Rund um den Murtensee zeigt sich die Schweiz von ihrer schönsten Seite. In ländlichem Idyll wächst Gemüse, weiden Pferde, fährt ein Bauer die Milch ins Dorf. Und mittendrin fragt sich der ehemalige Kommissar Simon Tanner kopfschüttelnd: «Wer um Gottes willen ermordet Kühe, schneidet ihnen die Ohrmarke ab und wuchtet die Kadaver in den See?»

Da drängt sich die Frage auf: Warum lässt Urs Schaub, Autor des Krimis «Das Gesetz des Wassers», ausgerechnet an diesem lieblichen Flecken der Schweiz töten? «Es ist genau diese unglaublich schöne Landschaft, die mich zum Schreiben inspiriert», sagt der 63-jährige ehemalige Theaterregisseur, der derzeit am fünften Band seiner Tanner-Reihe arbeitet. Er schwärmt von «verwunschenen Gegenden, von der Weite des Himmels, vom See, der vor allem im Herbst ein spektakuläres Schauspiel bietet». Und vom Nebel, den er so liebt. Früher suchte Schaub hier einen Ausgleich zum hektischen Theaterleben, arbeitete regelmässig auf einem Bauernhof, weil er auch mit den Händen zupacken wollte. Die Gegend kennt er deshalb wie seine Westentasche.

Heute lebt der Autor vor allem in Basel, seiner Geburtsstadt – in der er schon mal eine Frauenleiche im Tinguely-Brunnen auftauchen lässt. Urs Schaub arbeitet als Projektleiter der Leseförderung des Kantons Basel-Stadt. «Ein Glück, denn vom Schreiben allein könnte ich nicht leben.» Das kann in der Schweiz sowieso nur eine Handvoll Autoren.

Ein Schreibtischtäter im Baselbiet

Auf die städtische Umgebung hingegen könnte Schaub verzichten. «In Basel fühle ich mich oft fremd, vielleicht gerade weil ich es so gut kenne.» Dass seine dichten, atmosphärischen Romane kaum hier spielen, versteht sich von selbst. Das ist auch nicht notwendig: Wie in allen urbanen Zentren wimmelt es hier sonst schon von fiktiven Toten, ihren Mördern und denen, die sie jagen.

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Wo Autoren morden lassen

Im nahen Baselbiet dagegen geht es fast schon friedlich zu und her – trotz Attentatsversuchen, Mord und Totschlag. Der Schreibtischtäter heisst hier Rolf von Siebenthal. Seine Hauptfigur Max Bollag, ein aufmüpfiger Mittvierziger, arbeitet beim fiktiven «Tagblatt» und befindet sich im Dauerclinch mit seinem Chefredaktor. Von Siebenthal hat jahrelang selbst als Lokalredaktor gearbeitet und kennt das Milieu aus eigener Erfahrung. «Mein Schreibstil ist eher journalistisch, einfach und verständlich.» Er kämpfe nicht um einzelne Wörter und sehe sich auch nicht unbedingt als Schriftsteller, sondern brauche ein konkretes Thema und authentisches Wissen als Hintergrund. Der kürzlich erschienene zweite Bollag-Band «Höllenfeuer» widmet sich einer fundamental-christlichen Sekte, die ihren Anhängern sogar verbietet, Weihnachten zu feiern. Dahinter steckt durchaus ein wenig der Wunsch nach Volksaufklärung, sagt von Siebenthal. «Meine Bücher werden auch von Menschen verschlungen, die sonst nicht viel lesen.»

Krimis mit einem realen Hintergrund

Auch Peter Beutler schreibt vor allem, um aufzurütteln. «In der heilen Schweiz passieren Dinge, die so nicht geschehen dürften», sagt der 72-Jährige, ein ehemaliger SP-Politiker. Beutler sieht in seinen Büchern die Fortsetzung seiner politischen Tätigkeit und ist stolz darauf, «dass ich damit mehr beeinflussen konnte als seinerzeit im Luzerner Kantonsparlament».

