Plötzlich waren Fremde an der Tür
Immer wieder klingeln nachts fremde Männer bei Brigitte Ursen* – angelockt von einem täuschend echten Fake-Profil auf einer Datingplattform. Steckt der Ex-Partner, ein Stalker, dahinter? Es dauert Jahre, bis die Justiz den Fall zum Abschluss bringt. Mit einem bitteren Ende für das Opfer.
Veröffentlicht am 22. Juli 2021 - 09:08 Uhr
Er erwartungsvoll, sie irritiert: Plötzlich steht um 00.30 Uhr ein unbekannter Mann vor der Tür.
Den Mann vor ihrer Tür hatte Brigitte Ursen* (Name geändert) noch nie gesehen. Er kannte sie dafür umso besser. Ihren Namen, ihre Adresse, ihren Arbeitsort, ihre Telefonnummer. Er wusste, wie sie aussieht und dass sie «auf der Suche nach unverbindlichen sinnlichen Stunden» sei, sich als «experimentierfreudig» bezeichne und «gern überrascht» werde. Das und mehr hatte er auf der Datingplattform Meetme.com in ihrem Profil gelesen.
So standen sie sich an einem gewöhnlichen Wochentag nachts um halb eins gegenüber: er erwartungsvoll im Hausflur, sie irritiert an der offenen Wohnungstür, gerade erst zurück von ihrer Arbeit im Restaurant. Als ihr klarwurde, was sich der Fremde erhoffte, wandelte sich ihre Irritation in Ekel, schlug um in Angst. Was, wenn der Mann ein Nein nicht akzeptierte ?
Nie wäre der Mittdreissigerin der Gedanke gekommen, dass mitten in der Nacht ein kopulierwilliger Fremder vor ihrer Tür stehen könnte. Denn die Profile auf Meetme.com hatte nicht sie, sondern jemand ohne ihr Wissen aufgeschaltet.
Eine Form von Cyberstalking, die in den Fachstellen nur zu gut bekannt ist. «Meist handelt es sich um versierte Täter, die genau wissen, was sie tun und wie sie es tun müssen, um grösstmöglichen Schaden anzurichten», sagt Pia Allemann von der Zürcher Beratungsstelle für Frauen gegen Gewalt in Ehe und Partnerschaft (BIF).
Wenn aus virtueller Gewalt physische Gewalt wird
«Cyberstalking ist kein Kavaliersdelikt, sondern eine Form von Gewalt. Und immer wieder endet in physischen Attacken, was online begonnen hat», so Jolanda Spiess-Hegglin, Geschäftsführerin des Vereins Netzcourage .
Dass virtuelle Gewalt ein Vorbote physischer Gewalt sein kann, zeigt der Fall Sigrid Maurer. Die österreichische Politikerin hatte 2018 eine frauenverachtende und gewaltverherrlichende Hassnachricht erhalten. Absender war ein ihr nicht persönlich, der Öffentlichkeit unter dem Namen «Bierwirt» bekannter Mann.
Maurer stellte die Nachricht samt Namen des Absenders auf Twitter, worauf der die Urheberschaft bestritt und sie anzeigte. Die erste Instanz entschied zugunsten des Mannes, wenn auch erklärtermassen unter Zweifeln an seiner Darstellung der Ereignisse. Maurer, wegen übler Nachrede verurteilt, zog den Fall weiter und wurde im Januar dieses Jahres freigesprochen.
Der Fall sorgte in Österreich für grosses Aufsehen und führte sogar zu einem neuen Gesetz gegen Hassrede . Für Sigi Maurer ging die Sache relativ glimpflich aus. Nicht so für die Ex-Partnerin des Wiener Gastronomen. Die 35-Jährige wurde Ende April in Wien im Beisein eines Nachbarn in ihrer Küche erschossen. Tatverdächtiger ist der «Bierwirt».
«Die Polizei nahm die Sache einfach nicht ernst»
In der Schweiz gibt es kein Gesetz gegen Stalking, geschweige denn gegen Stalking im Netz. Oft mangelt es im Umfeld der Betroffenen und bei den Behörden am Bewusstsein, dass da gerade etwas richtig schiefläuft. «Auf dem Polizeiposten sagte man mir, es sei ja nicht verboten, bei jemandem zu läuten. Die Männer würden mich ja nur kennenlernen wollen», erzählt Brigitte Ursen. Das Verhalten der Polizei habe er als erschreckend wahrgenommen, sagt ihr damaliger Partner. «Sie nahmen die Sache einfach nicht ernst.» Ursen erstattete Anzeige wegen Nötigung.
Ohne die Zugangsdaten, die nur der Urheber der Profile besass, konnte Brigitte Ursen «ihre» Einträge nicht löschen. Ein Spezialist der Polizei musste bei den Betreiberfirmen in den USA die Löschung erwirken. Das dauerte Monate. So blieb es nicht bei der einen Begegnung. Immer wieder tauchten paarungswillige Herren bei ihr auf. Jene, die aus lauter Vorfreude schon früher am Abend vorsprachen, trafen dann auch mal auf ihren damaligen Partner, wenn Brigitte Ursen noch auf der Arbeit war. «Auch ich empfand diese Begegnungen als potenziell gefährlich. Glücklicherweise waren die Männer einsichtig, nachdem sie erfahren hatten, dass sie auf ein Fake-Profil hereingefallen waren», sagt er.
