Vor vier Jahren stieg Natalie Barth bei den Zeugen Jehovas aus. Die Erfahrungen, die sie mit der Gemeinschaft gemacht hat, teilt sie heute in sozialen Medien. Das mache sie zu einer ihrer grössten Feindinnen, sagt sie. Besonders weil sie über die absoluten Tabus der Zeugen Jehovas spricht: ausserehelichen Sex, Selbstbefriedigung, Homosexualität. 

Barth wurde in die sektenhafte Gruppierung hineingeboren. Mit dem Umzug aus Deutschland nach Luzern vor gut zehn Jahren begann sie, die Lehre der Zeugen Jehovas zu hinterfragen. Jahre später gelang ihr der endgültige Ausstieg. Heute arbeitet die 44-Jährige als Bauleiterin und ist im Aussteigerverein JZ Help tätig.

Barth will andere Frauen unterstützen, die aus sektenartigen Glaubensgemeinschaften und Freikirchen ausgestiegen sind oder dies vorhaben. Bei den Zeugen Jehovas etwa herrschen rigide patriarchale Strukturen. Es gibt strenge Regeln, was Partnerschaft, Sexualität oder den eigenen Körper angeht. Daraus auszubrechen, fällt schwer. Und danach kämpfen viele mit ihrer Rolle als Frau in der «normalen» Gesellschaft.

Barth spricht diese Probleme in Videos und Blogs an, die teils tausendfach geschaut werden. Zuletzt hat sie für Band 4 der Buchreihe «Keine Macht den Tabus – Frauen brechen ihr Schweigen» ein Kapitel geschrieben. Titel: «Wenn Sex eine schwere Sünde ist». 


Beobachter: Natalie Barth, Sie schreiben: «Wieder einmal hatte ich gänzlich versagt und den Höchsten des Universums enttäuscht. Wieder einmal hatte ich komplett die Selbstbeherrschung verloren und mich der Sünde hingegeben.» Was war passiert?
Natalie Barth: Ich war um die 20, ging viel aus, trank Alkohol. Davor wurde bei den Zeugen Jehovas immer gewarnt. In Clubs und Bars würden Drogen verkauft und Frauen abgeschleppt, hiess es. Es seien keine Orte für wahre Christen. Umso grösser wurde meine Neugier. An besagtem Abend hatte ich einen Mann kennengelernt, war mit ihm im Bett. Eine Todsünde. Zum Geschlechtsverkehr kam es nicht. Sex war in meinem damaligen Leben etwas derart Kompliziertes, Abartiges, dass ich mich nicht einfach so darauf einlassen konnte. 


Danach mussten Sie sich einem Rechtskomitee stellen, einem internen Gremium der Zeugen Jehovas. Sie beschreiben dies als «demütigende Prozedur».
Wer sündigt, muss es wiedergutmachen. Nach dem Abend ging ich zu einem der Ältesten [Anm. d. Red.: Gemeindevorsteher, immer Männer] in meiner Gemeinde. Er berief ein Komitee. Dann wurde ein Termin vereinbart. Ich sass allein drei männlichen Zeugen Jehovas gegenüber. Stundenlang stellten sie mir demütigende Fragen zu meinen «Sünden».  


Worum ging es?
Sie mussten beurteilen, ob es sich bei meinem Verhalten um Porneia handelte. Porneia ist ein griechisches Wort aus der Bibel und bezeichnet für die Zeugen Jehovas alle sexuellen Handlungen, die ausserhalb der heterosexuellen Ehe stattfinden. Zu prüfen war besonders, ob es «zum Äussersten» gekommen war, also zu Geschlechtsverkehr. Dabei gingen die Männer extrem ins Detail: «Hatte der Mann nur mit der Spitze seines Penis deine Vagina berührt, oder ging er tiefer?» Fragen wie diese hatte ich zu beantworten. 


Wie reagierten Sie darauf?
Ich schämte mich in Grund und Boden, fühlte mich schmutzig und wertlos. Stellen Sie sich vor, ich musste als junges Mädchen drei alten Männern meine intimsten Begegnungen bis ins kleinste Detail schildern. Und ich durfte nicht einmal jemanden als moralische Unterstützung mitnehmen. Gleichzeitig war ich überzeugt, dass das Vorgehen schon richtig sei und ich die Strafe verdient hätte. 


