Werden Sie nicht gleich ohnmächtig», sagt Harrie van Gruijthuijsen und grinst. «Der Geruch ist ganz schön intensiv.» Geruch? Was in der geschlossenen, turnhallengrossen Kompostanlage in der Luft hängt, ist schon der Kategorie des Gestanks zuzuordnen. 250 Tonnen Mist pro Woche werden hier, in der betriebseigenen Anlage von Kuhn Champignon AG im aargauischen Full-Reuen-thal, verarbeitet – 15 Lastwagenladungen.

«Der Kompost ist die Grundlage, das A und O der Pilzzucht», sagt Betriebsleiter van Gruijthuijsen, der in Gummistiefeln an einem meterhoch aufgeschichteten Miststock vorbeistapft – im selben rasanten Tempo, wie er spricht. «Es ist wie beim Kochen: Wer gut essen will, darf nur beste Zutaten verwenden.» «Küche» nennt er denn auch die Anlage, in der Kompost mit Wasser vermengt, pasteurisiert und fermentiert wird. Auf diese Weise sein eigenes Substrat, den Nährboden für die Pilze, zu produzieren, hat Vorteile: «Wir wissen, was wir da zusammenbrauen, wir haben die Kontrolle über die Qualität.»

Gerade wird per Lastwagen eine Ladung frischen Mists von umliegenden Höfen und Betrieben angeliefert: Pferde- und Hühnermist. In der kalten Jahreszeit wird auch Elefantenmist aus dem Winterquartier des Zirkus Knie verwendet. Es ist bereits die dritte Ladung an diesem kühlen Frühlingsmorgen. Andere Pilzzüchter müssen den Mist aus Holland importieren – «ein ökologischer Blödsinn», findet Harrie van Gruijthuijsen.

Die Pilze wachsen innert acht Wochen auf einem Nährboden aus Mist, den Celalettin Cankara und seine Kollegen in der hauseigenen Anlage kompostieren.

Quelle: Matthias Wäckerlin
Männer sind zu grob fürs Pflücken

Die 1941 gegründete Firma Kuhn hingegen setzt ganz auf «Swissness» und Regionalität. Die weissen und braunen Champi-gnons, die hier produziert werden – 30 Tonnen sind es jede Woche –, landen hauptsächlich bei den beiden Grossverteilern Coop und Migros. Sie tragen die Labels «Aus der Region» und «Suisse Garantie» – eine Kennzeichnung, für die der Kunde mehr zu zahlen bereit ist als für Import-ware aus dem Osten. Die Frage, wie lange dies noch der Fall sein wird, beschäftigt die inländischen Produzenten. «Sollte Schweizer Qualität eines Tages nicht mehr gefragt sein, ist es bald aus mit der einheimischen Produktion», sagt Matthias Widmer, Betriebsleiter der Kuhn AG am zweiten Standort in Herisau AR und Enkel des Firmengründers. Anders als beim Gemüse existiert bei Pilzen kein Grenzschutz. Das bedeutet, dass sich die einheimische Produktion gegen die ausländische Konkurrenz behaupten muss.

Aber noch sind die «Champignons de Paris» aus Schweizer Produktion die meistverkauften Pilze hierzulande: Über 80 Prozent entfallen auf diese Speisepilze, die das ganze Jahr über Saison haben. Die Kuhn AG produziert an 365 Tagen im Jahr. «Wer braucht schon Ferien?», fragt Harrie van Gruijthuijsen. Und er scheint es durchaus ernst zu meinen. Seit 17 Jahren leitet der studierte Maschineningenieur den Betrieb mit 85 Angestellten in Full-Reuenthal. Der schlaksige Holländer ist mit allen per Du und nie um einen Spruch verlegen. Aber beim Rundgang mit dem Chef wird klar: Hier wird nicht lange gefackelt, hier wird gearbeitet – und das auf Hochtouren.

In den 14 Kulturräumen wird an sieben Tagen die Woche, von sieben Uhr morgens bis um die Mittagszeit, geerntet – in Handarbeit. Mit Gummihandschuhen ausgerüstet, lösen die Pflückerinnen die frisch aus der Erde geschossenen Pilze per schnellem Dreh heraus, schneiden den untersten Teil des Strunks ab und legen sie, jeweils drei Stück auf einmal, in die bereitliegenden Kartonschachteln. Es ist wichtig, die druckempfindlichen Champignons möglichst nur einmal zu berühren, und das sanft. «Das ist mit ein Grund, warum wir nur weibliche Pflücker anstellen; Männern fehlt das nötige Fingerspitzengefühl», sagt van Gruijthuijsen. Die Frauenhände sind flink, ihre Handgriffe sitzen, binnen einer Minute ist eine Schachtel gefüllt.

