Tina Felder wollte sich einige Tage Erholung in Zermatt gönnen. Doch es kam ganz anders. In ihr Tagebuch schrieb sie: «Da befand ich mich in einem wunderschönen Hotel, umgeben von einer grandiosen Bergwelt, und hatte ein Entspannungswochenende vor mir. Es regnete pausenlos. Die Natur bewies einmal mehr, wie gewaltig und unberechenbar sie sein kann.» Schon nach kurzer Zeit war Tina Felder nicht mehr sicher, wie und wann sie ihre Familie wiedersehen würde.

Die riesigen Wassermengen hatten die Zufahrtswege zum mondänen Ferienort einfach weggewaschen und das Dorf von der Umwelt abgeschnitten. Und zwar vollkommen: Die Telefonleitungen waren tot, Handy, Computer und Fax unbrauchbar. Tina Felder wunderte sich, wie schnell sie sich hilflos und isoliert fühlte. «Die Situation ohne unsere gewohnten Kommunikationsmittel war mir unheimlich.»

Sie wollte nach Hause doch niemand konnte ihr sagen, wann eine Abreise möglich sein würde. Mit ihr sassen andere Kurgäste, aber auch Reisegruppen und Geschäftsleute fest. Für sie alle hiess es trotz den Bemühungen örtlicher Stellen: abwarten und sich in Geduld üben.

Tina Felder erinnert sich an die eigenartigen, nicht sehr genussvollen Spaziergänge im Dauerregen durch das Dorf. Die Touristen waren auf der Suche nach Erklärungen. Schien einer mit dem Handy eine Verbindung zu erhalten, zückten alle sogleich ihre Mobiltelefone. Geldbezüge waren keine mehr möglich; man musste mit dem auskommen, was noch im Portemonnaie war.

Losen um Helikopterflüge

Als die Eingeschlossenen von der Katastrophe in Gondo erfuhren, sich vor Augen führten, dass dort nicht nur Ferienträume zerstört wurden, sondern Menschen, Tiere und Häuser begraben lagen, wuchs die Angst. «Ich hatte ein verzweifeltes Bedürfnis, mit meiner Familie zu reden», erinnert sich Tina Felder. Sie wollte nur noch eins: dieser Gegend entfliehen.

Sie hoffte, dass der Regen aufhören, die Bergmasse hinter ihr standhalten würde, und war erleichtert, als ihr ein Helikopterflug in Aussicht gestellt wurde. 400 andere Personen wollten ebenfalls weg. Aber nur 100 Leute wurden vorerst ausgeflogen, die Hubschrauber hatten wichtigere Einsätze im Wallis zu fliegen.

Am Dienstag wurden Nummern verteilt. «Die beste Chance hatte, wer am frühen Morgen anstand. Ich zog die Nummer 713», erzählt Tina. Sie hatte Glück: Am Nachmittag um fünf Uhr wurde sie mit dem Helikopter nach Raron VS geflogen, mit einem Bus zur Bahnstation Visp geführt, von dort mit dem Postauto nach Brig und endlich zum Zug gebracht, der sie aus dem Wallis und nach Hause führte.

Das Erlebte hat Tina tief beeindruckt: «Ich merkte, wie bedrohlich es war und wie verlassen ich mich fühlte, ohne Kontakt mit meiner Familie. Mir wurde bewusst, wie schnell die Natur alles von Menschenhand Gestaltete blitzartig in Unordnung bringen oder zerstören kann.»

Die Bewohner von abgelegenen Bergregionen sind an die wetterbedingte Abgeschiedenheit gewöhnt. Felix Ziegler, ein Lehrer aus dem Kanton Zürich, ist in Meien im oberen Reusstal im Kanton Uri heimisch geworden. Die Zufahrtsstrasse ist nicht lawinensicher, und im Winter sind die neun ganzjährig bewohnten Weiler, die zur Gemeinde Wassen UR gehören, zeitweise von der Umwelt abgeschnitten.

Abwanderung der Jungen

«Die Verbundenheit mit der Natur ist hier oben gross», sagt der Lehrer, der im Moment nicht mehr genügend Kinder hat, die zu ihm in die Gesamtschule kommen. Doch er denkt nicht daran, aus Meien wegzugehen. Ja, er gerät sogar ins Schwärmen: «Der gemächlichere Lebensrhythmus, der soziale Zusammenhalt gefallen mir. Ich wünschte, es würden mehr Familien hier leben sonst ist unsere Schule von der endgültigen Schliessung bedroht.»

