Der alte Mann muss gelitten haben. Seine Wirbelsäule ist im unteren Bereich versteift, krankhafte Verwachsungen an den Seiten der Wirbel schränken die Beweglichkeit ein. Das zeigt ein Blick auf die Knochen des Unbekannten, der am Bielersee lebte und mit 62 Jahren starb. Dass er an Morbus Bech-terew erkrankt war, konnte man bis vor kurzem nur vermuten. Von dem Mann aus dem Mittelalter ist ausser den Knochen nichts erhalten. Doch die reichen dem Mediziner Frank Rühli für eine Diagnose. Der Zürcher Anatom hat gemeinsam mit deutschen Kollegen Erbgutfragmente aus dem Oberschenkel isoliert. So konnten sie das Gen HLA-B27 identifizieren, ein klares Zeichen für die nach dem russischen Arzt Wladimir Bechterew benannte rheumatische Erkrankung.

«Ich diagnostiziere Krankheiten aus der Vergangenheit, um ihre Behandlung zukünftig zu verbessern», sagt Rühli. Sein Fachgebiet ist die Evolutionäre Medizin. Er denkt nicht in Jahren, sondern in Jahrtausenden. In solchen Zeiträumen entwickeln sich neue Körperformen und Anfälligkeiten für Krankheiten oder Mikroben. Der Mensch passt sich stetig den Veränderungen der Umwelt an und reagiert so auf neue Lebensbedingungen. «Wir meinen instinktiv, wir seien am Ende der Evolution angelangt. Das ist nicht der Fall – wir verändern uns weiter», sagt Rühli.

Der Evolutionsmediziner sitzt in seinem Büro an der Universität Zürich Irchel, er beschreibt eindringlich, was ihn an seinem Fachgebiet fasziniert. Seit seiner Jugend interessiert er sich für Geschichte, und trotzdem hat er das Studium der Medizin gewählt. Im Schnittpunkt der beiden Disziplinen liegt die evolutionäre Medizin: Das Gebiet verknüpft historische Entwicklungen mit Krankheiten und Veränderungen des Körpers. Dank Spenden konnte Rühli vor einem Jahr das Zentrum für Evolutionäre Medizin eröffnen. An seiner Seite durchleuchten dort Ärzte, Genetiker und Spezialisten für bildgebende Verfahren Knochen und Gewebeproben. Sie spüren längst verstorbenen Menschen und der Ursache ihres Todes nach, suchen Hinweise auf evolutive Veränderungen.

Die ideale Grösse des Menschen

Die finden sie zum Beispiel anhand der Körpergrösse. Rühlis Kollege Kaspar Staub hat kürzlich bestätigt, was vielen auffällt: Die Schweizer werden immer grösser. Die mittlere Körperlänge hat seit 1878 um 14,9 Zentimeter zugenommen. 2009 mass ein durchschnittlicher Rekrut 178,2 Zenti-meter, 1878 waren es erst 163,3. Interessant ist, dass sich dieser Trend verlangsamt. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die Menschen hierzulande von Generation zu Generation grösser, nun flacht die Wachstumskurve deutlich ab. «Wir haben vermutlich die ideale Grösse erreicht», interpretiert Rühli. Diese Entwicklung stellt man auch in anderen Ländern Mittel- und Nordeuropas fest. Über die Gründe lässt sich spekulieren. Während das fortschreitende Wachstum auf verbesserte Ernährung und Hygiene zurückzuführen sein dürfte, ist die Ursache für seine Verlangsamung rätselhaft. Sie lässt eigentlich nur den Schluss zu, dass wir an eine genetisch fixierte Grenze stossen.

Auch an berühmten Toten studiert Rühli äusserliche Veränderungen. Zum Beispiel am Skelett Karls des Grossen, der von 747 bis 814 lebte. Rühli konnte das linke Schienbein untersuchen und berechnete anhand der Länge, dass der legendäre Frankenkönig eine für seine Zeit extreme Grösse von 1,84 Metern erreicht haben musste. Rühli zieht zudem den Schluss, dass der wahrhaft grosse Karl eines natürlichen Todes und nicht an einer Krankheit starb.

Ins Rampenlicht der internationalen Aufmerksamkeit katapultiert haben Rühli aber seine Studien an der Eisleiche Ötzi und an der Mumie Tutanchamuns. Mumien sind das ideale Material für genetische und anatomische Untersuchungen. Einbalsamiert und geschützt gelagert, überdauern sie Jahrtausende.

Den Todesfall Tutanchamun geklärt

Das Rüstzeug für Mumienstudien hat sich der innovative Anatom während seiner Doktorarbeit in Winterthur angeeignet. Ende der neunziger Jahre untersuchte er dafür Knochen und Weichteilgewebe eines unbekannten Ägypters, der 300 Jahre vor Christus lebte. Heute nutzt Rühli auch die neusten bildgebenden Verfahren, um das Mumiengewebe schonend zu durchleuchten.

Seine Fertigkeiten haben ihm 2005 den prestigeträchtigen Auftrag eingebracht, die Todesursache Tutanchamuns zu bestimmen. Gemäss Rühlis Untersuchungen dürfte der legendäre Pharao an den Folgen eines Oberschenkelhalsbruchs gestorben sein. Und bei der Gletschermumie Ötzi konnten Rühli und Kollegen aus Italien eine Verletzung im Schulterbereich ausmachen. Der Steinzeitmensch, der vor 5300 Jahren im Südtirol lebte, verblutete an einer Pfeilwunde.