Doch beim Ernten kommt es nicht nur auf Schnelligkeit respektive die geernteten Kilos an; ebenso wichtig sind Qualität und Grösse der Champignons. Sie müssen makellos sein und möglichst genau einer vorgegebenen Grösse entsprechen, die in Kalibern angegeben wird und je nach Abnehmer variiert. Für die Pflückerinnen bedeutet das: Sie müssen den richtigen Zeitpunkt erwischen. «100-prozentig gleich grosse Pilze kriegt man aber nicht hin», sagt van Gruijthuijsen. «Pilze sind ein Naturprodukt, selbst wenn sie industriell produziert werden.» Das zeigt sich auch darin, dass Pilze selbst in klimatisierten Räumen auf den Wechsel der Jahreszeiten oder ein sommerliches Gewitter reagieren.

Harrie van Gruijthuijsen prüft die Fruchtkörper, die innerhalb eines Tages ihr Gewicht verdoppeln können.

Quelle: Matthias Wäckerlin
Einmal pro Woche ist Herbstbeginn

Kultiviert werden die «Champignons de Paris» schon seit über 300 Jahren. Um 1670 entdeckte ein französischer Gärtner, dass sich der Feld- und Wiesenchampignon züchten lässt und in dunklen Kellern und Gewölben besonders gut gedeiht. Am Hof von Louis XIV. galten «Champignons de Paris» als Delikatesse, das gemeine Volk hingegen musste sich in Verzicht üben. Erst als sich die landwirtschaftlichen Betriebe, die die Pilzzucht nebenbei pflegten, in den 1950er Jahren zu hochspezialisierten Produktionsanlagen entwickelten, wurden die einst königlichen Champignons für jedermann erschwinglich.

Pilze mögen es warm und feucht. Das Pilzmyzel, das Pilzgeflecht im Boden, das in dem zu Substrat aufbereiteten Kompost in Gestalt weisser Fäden sichtbar ist, benötigt eine Luftfeuchtigkeit von 95 Prozent und eine Lufttemperatur von 17 Grad, damit es die dunkle Deckerde durchwächst. Ausserdem muss die Erdschicht durchgehend befeuchtet sein. Rund 30 Liter Wasser pro Quadratmeter braucht es für die Bewässerung in den ersten sechs Tagen.

Am siebten Tag wird das Wachstum des Myzels gestoppt – mit kühler Frischluft. «Wir simulieren sozusagen wöchentlich einmal den Herbstbeginn», sagt van Gruijt-huijsen. Kühlere Temperaturen und eine Abnahme des CO2-Gehalts in der Luft regen das Pilzmyzel zur Knopfbildung an. Und dieser Fruchtkörper, den der Pilz zur Verbreitung seiner Sporen bildet, ist das, was wir landläufig unter einem Pilz verstehen – und essen wollen.

Das Pilzmyzel hingegen sieht alles andere als appetitlich aus: Seine feinen Fäden gleichen einem weissen Schimmelpilz. Die Pilzbrut (mit dem Pilzmyzel geimpfte Getreidekörner) wird mit dem Substrat vermengt; eine Tonne kommt auf sieben Liter Brut. Wer diese schimmligen Körner in Händen hält, kann sich kaum vorstellen, dass daraus schmackhafte Champignons wachsen. «Riecht es nicht schon nach Pilz?», fragt van Gruijthuijsen. Doch, mit etwas Phantasie ist der typische, an feuchte Walderde erinnernde Geruch bereits auszumachen.

In der Spedition unterzieht Eirini Orfanidou die abgepackten Champignons einer letzten Kontrolle, bevor sie sie auf die Reise zu den Grossverteilern schickt.

Quelle: Matthias Wäckerlin
Ohne grünen Daumen geht es nicht

Ist das fruktifizierte, also mit Brut geimpfte Substrat in die Hightech-Beete, die sogenannten Bänder, abgefüllt, kann das Kultivieren beginnen. Die Beete werden in riesige Gestelle aus Aluminium eingezogen, die aussehen wie die Regale einer grossen Bibliothek. Jeweils vier lange Gestelle zu sechs Etagen haben in jedem der 14 Kulturräume Platz.

