Einmal setzt er ihr eine Pistole an den Hals. «Und jetzt? Was sagst du jetzt? Jetzt hast du Angst, gell», zischt er ihr ins Ohr. Er kontrolliert alles, was sie tut, liest ihre SMS, schreibt sogar welche von ihrem Handy unter ihrem Namen, wenn er wieder den Verdacht hegt, sie sei ihm untreu. Manchmal lügt sie ihn tatsächlich an, weil sie genau weiss: Er würde die Wahrheit nicht ertragen. Er würde durchdrehen, wenn er erführe, dass sie sich mit einem Kollegen trifft, nicht mit einer Freundin. Auch wenn da gar nichts läuft. Manchmal glaubt er, er sei ihr auf die Schliche gekommen. Dann packt er sie, drängt sie mit seinem grossen Körper an die Wand.

«Geschlagen hat er sie, glaube ich, bisher nicht. Aber er ist eine tickende Zeitbombe», sagt Christine Rubli*. Rubli ist die Schwester der Betroffenen. Sie weiss aus eigener Erfahrung, was es heisst, mit einem gewalttätigen Partner zusammenzuleben. Sie hat es geschafft, sich zu trennen. Doch ihre Schwester ist nicht so weit. «Sie ist finanziell total von ihm abhängig», sagt Rubli.

Jeden Tag Dutzende von Einsätzen

Was tun als Angehörige? Soll man sich einmischen, ihn gar zur Rede stellen, sagen, dass man es weiss, dass es aufhören muss? Solche Fragen stellen sich viele, die häusliche Gewalt als Aussenstehende miterleben. Nachbarn, die zögern, die Polizei zu rufen, wenn drüben erneut die Türen knallen. Arbeitskollegen, die die blauen Flecke zwar bemerken, aber die Geschichte vom Treppensturz gern glauben. Die Beziehung, das ist schliesslich Privatsache.

Rund 16'000 Straftaten registriert die Polizei in der Schweiz jährlich, weil Paare oder andere Familienangehörige sich in die Haare geraten. Eigentlich müssten es viel mehr sein: Die Universität Zürich hat herausgefunden, dass die Ordnungshüter nur in 15 bis 20 Prozent aller Fälle gerufen werden. Der Rest bleibt hinter verschlossenen Türen. Es ist ein Hauptmerkmal häuslicher Gewalt, dass sie sich im Verborgenen abspielt. Und genau dies ist einer der Hauptgründe, weshalb Fachleute raten, immer zu reagieren. Denn oft wird ihre missliche Lage auch den Betroffenen erst bewusst, wenn sie öffentlich sichtbar wird.

Infografik: Beobachter/AS

Quelle: Thinkstock Kollektion
Auch Männer leiden unter der Gewalt

«Wenn das Umfeld eine klare Haltung gegen Gewalt einnimmt, merken Opfer, dass das, was sie erleben, nicht normal ist und gesellschaftlich nicht geduldet wird. Sie können dann auch leichter Hilfe annehmen», sagt Maia Ehrsam von der Beratungs- und Informationsstelle für Frauen (BIF) in Zürich. Auch Täter – in 80 bis 85 Prozent der Fälle sind sie männlich – profitieren letztlich davon, wenn Aussenstehende sich einmischen. «Es ist ja nicht so, dass sie Freude empfinden, wenn sie zuschlagen. Sie leiden selber darunter, und viele sind froh, wenn es einen Unterbruch gibt», sagt Martin Bachmann vom Mannebüro Züri.

Die Polizei kann eine Wegweisung verfügen und so eine Zwangspause erwirken (siehe «Gewalt in der Partnerschaft: Sofort reagieren»). «Das ist auch für Täter eine Chance und kann ein wahrer Segen sein, trotz dem anfänglichen Schock durch die polizeiliche Intervention», sagt Martin Bachmann. Gleichwohl ist Fingerspitzengefühl gefragt, wenn Aussenstehende sich einmischen. Häusliche Gewalt ist nicht immer offensichtlich. Wenn jemand permanent unterdrückt wird, keine eigenen Entscheidungen treffen darf, Kontaktverbote erhält, sieht man keine blauen Flecke. Trotzdem handelt es sich um Formen von Gewalt, und sie sind häufig Vorstufen physischer Gewalt. «Es lohnt sich, genau hinzuschauen. Opfer psychischer Gewalt ziehen sich oft zurück und sind zunehmend isoliert», sagt Maia Ehrsam von der BIF.

Wer vermutet, dass jemand im eigenen Umfeld Gewalt erleidet, sollte das Opfer in einem ruhigen Moment darauf ansprechen, Hilfe anbieten, allenfalls Informationen zu Beratungsstellen weitergeben. «Man kann dies auch anonym machen, indem man den Flyer einer Beratungsstelle in den Briefkasten legt. Hauptsache, man unternimmt etwas», sagt Ehrsam.

Opfer im richtigen Moment ansprechen

Wer mit dem Täter besser bekannt ist als mit dem Opfer, sollte sich nicht scheuen, auch diesen darauf anzusprechen, findet Andreas Hartmann, Tätertherapeut bei der Fachstelle Konflikt.Gewalt. in St. Gallen. Dabei soll man auf Vorwürfe verzichten. «Die können den Täter zum Explodieren bringen. Er ist eh schon auf Abwehr eingestellt und weiss in der Regel, dass er Grenzen überschritten hat», sagt Hartmann.