Welche Strafe sprachen die Männer aus?
Da ich keine Wiederholungstäterin war, wurde ich nicht aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Ich durfte aber in den kommenden Monaten an den wöchentlichen Versammlungen der Gemeinschaft nichts mehr sagen. Das war schrecklich. Ich war jemand, der sich sonst rege beteiligte. Da ich nun nichts mehr sagen durfte, war den anderen sofort klar, dass etwas passiert sein musste. Ich schämte mich umso mehr. 

«Bei den Zeugen Jehovas wird dir beigebracht: Vertraue nicht deinem Gefühl, deinem Verstand, sondern richte dich komplett nach Gott aus, lebe nach der Literatur der Zeugen Jehovas. Das ist katastrophal fürs Selbstvertrauen.»

Natalie Barth, vor vier Jahren bei den Zeugen Jehovas ausgestiegen

Sie meldeten sich aus eigenem Antrieb bei den Ältesten. Warum? Sie hätten den sexuellen Kontakt auch verschweigen können.
Das frage ich mich heute auch. Aber das schlechte Gewissen war zu stark. Die Regeln wurden einem ja von klein auf eingebläut. Mir kam es manchmal vor, als sei Sex die schlimmste Sünde, die man Gott gegenüber begehen kann. Noch schlimmer als Mord. Auf dem Thema wurde unendlich oft rumgeritten. Und es wird gelehrt, dass, wer eine Sünde begeht, dies melden muss. Nur wenn du das tust, kannst du dein Verhältnis zu Gott wieder in Ordnung bringen. Und das war für mich immer sehr wichtig.


Galt das auch für Selbstbefriedigung?
Das war eine Grauzone. Es war zwar nicht so schlimm wie Sex vor der Ehe, wurde aber als unreine Gewohnheit bezeichnet. Wenn man das häufiger mache, habe das Auswirkungen auf die Beziehung zu Gott, hiess es. Es gab welche, die sogar das den Ältesten berichteten. Ich versuchte, das für mich selbst in Ordnung zu kriegen. 


Wie?
Indem ich möglichst viel für Gott tat, etwa viel missionierte. Ich versuchte, mich beschäftigt zu halten, um möglichst nicht in Versuchung zu geraten. Das klingt total lächerlich! Aber es war schrecklich. Ich war permanent zerrissen zwischen dem, was ich wollte, und dem, was erlaubt war. So ging es vielen Aussteigerinnen, wie ich aus den Gesprächen erfahren habe. 


Worunter leiden Aussteigerinnen am meisten?
Bei den Zeugen Jehovas wird dir beigebracht: Vertraue nicht deinem Gefühl, deinem Verstand, sondern richte dich komplett nach Gott aus, lebe nach der Literatur der Zeugen Jehovas. Das ist katastrophal fürs Selbstvertrauen. Viele Aussteigerinnen leiden unter einem gestörten Verhältnis zu ihrem Körper, ihrer Sexualität, zu ihren Partnern. Einige entwickeln einen Hass auf Männer. Viele haben ihre Erfahrungen mit den Rechtskomitees nicht verarbeitet. Immer waren dort Männer, die sie in erniedrigendste Situationen gebracht haben. Auch Freundschaften zu schliessen, fällt vielen schwer. 


Wieso?
Man lernt, nicht auf sein Gefühl zu hören, sondern den Regeln zu folgen. Nur ein guter Zeuge ist ein guter Freund. Egal, was er oder sie für ein Mensch ist. Hinzu kommt das permanente Misstrauen: Bei den Zeugen Jehovas war es gang und gäbe, sich gegenseitig zu verpfeifen. So wurden mein heutiger Mann und ich zum Beispiel angeschwärzt, weil wir unverheiratet zusammen waren. Jemand aus der Versammlung hatte ihn am Morgen beim Bäcker in meinem Wohnort gesehen. Daraus schloss der Anzeiger, dass wir wohl auch Sex gehabt hätten. Er verpetzte uns. 