Alle seine Bücher haben einen wahren Kern. Das vorletzte, «Hohle Gasse», befasst sich mit einem umstrittenen Polizeieinsatz der Sondereinheit «Luchs». Dass der verantwortliche Luzerner Polizeikommandant fast gleichzeitig mit der Buchveröffentlichung zurücktrat, schreibt Beutler auch seinem Buch zu: «Es hat zumindest dazu beigetragen.» Der soeben erschienene Krimi «Kristallhöhle» widmet sich einem Tötungsdelikt, das sich 1982 im St. Galler Rheintal ereignete und offensichtlich bis heute viele Menschen beschäftigt – die Erstauflage von 5000 Stück war jedenfalls innert zweier Wochen ausverkauft. «Ich hoffe sehr, dass dieser Fall jetzt nochmals aufgerollt wird», sagt der Autor.

«Es muss alles hieb- und stichfest sein»: Autorenduo Jacques und Roswitha Kuhn.

Quelle: Matthias Willi

Dass ein studierter Chemiker und ehemaliger Lehrer nach der Pensionierung anfängt zu schreiben, scheint Peter Beutler nicht aussergewöhnlich; er habe schon immer gern gelesen und geschrieben. Tatsächlich ist er bei weitem nicht der Einzige, dessen eigentlicher Beruf mit Literatur nichts zu tun hat. Unter den aktuellen Krimiautoren finden sich Lehrer, Psychologinnen, ehemalige Banker und Molekularbiologen.

Viele dieser Quereinsteiger siedeln ihre Krimis in dem beruflichen Milieu an, in dem sie sich täglich bewegen. Das ist manchmal ein wenig zäh zu lesen, häufig aber lehrreich: Mitunter bekommt man quasi im Vorbeilesen viel Einblick in ein zuvor unbekanntes Fachgebiet. Für die Autoren selber hat es den Vorteil, dass ihre Geschichten ohne tiefere Recherchen glaubwürdig wirken.

Eine typische Quereinsteigerin ist Nicole Bachmann. Im Hauptberuf arbeitet die 50-Jährige als Gesundheitswissenschaftlerin, ihre Hauptfigur Lou Beck ist als Epidemiologin in einem fiktiven Berner Spital angestellt. Der packende dritte Teil der Beck-Reihe, soeben im Emons-Verlag erschienen, ist auch ein Plädoyer für mehr Menschlichkeit in der Flüchtlingspolitik und macht klar, unter welchen Umständen Menschen, die gesund in der Schweiz ankommen, mit einer tödlichen Krankheit angesteckt werden können. Dass die Geschichte so stimmen könnte, wie sie es beschreibt, wurde der Autorin von Fachleuten bestätigt. Ein wichtiges Anliegen: Ihre Bücher sollen gleichsam «spannend wie gesellschaftskritisch» sein, sagt sie. Als Regionalkrimi würde Bachmann ihr Buch nie bezeichnen – obwohl der deutsche Emons-Verlag genau darauf spezialisiert ist. Der Begriff behagt den wenigsten Autoren. «Bei sogenannten Regionalkrimis geht man oft zu Unrecht davon aus, sie seien weniger gut als ein Krimi, der in New York oder Stockholm spielt», sagt Nicole Bachmann.

Jeden Monat ein neuer Schweizer Krimi

Ob regional oder international: Das Geschäft mit den fiktiven Toten und Tatorten boomt. Die grossen deutschen Krimiverlage Emons und Gmeiner veröffentlichen fast im Monatsrhythmus neue Krimis aus der Schweiz. Im «Syndikat», der Autorengruppe deutschsprachiger Kriminalliteratur, ist die Zahl der Schweizer Mitglieder innert zweier Jahre von 31 auf 46 gestiegen. Und ein Ende der Hausse ist nicht in Sicht. «Heute landen monatlich 15 bis 20 Manuskripte von Schweizer Autoren auf meinem Schreibtisch», erzählt Claudia Senghaas, Cheflektorin beim Gmeiner-Verlag. «Dennoch bin ich nach wie vor an guten Geschichten aus der Schweiz interessiert.»

