er hätte sich wohl keinen Schnitt zufügen können «von rechts oben nach links unten», wie es im Protokoll heisst.

Theos Wirbelsäule ist schlecht erhalten. «Man sieht keine Schnittspuren. Sonst hätten wir ihn längst identifiziert», sagt Hotz. Benders Körpergrösse würde passen. Er mass bei der Wundschau «ongefehr 5 Schuh 4 Zoll». Das sind 1,60 Meter – die für Theo berechnete Grösse.

Theo

Theos Gebiss zeigt halbrunde Löcher. Als habe er ständig eine Pfeife im Mund gehabt.

Quelle: Kornel Stadler

Auch dem Kesselflicker Peter Kestenholz war kein glückliches Leben gegönnt. Er besass laut dem Inventar seines Nachlasses neben einem Ehebett samt Deckbett und Wäsche einen Spiegel und eine Kaffeemühle, als er «in seinem Logis erhänglich gefunden» wurde. Er war 29 Jahre alt.

Es bleibt Achilles Itin, drittes von sieben Kindern. Sein Vater war Stadtsoldat, sein Bruder Fuhrknecht. Der Vater musste die neunköpfige Familie mit zehn Franken Monatslohn ernähren. Die Itins wohnten vermutlich zur Untermiete in zwei oder drei Zimmern. Achilles dürfte als lediger Sohn ebenfalls bei der Familie gewohnt haben. Woran er mit 30 starb, ist nicht bekannt.

Erneut wird ein weit entfernter Verwandter angefragt, ob er ein Wattestäbchen der Mundschleimhaut entlangfahren und nach Basel zurückschicken würde. Wenn die Gene des Nachfahren in den USA mit jenen von Theo in der Basler Gruft übereinstimmen, wäre das Rätsel gelöst. Wenn nicht, rücken weitere Kandidaten in den Fokus. Der Weissgerber Johann Jakob Gessler etwa oder der Seifensieder Valentin Kunz.

Viele weitere Details zu den genealogischen Nachforschungen über Theo sowie Bilder und Rekonstruktionen seines Skeletts finden Sie hier.

Ein Kaiserschnitt mit tödlichen Folgen

1988 leitet Gerhard Hotz eine Ausgrabung beim Bürgerspital Basel. Alle Skelette, die hier ausgegraben werden, können identifiziert werden, denn es ist ein Grabplan überliefert. Und es existieren alle Krankengeschichten, die von den Basler Familienforscherinnen seit Jahren mühselig erfasst werden – die Akten sind in Kurrentschrift geschrieben, die heute kaum mehr jemand lesen kann.

Das Skelett einer Kleinwüchsigen fällt Hotz auf. In den Krankenakten steht: geboren 1839, gestorben 1865. Die junge Frau ist mit starken Wehen eingeliefert worden. Ihr Becken ist zu eng, sie kann das Kind nicht gebären. Nach zwei Stunden Wehen fragten die Ärzte sie um Erlaubnis, ihr das Kind per Kaiserschnitt aus dem Leib zu schneiden. «Die leicht idiotische Patientin sagt, wenn es nicht weh tue, sei es in Ordnung», vermerkt die Akte. Die Mutter hat null Chancen. Sie stirbt einen Tag nach dem Eingriff.

Der Name der Verstorbenen: Babette Saxer. In Ehegerichtsprotokollen und Katasterplänen finden die Basler Forscher weitere Spuren. Die Saxers stammen aus Altstätten SG, ihre zwei Söhne und zwei Töchter sind in Basel geboren.

Eines Sonntagabends ist Babette allein zu Hause. Ein Mann kommt zu ihr und will mit dem Vater reden. Babette sagt, der Vater sei nicht da, er solle später wiederkommen. Der Mann sagt, er warte. Sie lässt ihn ins Haus. Dort vergewaltigt er sie. Babette wird schwanger, und sie wird dafür bestraft. Sie muss einen Tag ins Gefängnis.

 

Babette wird schwanger, und sie wird dafür bestraft. Sie muss einen Tag ins Gefängnis.

 

Der Hausarzt schreibt im Protokoll, Babettes Vater solle darauf achten, dass seine Tochter im siebten Monat gebäre, er solle eine Frühgeburt einleiten, denn sie werde das Kind nicht zur Welt bringen können.

Das Kind überlebt. Es wächst bei Babettes Eltern auf. Sie Wäscherin, er Taglöhner. Die Saxers kaufen das Haus, in dem sie wohnen, für 10'000 Franken. Die Schulden stotterten sie unter anderem ab, indem sie ihr Bett tagsüber an Schlafgänger vermieteten. Die Familie hält trotz allen Widrigkeiten zusammen.

Buchhinweise

  • Gerhard Hotz, Kaspar von Greyerz, Lucas Burkart (Herausgeber): «Theo der Pfeifenraucher. Leben in Kleinbasel um 1800», Naturhistorisches Museum Basel, Christoph Merian Verlag, 220 Seiten, CHF 39.
  • Wilfried Rosendahl, Burkhard Madea (Herausgeber): «Tatorte der Vergangenheit. Archäologie und Forensik», Verlag Theiss, 144 Seiten, CHF 50.90

 

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René Ammann, Redaktor
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