Rühlis eigentliches Interesse steht im Schatten dieser spektakulären Resultate. Er will wissen, wieso wir heute für manche Krankheiten wie Krebs oder Herz-Kreislauf-Krankheiten anfälliger sind als früher. Jahrtausendealte Mumien sind dafür die idealen Studienobjekte. So haben ameri-kanische Forscher vergangenen Frühling herausgefunden, dass die vor 3550 Jahren verstorbene ägyptische Prinzessin Ahmose-Meritamun an Gefässverkalkung litt und an einem Herzinfarkt starb. Die angebliche Zivilisationskrankheit Arterienverkalkung ist also kein neues Leiden. Das ist umso erstaunlicher, als sich die Prin-zessin vorwiegend von Gemüse und von magerem Fleisch nicht domestizierter Tiere ernährt haben muss. Das weist auf bisher unbekannte Ursachen der Erkrankung hin, die wir auf fette, kalorienreiche Küche zurückführen. «Wir müssen solchen Spuren aus der Vergangenheit nachgehen, um neue Risikofaktoren zu finden», sagt Frank Rühli.

Wer sich mit der Vergangenheit beschäftigt, erfährt mehr über die Zukunft. Wie wirkt sich unsere Lebensweise auf unseren Körper aus? Wohin geht dessen Entwicklung? Bewegungsarmut und kalorienreiche Ernährung führen zu Übergewicht – das ist die eine, bekannte Seite. Ein weniger bekannter Aspekt ist, dass wir heute feiner gebaut sind und weniger Muskeln entwickeln als noch vor 4000 Jahren. «Wenn wir uns körperlich weniger belasten, nimmt die Masse der Muskeln und der Knochen ab. Dieser Trend wird wohl weitergehen», prognostiziert Rühli. Ebenso dürfte sich die menschliche Körpergrösse weltweit vereinheitlichen.

Unwahrscheinlich ist dagegen, dass die Gehirne wachsen und zu übergrossen Köpfen führen, wie Science-Fiction-Autoren spekulieren. Rühlis Doktorvater, Maciej Henneberg, hat Schädel unserer Ahnen aus 20 000 Jahren vermessen: Seine Untersuchung zeigt einen Rückgang des Schädelvolumens um zehn Prozent seit der späten Altsteinzeit. Das heisst nicht, dass wir dümmer geworden sind. Die Nervenzellen sind heute wohl bloss dichter angeordnet.

Die Anatomie ist schon fast optimal

Im Verlauf dieser Phase hat sich der Mensch vom Generalisten zum Spezialisten gewandelt. Der Wandel vom Jäger und Sammler zum Homo technicus hat ein leicht kleineres Gehirn hervorgebracht, das weniger Aufgaben vollbringen muss, diese aber auf höherem Niveau. Daran wird sich kaum etwas ändern. «Ich rechne nicht mit weiteren gravierenden Veränderungen», sagt Rühli.

Aus anatomischer Perspektive sind wir nahe am Optimum. Also noch immer nicht ganz perfekt. «Unsere Anatomie ist immer ein Kompromiss», sagt Rühli mit Blick auf das Zusammenspiel der 206 Knochen unseres Skeletts. Schon eine kleine Abweichung kann grosse Schmerzen verursachen. Das musste auch der alte Mann vom Bielersee leidvoll erfahren.

Ausstellung

Mumien aus Ägypten, Peru und der Schweiz sind bis Januar 2012 in der Universität Irchel in Zürich ausgestellt. Zum Beispiel die Mumie eines Jugendlichen aus dem Andenhochland, der vor 900 Jahren in Sitzstellung begraben wurde. Oder die einer Frau aus dem 16. Jahrhundert, die bei Grabungen in der Barfüsserkirche in Basel gefunden wurde. In ihrem Gewebe haben die Mumienforscher hohe Mengen an Quecksilber entdeckt. Sie vermuten, dass die Frau sich wegen der Geschlechtskrankheit Syphillis einer Behandlung mit diesem giftigen Schwermetall unterzog. 

Die Ausstellungsmacher um Frank Rühli haben sich bemüht, die Mumien auf eine würdige Art zu inszenieren. Da es sich um tote Menschen handelt, war ihnen der Respekt gegenüber den konservierten Körpern wichtig. Diese werden deshalb in einem abgeschlossenen Raum, einer sarkophagähnlichen Kapsel, präsentiert.

Die alten Ägypter balsamierten vor allem Mitglieder höherer Gesellschaftsschichten und religiöse Würdenträger ein. Die Ausstellung stellt alte und moderne Techniken der Konservierung vor und zeigt moderne Verfahren, die man für die Diagnose von Krankheitsbildern und die Entwicklung von Heilmethoden einsetzt.

Die Ausstellung «Mumien: Mensch, Medizin, Magie» an der Universität Zürich (Standort Irchel) dauert bis 8. Januar 2012. Sie ist von Dienstag bis Sonntag, jeweils 11 bis 18 Uhr, geöffnet. Eintrittspreis: 15 Franken, Familien 25 Franken.

www.mumienausstellung.ch

Quelle: Matthias Jurt