Seit Tagen läuft in den Aarauer Kinos «Wenn die Hochzeitsglocken läuten» mit Dietmar Schönherr und Paul Hubschmid. Es ist der 27. Juni 1960. Für die 18-jährige Marlene Häsler läuten die Hochzeitsglocken aber nicht. Sie liegt im Kantonsspital in den Wehen - ganz allein. Der Kindsvater, ein Italiener, hat sich aus dem Staub gemacht. Um 12.55 Uhr kommt ein gesunder, drei Kilo schwerer Junge zur Welt. Die Mutter nennt ihn Marco und gibt ihm die Brust. «Dann rissen sie mir das Kind aus den Armen. Ich habe es bis heute nie mehr gesehen», sagt Häsler fast ein halbes Jahrhundert später.

Marco wurde zur Adoption freigegeben. Aus einem heute lächerlichen Grund: Er war ein uneheliches Kind. Allein seit 1950 wurden in der Schweiz Tausende solcher Kinder umplatziert - sogar gegen den Willen der Mütter. In der Regel unterschrieben diese vor der Geburt einen Blankoverzicht, meist auf intensiven Druck von aussen hin. Ein Widerrufsrecht gab es bis 1973 nicht. Wer unterschrieb, gab sein Kind für immer weg.

Statistik
In den sechziger Jahren erreichte die Zahl ausserehelicher Kinder einen Höchststand. Rund zehn Prozent wurden zur Adoption freigegeben.


08-06-ausserehelich.gif

Quelle: Jahresberichte der privaten Mütter- und Kinderfürsorge, Rapperswil

Auch die heute 63-jährige Margrit Gerber unterschrieb - 1970 in Zürich. Sie war damals von ihrem Schweizer Freund schwanger, doch dieser liess sie sitzen. «Ich hatte bereits die ganze Aussteuer beisammen, nur noch der Kinderwagen fehlte.» Im Spital dann der nächste Schock: «Ich durfte mein Kind nicht stillen. Man stelle sich das vor, in einem Raum mit sechs stillenden Müttern.» Gerber musste sich ihre Brüste mit Kampfer einreiben und einbandagieren lassen; damit sollte die Milchproduktion gestoppt werden. Erst nach Tagen durfte die Mutter ihr Baby sehen - von einem anderen Raum aus, durch eine Glasscheibe getrennt.

Die Hebamme, so Margrit Gerber, habe gedrängt: Es warteten viele Mütter sehnsüchtig auf ein Adoptivkind. Sie solle sich rasch entscheiden. Die Mutter war verzweifelt. Entscheiden? Wozu entscheiden? Nach dem Wochenbett musste sie schnurstracks aufs Amt. Vormundschaftsbehörde. «Ein Herr legte mir nahe, eine Verzichtserklärung zu unterschreiben und das Kind zur Adoption freizugeben.» Sie rang mit sich, setzte ihre Unterschrift und rannte weinend aus dem Büro. «Was hätte ich tun sollen? Ich hatte niemanden, der mir helfen konnte - keine Arbeit, nichts. Das war der schwerste Moment meines Lebens.» Margrit Gerber war gleich doppelt gezeichnet: als ledige Mutter mit einem unehelichen Kind und als Rabenmutter, die ihr Kind weggegeben hatte.

Die «gefallenen Mädchen»
Die Geschichte dieser Mütter und ihrer geraubten Kinder wurde bis heute nicht geschrieben. Das ist erstaunlich: Denn bis in die sechziger Jahre wurden jährlich 300 bis 400 aussereheliche Kinder zur Adoption freigegeben. Darunter waren auch Fälle, in denen sich die Eltern nicht um das Kind kümmerten oder es freiwillig weggaben. Aber es gab auch die anderen. «Bis in die siebziger Jahre wurden ledige Mütter wie ‹gefallene Mädchen› behandelt», sagt Veronika Weiss von der Schweizerischen Fachstelle für Adoption in Zürich.

Ein «gefallenes Mädchen» ist auch Annelies T. (Name der Redaktion bekannt). 1967 wurde sie mit 19 schwanger. Der 15 Jahre ältere Vater, ein Taxichauffeur, eröffnete ihr, er sei verheiratet und habe drei Kinder. Annelies T. musste sich vier Wochen nach der Geburt einer «Einvernahme betreffend Vaterschaft» unterziehen und unter anderem folgende Fragen beantworten: «Erster Geschlechtsverkehr (Zeit, Ort)? Letzter Geschlechtsverkehr (Zeit, Ort)? Letzte Periode?» Die Fragen der Behörde waren damals Routine, die Antworten wurden auf Amtspapier festgehalten. Annelies T. wurde nach der Geburt von ihren Eltern im St. Galler Mädchenheim Wienerberg «versorgt», wie es in den Akten heisst. Ziel dieses Heims war die Erziehung «gefährdeter» und «erstgefallener» Mädchen.