Schon jetzt gibt es in der Schweiz so gut wie keinen krimifreien Flecken mehr. Seit letztem Jahr hat selbst das abgelegene Tösstal im Kanton Zürich einen Ermittler, der hin und wieder über eine Leiche stolpert: den Dorfpolizisten Noldi Oberholzer, erfunden von zwei Menschen, die längst nicht mehr arbeiten müssten. Jacques Kuhn ist mit seinen 95 Jahren der älteste Autor des Landes, aber nicht nur deswegen hebt sich der Erstling «Nachsuche» angenehm von der Masse ab.

Geschrieben hat er ihn im Teamwork mit Roswitha, seiner quirligen Frau, 70. Sie sagt: «Wir haben unheimlichen Spass am Fabulieren.» Die Geschichten entwickeln Kuhn und Kuhn stets gemeinsam – beim Essen, beim Spazieren, vor dem Einschlafen. «Es muss ja alles hieb- und stichfest und logisch nachvollziehbar sein», sagt sie. Und erzählt dann laut lachend davon, dass sie mitten im Schreiben ihren Mörder verloren hätten. «Ich weiss noch heute ganz genau, wo wir standen, als uns klarwurde, dass diese Figur nie und nimmer als Mörder taugt. Das hätte überhaupt nicht zu ihrem Charakter gepasst.» Sie haben den Täter nach vielen weiteren Diskussionen schliesslich in einer anderen Figur wiedergefunden. «Er musste ja von Anfang an drin sein, nur in schlechten Krimis taucht der Mörder erst zum Schluss auf.»

Ein Held mit intaktem Familienleben

Auch sonst haben Jacques und Roswitha Kuhn klare Vorstellungen von einem guten Krimi. Die Sprache soll gepflegt sein, und um lebendig und detailreich beschreiben zu können, muss man die Sachen selber erlebt und gesehen haben. Deshalb gehen die beiden nächstens auf den örtlichen Polizeiposten, um sich die dortigen Abläufe erklären zu lassen – die wurden nämlich kürzlich umstrukturiert. Ein anderer Punkt war für das lebenserfahrene Autorenduo von vornherein gegeben: Sein Krimiheld sollte ein intaktes Familienleben führen, nicht trinken oder rauchen und für die Kinder Zeit haben.

Die Reihe um Noldi Oberholzer unterscheidet sich auch deswegen wesentlich von anderen Geschichten des Genres. Auffallend viele Hauptfiguren wissen nicht so recht, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen, sind schwer traumatisiert, beziehungs- oder gar lebensunfähig. Ein Paradebeispiel dafür ist der Engadiner Ermittler Claudio Mettler. Auf dem Umschlag von «Hundsvieh» wird er als «sympathischer Superloser» bezeichnet, der «nichts auf die Reihe kriegt». Das stimmt natürlich nicht ganz, immerhin löst er in nur einem Buch zwei ziemlich strube Fälle, und die Fortsetzung steht unmittelbar bevor.

Alle seine Kriminalfälle spielen im Kreis 4 in Zürich: Autor Sunil Mann.

Quelle: Matthias Willi

Sein Erfinder, der Bündner Autor Daniel Badraun, wirkt sehr viel gefestigter. Er arbeitet, wenn er nicht gerade Krimis schreibt, als Lehrer in einer Kleinklasse. «Eine ideale Mischung», sagt er. Früher hat er davon geträumt, vom Schreiben leben zu können. Geschrieben hat er immer, in jüngeren Jahren «komplizierte Theaterstücke, die keiner verstand», danach Kinderbücher und Hörspiele in Rätoromanisch. Eine politische Karriere hat er wegen des Schreibens wieder aufgegeben. «Ich hätte zu wenig Zeit dafür gehabt.» Handlungsort der humorvollen Krimireihe ist vorwiegend das Engadin, wo Badraun aufwuchs. «Wenn ich wirklich vom Schreiben leben müsste, hätte ich eine dichter besiedelte Gegend gewählt.» Das ist eine Logik des Geschäfts: Ein Regionalkrimi verkauft sich dort am besten, wo er spielt.

