Aufgezeichnet von Andrea Haefely:

Gerüche, Geräusche, grelles Licht, unklare Situationen und Unvorhergesehenes stressen mich extrem schnell. Und Menschen. Ich kann sie oft nicht einordnen. Ich bin Autistin. Wenn es schlimm kommt, werde ich laut, mitunter auch aggressiv. Rocky, mein Begleithund, hilft mir in solchen Situationen. Seit ich ihn habe, kann ich Dinge unternehmen, von denen ich früher nur geträumt habe. 

Rocky ist vier Jahre alt und seit letztem Februar bei mir. Er reagiert nur auf italienische Hörzeichen. Dass er nicht auf Deutsch trainiert wurde, liegt wohl daran, dass er unter keinen Umständen auf fremde, in der Deutschschweiz eben deutsche Befehle hören darf. 

Rocky ist der erste Hund in der Schweiz, der für eine erwachsene Autistin arbeitet. Es hatte mehrere Anwärter für ihn gegeben. Vermutlich habe ich das Rennen gemacht, weil wir am besten zueinander passten. 

Die Funktion, die ich am meisten benutze, ist «fuori», «draussen». Der Hund führt mich mit diesem Hörzeichen sofort ins Freie. Damit das klappt, mache ich vorher eine Ortsbegehung mit ihm.

Flexibilität gewonnen

Praktisch ist auch, dass ich Rocky als Distanzhalter einsetzen kann, damit mir die Leute nicht zu nahe kommen, etwa beim Anstehen an der Kasse. Viele schätzen das gar nicht, nicht mal in Zeiten von Corona, wo Abstandhalten ohnehin angesagt wäre.

Vor allem aber kann ich jetzt selbständig irgendwohin. Das ist neu für mich und einfach grossartig. Wir gehen hier in Zürich zum Beispiel auf die Werdinsel ins Beizli, das war früher undenkbar. Wenn ich das Freunden und Bekannten erzähle, sagen alle: «Was? Sag das noch mal! Ich höre das so gern.» 

Rocky ist als Begleiter einem Menschen gleichwertig, redet aber weniger; das ist ein grosser Pluspunkt. Nur wenn ich etwa in die Ikea gehen und mich mit jemandem beraten möchte, frage ich meine Schwester. 

Einmal war «mein» Tisch in dem einzigen Café, das ich damals aufsuchen konnte, besetzt. Ich brauchte aber dringend eine Pause und einen Kaffee. Ich sagte dann zu Rocky: Das muss jetzt sein. Wir haben uns an einen anderen Tisch gesetzt. Meine Ergotherapeutin war total baff, als ich ihr das erzählte. Sie arbeitet mit mir seit Jahren an dieser Art von Flexibilität, an der Fähigkeit, etwa Cola light statt Rivella zu bestellen oder mal einen anderen Weg zu nehmen als sonst. 

Streicheln beruhigt

Mit Rocky muss ich flexibel sein, er ist schliesslich keine Maschine. Es zahlt sich aus. Etwa als im Wald ein Baum meinen normalen Weg so blockierte, dass wir umkehren mussten. Früher hätte ich geschrien und geweint und nach einer Stunde vermutlich meiner Schwester eine SMS geschrieben, sie solle mich holen kommen, ein Baum liege im Weg, ich wisse nicht, was tun. 

Rocky beruhigt mich grundsätzlich. Ihn zu streicheln, hilft mir in Stresssituationen. Auch die Verantwortung, die ich für ihn habe, lenkt mich bis zu einem gewissen Grad ab, wenn ich überreizt bin. Sehr wichtig ist die Aufgabe «ponte», also «Brücke»: Rocky muss sich dann über meine Beine legen. So erzeugt er den sogenannten Tiefendruck, der mir wie vielen Autisten hilft, mich zu beruhigen. Er bleibt, bis ich ihm sage, es reicht. 

Rocky macht gern Brücke, nicht zuletzt weil er dann jeweils eine kleine Belohnung erhält – er macht dem Ruf des verfressenen Labradors alle Ehre. Wir machen das notfalls auch in der Öffentlichkeit. Es ist mir mittlerweile egal, wie penetrant die Leute glotzen oder wie plump ihre Fragen sind. Hauptsache, es hilft mir.

Bei Orten, die ich oft besuche, habe ich angekündigt, dass ich von nun an mit Hund komme. Für alle anderen Fälle habe ich einen Ausweis bei mir, der mich berechtigt, Rocky wie einen Blindenführhund überallhin mitzunehmen. Wenn dann jemand sagt, der Hund sei ein Problem, antworte ich: «Nein, Sie sind das Problem.»

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