Ein feiner Schlauch führt vom Sauerstofftank zur Nase. Marcel Jann aus Thalwil ZH atmet schwer und kann nur noch kurze Sätze sprechen. Sein Gesicht ist fahl und eingefallen. «Ich war früher kräftig und sportlich. Nun habe ich stark abgenommen, altere rasch und werde wohl bald sterben müssen.»

Jann wirkt gefasst, obwohl er die Tränen unterdrücken muss. Vor zwei Jahren diagnostizierten die Ärzte am Universitätsspital Zürich ein bösartiges Pleuramesotheliom - eine Krebserkrankung am Brust- und Bauchfell. Nach einer belastenden Chemotherapie wurden ihm in einer siebenstündigen Operation der rechte Lungenflügel samt Brustfell entfernt - ebenso das Zwerchfell, eine Rippe und der Herzbeutel. Zehn Tage später kam es zu einer beinahe tödlichen Komplikation, die eine Notoperation nötig machte.

Der Primarlehrer Marcel Jann, ein zäher Kämpfer, erholte sich danach einigermassen und unterrichtete Anfang die-ses Jahres wieder stundenweise. Doch am Pfingstsamstag bekam er keine Luft mehr. Auf der verbliebenen Lungenhälfte wuchert nun ebenfalls der Krebs. Dieses Mesotheliom kann nicht mehr operiert werden. Das Atmen fällt zusehends schwerer, sein Luftfenster wird immer kleiner.

Als Kind mit Asbest gespielt
«Ich sterbe eines gewaltsamen Todes», sagt Marcel Jann. Mit einer Lungenstaubanalyse wurden Asbestfasern am entfernten Organ nachgewiesen. Dafür findet der Pädagoge nur eine Erklärung: Als er achtjährig war, zog seine Familie in die unmittelbare Nachbarschaft der asbestverarbeitenden Eternit AG. Sein Vater war dort als Buchhalter angestellt.

Jann erinnert sich: «Ahnungslos hantierten wir Kinder mit dem Eternitmaterial, zerbrachen und zersägten es. Oft spielte oder arbeitete ich im Garten vor dem Haus, gleich gegenüber der Produktionshalle. Das offene Fenster meines Schlafzimmers lag direkt vis-à-vis der Plattenfabrik. Asbest war allgegenwärtig. Ich konnte in unzähligen Situationen die gefährlichen Fasern eingeatmet haben.»

Vor 40 Jahren sprach in Niederurnen noch niemand von gesundheitlichen Risiken im Zusammenhang mit dem giftigen Material.

Jährlich 60 bis 70 Todesfälle
Bis Mitte 2006 wurden in der Schweiz 1635 Personen mit asbestbedingten Berufskrankheiten erfasst, darunter waren 750 mit dem besonders aggressiven Mesotheliom. Jährlich sterben 60 bis 70 Personen daran. Wie viele Anrainer von Asbestfabriken und Familienangehörige von Asbestarbeitern erkranken, wird nicht systematisch erfasst.

Walter Weder, Professor für Thoraxchirurgie am Universitätsspital Zürich, spricht von weniger als fünf Prozent der Fälle: «Dabei wurde zum Beispiel der Staub von Asbestkleidern eingeatmet.» Weder erwähnt den Fall einer asbesterkrankten Frau: «Als Kinder haben sie sich den Asbeststaub gegenseitig ins Gesicht geblasen, weil er in der Nase einen Niesreiz auslöste.»

Asbest ist wegen seiner faserförmigen Beschaffenheit gefährlich. Diese Fasern können das Filtersystem der Atemwege passieren und das Lungengewebe durchdringen. Im Prinzip kann dabei jede einzelne Asbestfaser einen bösartigen Tumor auslösen. Das Risiko steigt mit der Dauer und der Menge der Faserbelastung, hängt aber auch von individuellen genetischen Faktoren ab. Alle Formen asbestbedingter Erkrankungen treten erst 15 bis 45 Jahre, nachdem die Fasern eingeatmet worden sind, auf.

Weil Marcel Jann nicht berufsbedingt an Asbestkrebs erkrankt ist, hat er weder Anspruch auf eine Suva-Rente noch auf eine Integritätsentschädigung. Er erhält auch keine Entschädigung für seine krankheitsbedingten Aufwendungen. Jann hat einen Versicherungsexperten rechnen lassen: «Der wirtschaftliche Schaden meines frühen Todes beträgt für meine Familie über 1,5 Millionen Franken.» Dafür kommt niemand auf. Ihn stört, dass die Folgekosten von den Opfern selbst oder von der Allgemeinheit zu tragen sind - und nicht vom Verursacher.

Ein Anwalt vom Verein für Asbestopfer hat für Jann eine Strafanzeige gegen unbekannt eingereicht. Ob jemand zur Verantwortung gezogen wird, ist allerdings fraglich. Die zivilrechtlichen Verjährungsfristen von maximal zehn Jahren beginnen nämlich ab Straftat zu laufen. Jann appelliert an das Parlament als Gesetzgeber: «Schlüpfen die Verantwortlichen wegen der Verjährung durch die Maschen des Gesetzes, braucht es eine Gesetzesänderung.» Auch der Verein für Asbestopfer fordert, dass Verjährungsfristen erst dann zu laufen beginnen, wenn die Opfer von ihrer Erkrankung wissen.

«Es geht um meine Würde»
Marcel Jann steht langsam auf, zieht sei-nen Sauerstoffschlauch hinter sich her und holt ein paar Briefkopien. Die Schreiben sind an den langjährigen Eigentümer und Eternit-Erben Stephan Schmidheiny gerichtet. Asbestopfer Jann formuliert darin seine Hoffnung auf «ethische Offenheit und soziale Weitsicht jener, denen die Eternit AG gehörte, als ich dem Asbest ausgesetzt war».

Primarlehrer Jann verlangt eine «ernst zu nehmende Entschuldigung» und einen Fonds, gespiesen von der asbestverarbeitenden Industrie, der die materiellen Einbussen der Asbestopfer deckt. Stephan Schmidheiny liess über seinen Rechtsvertreter antworten: Er habe nichts getan, was zur Schädigung der Gesundheit Dritter geführt habe. Und es werde wohl Sache der Gerichte sein, die Schuldfrage festzustellen.

Diese Haltung verletzt Jann: «Jahrzehntelang wurde mit Asbest viel Geld verdient. Für das viele Leid ist nun niemand verantwortlich.» Die Eternit AG hat heute neue Besitzer. Der Geschäftsführer setzte sich schliesslich dafür ein, dass Marcel Jann einen niedrigen fünfstelligen Betrag erhielt. Ein Klacks, gemessen am tatsächlichen Verlust.

Der Todkranke weiss, dass er den Ausgang seines Rechtsverfahrens nicht mehr erleben wird: «Ich will dem Mesotheliom ein Gesicht geben. Es geht um meine Würde, meine Familie und um zukünftige Asbestopfer. Es muss klar werden, wer als Verursacher verantwortlich ist.»