Lufttemperatur, Komposttemperatur, Feuchtigkeit und CO2-Gehalt sind die wichtigsten Faktoren für das Gedeihen der Pilzkulturen. Die Komposttemperatur beträgt in der ersten Wachstumsphase rund 25 Grad, die Luftfeuchtigkeit 95 Prozent, der CO2-Gehalt ist hier mit 0,8 Prozent rund 20-mal höher als in der Frischluft. Die Werte werden automatisch berechnet und gesteuert. Doch ein Computer allein genügt noch nicht; in dieser entscheidenden Phase ist ein grüner Daumen verlangt. Über einen solchen verfügt van Gruijthuijsen, der sich die ersten Sporen in der Pilzzucht bereits als Student abverdiente und später eine entsprechende Fachhochschule absolvierte. «Dabei konnte ich als kleiner Junge Pilze nicht ausstehen», sagt er und lacht spitzbübisch.

Geerntet wird in drei bis vier Durchgängen. Zwischen den einzelnen «Wellen» wird eine Ruhezeit von zwei bis drei Tagen eingeschaltet. Wie intensiv produziert wird, hängt von der Nachfrage ab. «Vor Feiertagen ist es besonders hektisch, da läuft unsere Produktion auf Hochtouren», sagt Betriebsleiter Matthias Widmer. Wie viele Tonnen es an einem bestimmten Tag effektiv braucht, ist schwer abzuschätzen. «Wir leben von Prognosen, und die stimmen nur mehr oder weniger», so Widmer. Dabei wäre eine möglichst genaue, langfristige Planung essentiell: «Bis die Pilze erntereif sind, brauchen wir zwei Monate», rechnet Widmer vor. Die Bestellungen treffen elektronisch und sehr kurzfristig ein. Es ist Viertel vor zwölf, als der letzte Auftrag für den laufenden Tag durchgegeben wird. Wenige Stunden später, um halb vier, muss der letzte Lastwagen losfahren, damit die Frischware rechtzeitig im Verteilzentrum der Lebensmittelhändler eintrifft.

In zwei Tagen vom Beet ins Regal

Die Hektik ist spürbar, die sechs Mitarbeiter in der Spedition sind konzentriert bei der Sache, führen eine letzte Qualitätskontrolle durch. Pilze, die den Anforderungen nicht genügen, werden aussortiert. «Jeder Pilz, der bei uns rausgeht, muss perfekt sein», betont van Gruijthuijsen. Die zweite Qualität landet in Konserven und Industrieprodukten. Ein Zettel mit dem Namen der Pflückerin weist jede Schachtel aus. So lässt sich zurückverfolgen, wer wie gut gearbeitet hat. Nach der Kontrolle werden die Schachteln mit dem entsprechenden Etikett beklebt, und die exakte Anzahl Kartons wird zum Verladen bereitgestellt. 

Frische ist im Pilzgeschäft alles, die Zeit entsprechend knapp. Ein bis zwei Tage nach der Ernte stehen die Pilze im Regal. «Stress?», fragt Isabella Lugano, die in der Spedition für einen reibungslosen Ablauf sorgt, zurück. «Nein, den haben wir nicht, nur viel Arbeit.» Und ja, Champignons schmecken ihr nach wie vor. Die ehemals königliche Delikatesse können sich heute auch diejenigen leisten, die sie anbauen.

Im Handel und bei der Firma Kuhn Champignon AG sind Sets zum Selberzüchten von Champignons erhältlich.

  • Damit die Pilze gedeihen, braucht es einen Raum mit möglichst gleichmässiger Temperatur von zirka 20 Grad –ohne Sonnenfenster, Heizkörper oder Zugluft. An kühleren Orten wachsen die Pilze bedeutend langsamer, bei zwölf Grad stoppt das Wachstum.
  • Über den speziell präparierten, mit Pilzmyzel angereicherten Kompost wird Deckerde gestreut. Die Deckerde in den ersten Tagen nur leicht bebrausen, danach sehr feucht, beinahe nass halten. Der Kompost darf aber nicht im Wasser stehen, sonst beginnt er zu faulen.
  • Nach etwa drei Wochen zeigen sich die ersten Fruchtkörper, die anfänglich wie ein Spinngewebe aussehen.
  • Während sechs bis zehn Wochen wachsen dann die Champignons. Nach jedem Pflücken sollte man dem Pilz eine Ruhepause von einigen Tagen gönnen.