Die Geschichte dieser Mütter ist Teil der schweizerischen Fürsorgepolitik der jüngsten Zeit. Opfer solcher Kindswegnahmen waren vor allem unmündige Frauen aus der Unterschicht. Verkäuferinnen wie Marlene Häsler, selber unehelich geboren, lebenslustig. Frauen wie Margrit Gerber, im Heim aufgewachsen, zu Bauern verdingt und spätere Hausangestellte. Schuhverkäuferinnen wie Annelies T., als Epileptikerin zusätzlich stigmatisiert.

«Der Druck von aussen war enorm»
Bei einem ausserehelich geborenen Kind kam damals die elterliche Sorge - oder «elterliche Gewalt», wie es damals hiess - gar nicht zustande: Ein Vormund hatte für das Wohl des Kindes zu sorgen. Die Hauptverantwortung für das Vormundschaftswesen lag bei Gemeinden und Bezirken. Die Vormundschaftsbehörden besiegelten das Schicksal von Kindern mit einem Federstrich. Der Vormund konnte der Dorfpfarrer sein oder der Nachbar. Laut Gesetz musste die leibliche Mutter bei einer Adoption nur angehört werden - eine Zustimmung war nicht nötig.

Meist unterschrieben die Mütter eine Verzichtserklärung: «Wir wissen alle, dass diese meistens im Voraus in der Form des so genannten Blankoverzichts eingeholt wird», sagte der Zürcher Waisenrat Gerd Spitzer 1963 an einer Tagung über Adoptivkinder in Luzern. Dieser Verzicht der Mütter kam oft nur auf grossen Druck zustande - seis von Seiten ihrer Eltern, des Kindsvaters oder der Fürsorge. «Der Druck von aussen, vor allem von meinen Eltern, war enorm», sagt Annelies T. «Richtig freiwillig war das nicht.»

Das Pro-Juventute-Hilfswerk «Kinder der Landstrasse» arbeitete ebenfalls mit derartigen Verzichtserklärungen: Die Verantwortlichen nahmen jenischen Eltern zwischen 1926 und 1973 über 600 Kinder weg und platzierten sie in Heimen, Pflege- oder Adoptivfamilien. Der Beobachter deckte diesen Skandal 1972 auf - ein Jahr später sah sich Pro Juventute gezwungen, das Hilfswerk aufzulösen. Verzichtserklärungen werden auch heute noch gebraucht, allerdings mit zwei wesentlichen Unterschieden: Inzwischen gibt es die Möglichkeit, den Entscheid zu widerrufen. Und die Erklärung darf frühestens sechs Wochen nach der Geburt unterzeichnet werden.

Kinder per Inserat vergeben
Eine aussereheliche Mutterschaft galt bis in die siebziger Jahre als Schande. In einem Adoptionsratgeber von 1974, herausgegeben vom Zürcher Institut für Ehe- und Familienwissenschaft, heisst es: «Zwar kann man oft hören, ein uneheliches Kind und eine uneheliche Geburt seien heute keine Schande mehr, in der Praxis aber sieht das leider sehr oft anders aus.» 1965 schrieb Cyril Hegnauer, nachmaliger Professor an der Uni Zürich: «Ein beträchtlicher Teil der ausserehelichen Mütter ist haltlos. Können doch in rund 20 Prozent der Fälle die Väter nicht festgestellt werden, weil die Mutter den Schwängerer nicht nennen kann oder will, einen unzüchtigen Lebenswandel geführt oder sich mehreren Männern hingegeben hat.» So argumentierte sogar der Mann, der später das Adoptionsrecht revidierte und die Stellung der ledigen Mütter verbesserte.

«Unverheiratete Mütter wurden damals oft als ‹liederliche Weibspersonen› bezeichnet und moralisch verdammt», erklärt der Zürcher Historiker Thomas Huonker. Vorher, vor allem zwischen 1920 und 1950, waren unverheiratete Mütter in psychiatrischen Gutachten noch als «erblich minderwertig» abgestempelt worden. In diesen Jahren mussten Frauen mit unehelichen Kindern sogar damit rechnen, sterilisiert zu werden.

Was auch später blieb, war die gesellschaftliche Herabsetzung der Mütter - bei konstanter Zunahme der ausserehelichen Geburten. «Unsere Spitäler und Mütterheime sind mehr und mehr überfüllt mit Müttern, welche ausserhalb der Ehe ihr Kind erwarten», heisst es in einem Jahresbericht der 1953 eröffneten «privaten Mütter- und Kinderfürsorge» in Rapperswil SG. Allein diese Stelle platzierte von 1954 bis 1974 annähernd 2000 Adoptivkinder. Das erklärte Ziel: «Die Folgen der ausserehelichen Geburt weitmöglichst zu mildern.» Man wolle den betroffenen Müttern den Weg zur Adoptionsbehörde erleichtern sowie geeignete Pflege- und Adoptiveltern suchen.