Doch wer hatte das Inserat aufgeschaltet? Schnell fiel der Verdacht auf Ursens gewalttätigen Ex-Partner Emil Klumm*. Gegen ihn hatte sie bereits ein Annäherungsverbot erwirken müssen – was ihn nicht davon abhielt, ihr mit dem Auto zu folgen oder vor dem Restaurant, in dem sie arbeitete, zu patrouillieren. Die Verfügung hat sie auch heute noch immer in der Handtasche mit dabei. «Man weiss ja nie», sagt sie.
Verständlich. «Es geschah an einem Abend im Sommer 2015. Ich war schon länger nicht glücklich in der Beziehung, seine Eifersucht, seine Launen waren schwer zu ertragen. Als ich erfuhr, dass er mich auch noch betrog, reichte es mir.» Brigitte Ursen warf ihn raus. Versuchte es zumindest.
Ein heftiger Streit entbrannte. Er drohte, sie umzubringen. Dann setzte er sie im obersten Stock des Einfamilienhauses rücklings aufs Treppengeländer und drohte erneut, sie zu töten. «Ich konnte mich mit den Füssen im Geländer einhaken, sonst würde ich vielleicht nicht mehr leben», sagt Ursen. Ein Sturz auf die Treppe hätte tödlich enden können. Schliesslich gelang ihr die Flucht. Und so stand nicht er, sondern sie auf der Strasse. Sie trug nur eine Unterhose.
Die Wunden verheilten nach und nach. Die Angst blieb. «Ich litt jahrelang unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, unter Panikattacken », sagt Brigitte Ursen. Sie musste ihren Job kündigen, ihre Wohnung aufgeben. Erst jetzt, sechs Jahre nach der Tat, findet sie den Mut, über die Vorkommnisse zu berichten.
Ursen zeigte den Mann nach jener Sommernacht an. 2018 kam noch die Anzeige wegen Nötigung hinzu. Ein Jahr später wurde Klumm verurteilt wegen Gefährdung des Lebens, qualifizierter einfacher Körperverletzung, Drohung und Beschimpfung. Nicht aber wegen Nötigung.
Die Strafuntersuchung zu den Fake-Profilen hatte Seltsames ergeben. Emil Klumms damalige Partnerin trägt den gleichen Nachnamen wie Brigitte Ursen. Sie soll der Verständlichkeit halber Ursen 2 heissen.
Klumms Computer und Handy waren sauber, das zeigte eine Inspektion. Dafür stellte sich heraus, dass die gesamte Korrespondenz mit zwei Kontaktportalen über das Handy und den Computer von Ursen 2 gelaufen war.
Sich gegenseitig beschuldigt
Emil Klumm sagte im Prozess aus, dass Ursen 2 auf seine Ex eifersüchtig gewesen sei und die Profile möglicherweise aus Rache aufgeschaltet habe. Er selber habe jedenfalls rein gar nichts damit zu tun. Ursen 2 wiederum behauptete, Emil Klumm sei der Schuldige. Da er ihre Geräte gewartet habe, habe er über die notwendigen Zugriffsberechtigungen verfügt, um die Tat in ihrem Namen zu begehen.
Klumm wurde in diesem Punkt mangels Beweisen freigesprochen. Auch Ursen 2 war aus dem Schneider: Da es keine Hinweise auf eine Mittäterschaft gab, musste sich die Staatsanwaltschaft entscheiden, wen sie anklagen will. Deshalb stellte sie das Verfahren gegen Ursen 2 ein. «Trotz dem Freispruch bleibt ein ungutes Gefühl. In den Fake-Profilen waren Details beschrieben, die seine damalige Partnerin gar nicht wissen konnte», sagt Brigitte Ursen.
Eine bedingte Geldstrafe in Höhe von 2250 Franken
Ganze sechs Jahre brauchte die Solothurner Justiz, bis das Verfahren abgeschlossen, das Urteil gefällt und die Begründung geschrieben war. «Die Verfahrensdauer war unüblich lang. Allein bis zum begründeten schriftlichen Urteil vergingen zwei Jahre – obwohl das Gesetz eine Frist von drei Monaten vorsieht», sagt Ursens Anwältin. Eine Qual für Brigitte Ursen: «Solange kein Urteil vorlag, konnte ich mit der Sache nicht abschliessen.»
Umso grösser war die Enttäuschung über das Strafmass. Der Staatsanwalt hatte 30 Monate gefordert, davon 22 bedingt und acht im Vollzug, dazu 2700 Franken bedingte Geldstrafe. Verurteilt wurde Emil Klumm lediglich zu einer Geldstrafe von 225 Tagessätzen à 10 Franken, bedingt auf zwei Jahre. 2250 Franken bedingt – dafür, dass er ein Leben aus der Bahn geworfen hat.
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1 Kommentar
Wieder mal die Tolle super Anständige Schweiz, welche nichts anderes als eine Bananenrepublik vom feinsten ist. Beschämend für unsere Politiker und Richter.