Bei einem akuten Gewaltausbruch raten die Fachleute, in jedem Fall die Polizei zu rufen, auch wenn man sich nicht sicher ist, wie schlimm es zugeht und ob es vielleicht nur ein lautstarker Streit ist. Lieber einmal zu viel als einmal zu wenig, lautet die Devise. Die Polizei klärt dann vor Ort ab, ob Straftaten vorliegen oder ob es sich nur um einen lautstarken Streit gehandelt hat (siehe «Wenn Alkohol im Spiel ist…»).

Privatsache ist häusliche Gewalt nur schon wegen der enormen Kosten nicht. Die Hospitalisierungen, damit verbundene Erwerbsausfälle, die Interventionen der Polizei, die Gerichte, Beratungsstellen und anderes, was mit häuslicher Gewalt verbunden ist, kosten laut einer Studie des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann 164 bis 287 Millionen Franken pro Jahr, je nachdem, von welchen Opferzahlen man ausgeht.

Infografik: Beobachter/AS

Quelle: Thinkstock Kollektion
Es braucht Einsicht – und Zeit

Einzugreifen ist ratsam, um den Kreislauf zu stoppen. Wunder sollte man allerdings keine erwarten. Die desolate Situation von Opfern häuslicher Gewalt kann für Aussenstehende noch so offensichtlich sein: Eine Trennung ist ein Prozess und braucht seine Zeit. «Das ist in einer Gewaltbeziehung nicht anders als in einer normalen», sagt Opferberaterin Maia Ehrsam. Häufig sind Opfer vom Täter abhängig, sei es finanziell oder weil sie ausländischer Herkunft sind und das Aufenthaltsrecht an den Partner geknüpft ist. «Viele müssen auch zuerst wieder lernen, selber Entscheide zu treffen. Wer jahrelang nicht mitentscheiden kann, verlernt dies», sagt Ehrsam.

Und dann ist da noch die Angst, er könnte vollends durchdrehen, die Kinder entführen, ihnen etwas antun. Diese Angst hielt bisher auch Christine Rublis Schwester von der Trennung ab. Rubli unterstützt ihre Schwester mental, hat sie zur Opferberatung begleitet, ist Tag und Nacht erreichbar. «Mehr kann ich im Moment nicht tun. Er ist unberechenbar, ich muss auch meine eigenen Kinder schützen», sagt sie.

 

*Name geändert

Gewalt in der Partnerschaft: Sofort reagieren

Bei akuter Gefährdung oder sofort nach einer Gewalttat:

  • Die Polizei rufen (Telefonnummer 117). Die polizeilichen Massnahmen zielen auf den sofortigen Schutz des Opfers.

  • Die Polizei ermittelt, welche strafbaren Handlungen stattgefunden haben, und kann den Täter sofort für beschränkte Zeit aus der Wohnung und der unmittelbaren Umgebung weisen. Wo nötig kann sie ihn vorübergehend in Polizeigewahrsam nehmen.

  • Die Ordnungskräfte informieren Opfer wie Täter über Beratungsstellen und Therapiemöglichkeiten.

  • Bei Verletzungen zum Arzt – für die Behandlung und zu Beweiszwecken.


In den Tagen darauf
Eine Opferberatungsstelle aufsuchen. Dort gibt es Information und Unterstützung für das weitere Vorgehen. Bei Bedarf vermittelt die Opferberatung Ärztinnen, Therapeuten und Anwälte.

Im ersten Monat danach
Das Gericht einschalten. Die von der Polizei angeordnete Wegweisung aus der Wohnung gilt nur beschränkt. Je nach Kanton für 10 bis 14 Tage. Für eine weitere Fernhaltung des Täters vom Opfer sind die Zivilgerichte zuständig. Sie können unter anderem Folgendes anordnen:

  • Zuweisung der ehelichen Wohnung an das Opfer und seine Kinder zur alleinigen Benutzung während der Trennung.

  • Verbot von Kontakten: persönlich, per Telefon, SMS, E-Mail, Brief.

  • Annäherungsverbot (Strasse, Quartier und so weiter).


Hier finden sich die im Wohnkanton zuständigen Gerichte: www.zivilgerichte.ch

Allenfalls Strafanzeige bei der Polizei einreichen. Die Behörden müssen von Amts wegen ermitteln bei häuslicher Gewalt in Ehe oder Partnerschaft, die während des Zusammenlebens oder innert eines Jahres seit der Trennung stattgefunden haben. Je nach Schwere des Delikts kann das Opfer später bei der Strafverfolgungsbehörde beantragen, dass sie das Strafverfahren einstellt.

Karin von Flüe

Schlagen, verleumden, drohen: Polizeilich registrierte Delikte

Straftat (Auswahl)

Anzahl 2013

Tötung

24

versuchte Tötung

44

schwere Körperverletzung

75

einfache Körperverletzung

2190

Tätlichkeiten

4798

Gefährdung des Lebens

90

üble Nachrede

196

Verleumdung

150

Beschimpfung

2391

Drohung

4244

Nötigung

731

Freiheitsberaubung

117

Vergewaltigung

218

Quellen: BFS, EBG/Infras