Das Znünitäschli ist genäht, die Pantöffeli sind gekauft. Mami und Papi waren am Orientierungsabend. Jetzt kann es losgehen. Tausende Kinder in der ganzen Schweiz machen in diesen Wochen den ersten grösseren Schritt aus der Obhut der Familie – hinaus in die öffentliche Welt. Sie treten in den Kindergarten ein.

Eines von ihnen ist die fünfjährige Laura*, die zweite Tochter von Andrea Hauser* und Daniel Bamert* aus Zürich. Sie hat einen kleinen Vorteil gegenüber Erstgeborenen: Ihre Eltern sind schon Routiniers, sie blicken vertrauensvoll in die Kindergartenzukunft von Laura. Das kommt von den Erfahrungen mit Katja*, der älteren Schwester. Die Siebenjährige hat nach einigen Tiefs am Anfang eine erfreuliche Kindergartenzeit hinter sich und ist zurzeit gierig auf den Übertritt in die Schule.

So gelassen wie heute waren Andrea Hauser und Daniel Bamert vor zwei Jahren nicht. «Wie wird das wohl mit Katja im Kindergarten», fragten sie sich, «will sie am zweiten Tag überhaupt noch gehen?» Die Eltern erinnerten sich an die Zeit der Spielgruppe, als die scheue Tochter mit Rückzug reagierte und einmal gar für zwei Monate pausieren musste. Nun waren Vater und Mutter unsicher, ob sich Katja in der Kindergartengruppe zurechtfinden würde.

Viele machen zuerst Rückschritte
Diese Angst haben viele Eltern – und es gibt Gründe dafür. «Ich sehe oft, dass Kinder in der ersten Zeit verunsichert reagieren. Viele machen zuerst gar Rückschritte», sagt Lesly Luff, die seit einigen Jahren einen Kindergarten in Zürich-Wollishofen führt. Das sei eine ganz normale Reaktion der Kinder auf die neue Situation, erschrecke aber die Eltern, führe bei vielen zu Unsicherheit und überbehütendem Verhalten. Das wiederum kann die Ängstlichkeit beim Kind verstärken.

So sieht Lesly Luff jeweils am Morgen einige Papis und Mamis vor ihrem Kindergarten, die den Abschied so lang hinauszögern, bis das Kind zu weinen beginnt. «Eltern sollten sich ihre eigenen Gefühle und die Reaktionen darauf bewusst machen. So erleichtern sie dem Kind und sich selbst das Loslassen und den Schritt hinaus aus der Obhut der Familie», rät die erfahrene Kindergärtnerin.

Leichter gesagt als getan. Denn dieser Übergang ist für Kinder und Erwachsene eine Gratwanderung zwischen Vertrautem und Neuem. Sie stellt hohe Ansprüche und ist mit widersprüchlichen Gefühlen verbunden. Cornelia Hausherr, ehemalige Kindergärtnerin und jetzt Redaktorin der Fachzeitschrift «Kindergarten», hat es bei den eigenen Kindern erlebt: «Auf der einen Seite stehen Freude, Neugier und Stolz, auf der andern Spannung, Unsicherheit und Angst, sowohl beim Kind wie auch bei den Eltern.» Verlangsamte Schritte, Unsicherheiten, auch mal ein Straucheln gehören dazu. Abstürze hingegen, davon ist die Fachfrau überzeugt, können weitgehend vermieden werden, wenn Elternhaus und Kindergarten zusammenspannen.

Damit spricht Cornelia Hausherr einen Punkt an, der auch für die Eltern von Laura und Katja grosse Bedeutung hat: «Als wir bemerkten, wie gut die Kindergärtnerin auf das anfänglich stille Wesen von Katja reagierte und uns einbezog, stärkte das unser Vertrauen», sagt Andrea Hauser.

Ein Vorteil war, dass schon viel Vorschussvertrauen vorhanden war. Katjas Eltern hatten sich intensiv auf den Kindergarteneintritt ihrer Erstgeborenen vorbereitet; sie kannten die Kindergärtnerin schon vor Beginn des Schuljahrs recht gut. Sie bereiteten sich so vor, wie es fürsorgliche Eltern vor dem Eintritt ihres Kindes tun: vom «Vorspuren» der gewünschten Kindergarteneinteilung über das Vorgespräch mit der Kindergärtnerin bis zum selber angefertigten Znünitäschli und ersten Spaziergängen zum Kindergarten. Sie wussten: «Alles, was wir zur Vorbereitung tun, ist für uns Eltern ebenso wichtig wie für Katja. Es gibt ihr und uns Sicherheit», sagt Daniel Bamert.

Noch wichtiger als eine gute Vorbereitung ist der Austausch zwischen Eltern und Kindergärtnerin während der zwei Kindergartenjahre. Diese Kommunikation muss von der Kindergärtnerin gefördert und von den Eltern gesucht werden. Cornelia Hausherr: «Wenn die Kindergärtnerin viel über den Alltag und das Verhalten des Kindes erfährt und wenn die Eltern hören, wie sich ihr Kind ausserhalb der Familie bewegt, besteht wenig Gefahr, dass der Kindergarteneintritt einen Bruch im Leben des Kindes verursacht.»

Wie bedeutsam dieser Austausch ist, bestätigt die Kindergärtnerin Lesly Luff: «Ich sehe oft zwei Seiten des Kindes: Anhänglich und hilfesuchend in Gegenwart von Vater und Mutter – selbstständig und initiativ als Mitglied in der Kindergruppe.» Wenn Lesly Luff den Eltern solche Beobachtungen weitergibt, sehen diese ihre Kinder plötzlich mit andern Augen und beginnen ihnen mehr zuzutrauen. Ebenso motivierend ist die Botschaft an die Eltern, dass Kinder sich gegenseitig helfen, füreinander Verantwortung übernehmen und Freundschaften schliessen.

Der Austausch unter Erwachsenen ist umso wichtiger, als die Kinder in der Regel wenig dazu beitragen. «Gspilt dänk!»: So lautet nach Cornelia Hausherr mitunter die knappe Antwort auf die interessierte Nachfrage von Papi und Mami, was sie im Kindergarten heute so gemacht hätten.

Ablösen ist schwierig – und schön
So auch bei Katja: «Sie hat fast nichts erzählt», sagt ihre Mutter. Das war manchmal schwierig für die Eltern – und gleichzeitig «ein irrsinnig schönes Zeichen» für das erwachende Selbstbewusstsein der Tochter. «Für uns waren das Anzeichen, dass sie nun einen eigenen Lebensbereich hat, der nur ihr gehört und in den sich die Eltern nicht allzu häufig einmischen sollten», ergänzt der Vater.

«Kinder sind im allgemeinen flexibler als die Eltern», sagt Cornelia Hausherr, «und Eltern trauen ihren Kindern oft zu wenig zu!» Doch das kann sich schnell ändern. Andrea Hauser und Daniel Bamert haben sich in den zwei Jahren zu erfahrenen Kindergarteneltern entwickelt. Ein Schlüsselerlebnis: Im ersten halben Jahr begleitete der Vater die Tochter jeden Morgen in den Kindergarten. Fast täglich gabs herzzerreissende Tränen. Eines Morgens blickte er nach dem Abschied verstohlen durchs Fenster – und sah, wie Katja zufrieden mit andern Kindern spielte.

* Namen geändert.