Das klingt nicht nach einem entspannten Kennenlernen. Konnte man das überhaupt?
Kaum. Bei den Zeugen Jehovas wird man von Anfang an mit Tipps und Ratschlägen bombardiert, worauf man beim potenziellen Partner achten soll. Etwa dass man in dieser Phase nicht mit der Person allein sein sollte. Das könne gefährlich sein, da man ja Sex haben könnte. Man musste ständig aufpassen, nicht zu weit zu gehen. Auch meinte jedes Mitglied, mitreden zu dürfen. Ich empfand es als sehr belastend, wie alle möglichen Leute aus der Versammlung versuchten, unsere Beziehung zu managen. 


Sobald man heiratet, ist Sex aber okay? 
Ja, dann ist es plötzlich ein heiliger Akt. Was über Jahre derart verteufelt wurde, als etwas Verbotenes, Schmutziges galt, soll man nun geniessen. Damit haben viele Probleme. Wie soll man so ein gesundes Körpergefühl entwickeln? Wenn die eigenen Geschlechtsorgane lange als unrein betrachtet werden, als etwas, wofür man sich schämen muss? Viele Aussteigerinnen leiden unter einer gestörten Sexualität, einem schlechten Körperbild, unter Essstörungen. Auch ich war deswegen bereits mit 17 in Therapie. 


Wie haben Sie den Ausstieg geschafft? 
Es dauerte Jahre und gelang erst mit dem Umzug in die Schweiz. Es half, weit weg von meinem gewohnten Umfeld zu sein. Ich machte damals eine Coaching-Ausbildung, die mir selbst viel gebracht hat. Ich lernte, mich zu akzeptieren, und las viele Bücher, psychologische Literatur, Berichte anderer Aussteiger. Und ich machte Yoga. Auch das war bei den Zeugen verpönt. 


Haben Sie Ihren Entscheid je bereut?
Nein, aber die Konsequenzen sind schwer zu ertragen. Meine Familie hat komplett den Kontakt zu mir abgebrochen. Sie haben sogar meine Telefonnummer blockiert. Letztes Jahr ist meine Mutter  gestorben. Meine Schwester rief an und sagte: «Die Mama ist gestorben. Willst du noch was dazu wissen?» Ich habe nicht einmal erfahren, ob eine Beerdigung stattfand. Also habe ich irgendwann für mich selbst ein Abschiedsritual im Wald abgehalten. 


In Ihren Videos teilen Sie auch viele Insiderinformationen. Reagiert die Gemeinschaft darauf? 
Offiziell dürfen Mitglieder bei den Zeugen meine Videos gar nicht anschauen. Ich bin ja eine Abtrünnige. Aber ich habe schon anonyme Mails erhalten, in denen ich beschimpft werde. Was ich meinen Eltern bloss antun würde und dass jetzt alle über mich redeten. Andere versuchen, mich wieder zu bekehren – teilweise auch für andere Glaubensgruppen oder Freikirchen. Ich könne zwar bei den Zeugen Jehovas aussteigen, aber doch Gott und Jesus nicht aufgeben. 


Wie haben Sie reagiert?
Ursprünglich wollte ich mir tatsächlich eine andere christliche Gemeinschaft suchen, die die Bibel besser auslegt als die Zeugen Jehovas. Mittlerweile habe ich mich aber noch intensiver mit Bibelkritik auseinandergesetzt und bin auch davon weggekommen.

Wer sind die Zeugen Jehovas?

Die christliche, sektenartige Gemeinschaft mit rund 19'000 Mitgliedern in der Schweiz ist bekannt durch ihr ausgeprägtes Missionieren und das Verteilen der Zeitschriften «Der Wachtturm» und «Erwachet!». Die Zeugen Jehovas glauben an die endzeitliche Schlacht Harmagedon, die Nichtgläubige nicht überleben werden.

Natalie Barths Berichte decken sich mit denen anderer Aussteiger. Dass Mitglieder durch sogenannte Komitees detailliert zu sexuellen Kontakten befragt würden, wollten die Zeugen Jehovas auf Anfrage so nicht bestätigen. Das Gleiche gilt für die zum Teil einschneidenden Folgen solcher Befragungen und den Umstand, dass Betroffene ohne Begleitung erscheinen müssten.
 

  • Buchtipp: Gabriela Saul (Hg.): «Keine Macht den Tabus – Frauen brechen ihr Schweigen»; Renidere-Verlag, 2021, 4 Bände, je zirka 11 Franken
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