Viele Kinder wurden auch durch ein Zeitungsinserat oder unter der Hand platziert. An einem schweizerischen Adoptionsseminar 1969 in Weggis LU kritisierte eine Expertin: «Spitalfürsorgerinnen, Ärzte, selbst Privatpersonen (im Extremfall sogar gegen Entgelt!) fühlen sich befähigt und berufen, Kinder zu vermitteln. Man kennt ein nettes Ehepaar, das sich ein Kind wünscht, und zufällig erhält man Kenntnis von einem Kind, das zur Adoption freigegeben wird.» Die Vermittlungsstellen wollten solchen Privatplatzierungen einen Riegel schieben. Es gab zwar gesetzliche Vorschriften für Heirats- und für Wohnungsvermittler, aber nicht für die Vermittlung von Adoptivkindern.

Sogar den adoptierten Kindern misstraute man: «Meist schlossen die Adoptiveltern das Kind vorsorglich von der Erbschaft aus. Das war gang und gäbe und wurde auch empfohlen», so eine ehemalige Mitarbeiterin der Adoptiveltern-Vermittlungsstelle des Gemeinnützigen Frauenvereins Zürich. Die zeitgenössische Fachliteratur bestätigt diese Aussage.

Es waren mindestens zwei Parteien, die damals ein Interesse an solchen Adoptionen hatten. Erstens der Staat respektive die Gemeinden: Waren die ausserehelichen Kinder erst einmal adoptiert, konnten sie der Fürsorge nicht mehr zur Last fallen. Bei der Alternative, einem Pflegeplatz, hätte dieses Risiko bestanden.

Zweitens hatten die Adoptiveltern ein grosses Interesse: Bereits seit den vierziger Jahren gab es stets mehr adoptionswillige Eltern als Kinder. Es existierte also ein Markt für Adoptivkinder. Offiziell schützte man aber karitative Gründe vor.

Suche mit ungewissem Resultat
Heute suchen die «gefallenen Mädchen» ihre Kinder. Wie Margrit Gerber, der 25 gemeinsame Jahre mit ihrer Tochter gestohlen wurden. Veronika Weiss von der Schweizerischen Fachstelle für Adoption bestätigt: «Wir haben pro Jahr 100 bis 180 Anfragen für Nachforschungen, darunter von vielen leiblichen Müttern, die ihr Kind suchen.» Gratis sind die Recherchen indes nicht: Pro Fall werden 650 Franken in Rechnung gestellt. Margrit Gerber versuchte mehrmals, ihre Tochter zu finden, «doch ich hatte keine Chance, die Amtsstellen durften mir keine Auskunft geben». Tatsächlich schützt das Gesetz die Adoptiveltern. Zudem haben sich die leiblichen Mütter mit der Verzichtserklärung meistens verpflichtet, nicht nachzuforschen. Nicht selten werden sie auch von den Ämtern abgewimmelt. Es bleibt ihnen meist nichts anderes übrig, als zu warten, bis ihr Kind sich auf die Suche nach seinen leiblichen Eltern macht. So geschehen bei Margrit Gerber: 25 Jahre nach der Geburt meldete sich ihre Tochter. Die beiden haben heute ein herzliches Verhältnis zueinander.

Auch Annelies T. kennt ihr Kind. Die Tochter erfuhr mit 16 zufällig, dass sie adoptiert worden war, und begann nach ihrer leiblichen Mutter zu forschen. Das Verhältnis der Tochter zur Mutter wie zu den Adoptiveltern ist heute eher schwierig. Annelies T. resümiert ernüchtert: «Die ganze Geschichte hat mich kaputtgemacht. Ich bin seelisch fertig.»

Ein Tabu in der Familie
Marlene Häsler wartet nach 45 Jahren immer noch auf ein Lebenszeichen ihres Sohnes Marco. «Das schlechte Gewissen plagt mich ein Leben lang.» Auch sie forschte nach - vergeblich. «Sämtliche Amtsstellen schwiegen.» In ihrer Not wandte sie sich an den Beobachter, der für sie nach Spuren ihres Sohnes suchte - und fand. Der Fall ist besonders erschütternd, weil aus der Verzichtserklärung hervorgeht, dass Häslers Eltern die Weggabe des Kindes mit ihrer Unterschrift besiegelten - sie selber wollte das Kind behalten. In ihrer Familie wurde das Thema grossräumig umschwiegen.

Kürzlich sah Marlene Häsler erstmals Fotos von Marco, sie lagen im Dossier der damaligen Vermittlungsstelle. Seinen neuen Namen darf die Mutter nicht erfahren. Noch nicht. Die Vermittlungsstelle wird nun versuchen, den Kontakt herzustellen, und den Sohn anfragen, ob er seine Mutter sehen möchte. Ob sie nicht fast vor Neugier platze? Marlene Häsler: «Ich habe jetzt 45 Jahre gewartet, da spielen diese paar Wochen auch keine Rolle mehr.»