Laut Verlagslektorin Claudia Senghaas soll ein guter Regionalkrimi «Lust machen, die Gegend zu entdecken, in der er spielt». Auch in Deutschland würden Schweizer Krimis gern gelesen. Und dass unkonventionelle Typen wie Badrauns Ermittler Mettler so beliebt sind, liege auch daran, dass «viele von uns gern so wären: etwas mutiger und mehr gegen den Strich gebürstet». Vor allem aber wünscht sie sich Figuren, die die Leser schnell ins Herz schliessen – und die so lebendig beschrieben werden, dass man glaubt, «ihnen morgen begegnen zu können». In diesem Fall habe ein Autor perfekte Arbeit geleistet.

Dem Zürcher Sunil Mann scheint das auf Anhieb gelungen zu sein. 2010 bekam er für seinen Erstling «Fangschuss» den Zürcher Krimipreis. Eine gewichtige Auszeichnung, denn Zürich ist das Mekka der Schweizer Krimischreiber: Im Oktober sind allein im Emons-Verlag drei Bücher erschienen, die hier spielen – ganz zu schweigen von den vielen Reihen mit Handlungsort Zürich. Sunil Mann hat die Jury des Krimipreises überzeugt «durch die ihm eigene, unverkennbare Manier, mit der er Zürich beschreibt». Seine Figuren sind sympathisch anders, seine Geschichten garniert mit sarkastischen Ausschweifungen und witzigen Seitenhieben.

«Das war ein bisschen peinlich»

Die Hauptfigur Vijay Kumar wohnt im Kreis 4, «wo allmählich die Leute überhandnahmen, die unbedingt am Puls der Stadt leben wollten, sich aber beklagten, wenn man diesen pochen hörte». Kumars Zürich verändert sich, billiger Wohnraum weicht teuer renoviertem, und dort, wo es einen indischen Laden mit Take-away gab, ist heute ein Billigkleiderladen. Festgestellt hat Sunil Mann das, als er jüngst eine KV-Klasse durch die Schauplätze seiner inzwischen fünf Bücher führte. «Das war ein bisschen peinlich», sagt er. Immerhin spielt der indische Laden eine wichtige Rolle: Die Mutter des Ermittlers betreibt dort einen gut laufenden Imbiss, im neusten Band «Faustrecht» wird er von der Schwiegertochter übernommen. Hauptsächlich geht es um Rassismus. «Der Fall ist fiktiv, der Hintergrund real», sagt der Autor.

Da auch Sunil Mann ein Kind indischer Einwanderer ist, liegt die Frage nach Parallelen mit seinem Romanhelden auf der Hand. «Meine Geschichten enthalten wenig Autobiografisches. Ich selber war kaum mit Rassismus konfrontiert, aber natürlich fliessen eigene Erfahrungen ein.» Seine Ansichten deckten sich ausserdem oft mit denjenigen Kumars. «Die Grenzen verschwimmen manchmal.»

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Beat Portmann: Die Trilogie «Durst», «Alles still» und «Vor der Zeit» handelt von einem Autor, der wider Willen zum Privatdetektiv wird. Etwas schräge Geschichte mit gut gezeichneten Figuren, auch für Nicht-Krimifans geeignet.

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Daniela Hess: Der erste Teil der Serie um Kommissar Fred Matter («Mittsommertode») verlagert sich von Bern in den hohen Norden, wo Matter in den Ferien weilt und natürlich prompt in einen Mord verwickelt wird. Ein spannendes Debüt, das Lust auf mehr macht.

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Ursula Kahi: «Im Schatten des Schlössli» dreht sich um ein Ermittlerteam, das sich zusammenraufen muss, um den Fall zu lösen. Sehr unterhaltsam, mit überraschendem Ende. Ein gelungener Erstling.

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Stephan Pörtner: Zürich hat viele gute (und weniger gute) Krimischreiber – Pörtners «Köbi»-Reihe aber ist ein Muss, die Geschichten um den Ermittler Jakob Robert sind ein Highlight in der hiesigen Krimilandschaft. Die Reihe wurde seit dem fünften Band leider nicht fortgesetzt. Die ersten drei Bände sind inzwischen als E-Books wieder greifbar.