Die Abwanderung ist in Meien, wie in anderen gefährdeten Gebieten, ein Problem. Besonders für die Jugend, für die es häufig zu wenig Ausbildungs- und Freizeitmöglichkeiten gibt und die sich mit einer zeitweiligen Isolation nicht abfinden kann. Felix Ziegler engagiert sich im Verein «Pro Meien», der sich für die Erhaltung des wildromantischen Bergtals als Lebensraum einsetzt. Doch es ist nicht jedermanns Sache, alle paar Jahre im Winter jeweils für einige Zeit von der Umwelt abgeschnitten zu sein oder tageweise in einem Lawinenunterstand zu verharren.

In den letzten 15 Jahren hat in Meien glücklicherweise niemand durch eine Lawine sein Leben lassen müssen. Felix Ziegler gewinnt dem Eingeschneit-Sein eine positive Seite ab: «Die Zeit steht dann still. Man ist mehr bei sich, alles wird ruhig.»

Er will die Gefahren weder dramatisieren noch banalisieren. Wenn der Winter mit aller Härte seine Macht demonstriert, drehen sich die Gespräche nur noch ums Wetter. Man diskutiert die Qualität der Schneemassen, trifft Vorbereitungen für eine eventuelle Evakuierung. Wer die Isolation nicht erträgt, sucht sich anderswo einen Unterschlupf. Die gegenseitige Hilfe geschieht im Urnerland ohne grosse Worte.

Für Rita Brunner aus Gurtnellen UR fiel

der Geburtstermin ihres zweiten Kindes genau in eine Zeit mit hoher Lawinengefahr. Sicherheitshalber ging sie ins Tal zu Verwandten. «Der vorzeitige Auszug von daheim in der letzten Phase der Schwangerschaft war natürlich nicht sehr bequem», erinnert sich Rita Brunner. Doch sie empfindet es als natürlich, dass sich der Mensch der Natur beugt. «Man trifft halt Vorkehrungen», meint sie gelassen. Für die meisten Einheimischen stellt sich die Frage gar nicht erst, ob man aus dieser Risikozone wegziehen soll: Das Urnerland ist ihr Zuhause, die Bodenhaftung stark.

Vertrauen auf die Hilfe von oben

«Wenn die Schneemenge innerhalb weniger Stunden stark anwächst und es immer noch weiterschneit, wird die Stimmung im Tal bedrückend», gibt Felix Ziegler zu. «Einige Tage im Lawinenunterstand sind erträglich; man kocht und isst zusammen, vertreibt sich die Zeit mit einem Kartenspiel und trägt einander durch. Doch danach kann es kritisch werden.» Schwierige Situationen bleiben nicht aus. «Die Leute hier sind schicksalsergeben. Wenn ein alter Mensch bei akuter Lawinengefahr sein Haus nicht verlassen will und die Angehörigen lieber im Lawinenunterstand Zuflucht suchen würden, wird es problematisch.» In Notfällen vertraut man auf den Helikopter. Falls das Wetter es zulässt, bringt er Medikamente und Lebensmittel oder holt einen Patienten ab.

Familie Zgraggen (Bild oben) wohnt abgelegen, drei Kilometer von Gurtnellen entfernt; der nächste Nachbar ist 15 Gehminuten weit weg. «Von der Umwelt abgeschnitten zu sein ist belastend, aber nicht ungewöhnlich. Wir sind zäh; die Kinder wissen, dass sie hin und wieder nicht zur Schule können», meint Vater Toni Zgraggen. Seine grösste Befürchtung ist ein Stromausfall, denn sein Hof verfügt über keine Notstromanlage. «Man muss halt Gottvertrauen haben», meint der Urner Bauer, «und seinen Rega-Beitrag bezahlen.»

Wer einträchtig mit der Natur lebt, auch wenn sie nicht immer gnädig ist, hat weniger Mühe, ihre Unberechenbarkeit anzunehmen, als Menschen, die unverhofft von ihrer Macht überrascht werden.

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Dieser Beitrag erscheint in Zusammenarbeit zwischen Beobachter und schweizer Fernsehen DRS. RedaktionelLe Verantwortung: Monika Zinnenlauf