«Ohrfeige, Pause, Ohrfeige, Pause»
Der 18-jährige Max Hubacher spielt im Film «Der Verdingbub» die Hauptrolle. Er lernte ein Stück hässliche Schweizer Geschichte kennen – und machte schmerzhafte Erfahrungen.
Veröffentlicht am 21. Oktober 2011 - 09:11 Uhr
Alle Ohrfeigen in diesem Film sind echt. Das haben wir vor dem Dreh abgemacht. Ich spiele ja den Verdingbuben – und der erhält sehr viele Ohrfeigen. Einmal bietet ihm der Bauer eine Stelle als Knecht an. Aber der Max, also der Verdingbub, lehnt ab, weil er lieber Musiker werden will. Da haut ihm der Bauer so richtig eine runter. Diese Szene drehten wir ein Dutzend Mal. Ohrfeige, fünf Minuten Pause, Wechsel der Kameraeinstellung, Ohrfeige, fünf Minuten Pause. Obwohl ich wusste, dass das alles nur gespielt war, wurde ich richtig aggressiv. Aber vielleicht hat mir das beim Spielen ja geholfen.
Bevor ich die Rolle des Max erhielt, wusste ich nicht mal, was «verdingen» bedeutet. Ich hatte keine Ahnung, was sich da in der Schweiz noch vor wenigen Jahrzehnten abgespielt hatte. Dass Kinder und Jugendliche teilweise wie Sklaven gehalten, misshandelt, gedemütigt wurden. Auch von meinen Freunden und Kollegen wusste niemand was davon.
Ich habe dann die Ausstellung «Verdingkinder reden» besucht und Bücher übers Thema gelesen. Die Verdingkinder standen wirklich ganz unten. Sie mussten im Stall schlafen, hart arbeiten und sahen von ihrem Lohn, wenn sie denn überhaupt welchen erhielten, oft keinen müden Rappen. Das hat sie ein Leben lang verfolgt, in der Schule, bei der Arbeitssuche. Doch das Schlimmste war sicher, ohne Liebe aufzuwachsen. Niemand, der einen in den Arm nahm, einen tröstete und mal ein Kompliment machte. Sie wurden aus der Familie gerissen, an einen fremden Ort verpflanzt. Dort sagte die Frau: «Vergiss deine Mutter, die wirst du nie mehr wiedersehen.»
Im Film gibt es eine Szene auf einer Dorfchilbi. Dort kam ein Statist auf mich zu und sagte: «Weisst du, ich war auch mal ein Verdingkind.» Da habe ich mich entlarvt gefühlt. Ich habe das ja nicht selber erlebt. Ich spiele also etwas, was andere viel besser kennen. Ich hoffe, dass die Verdingkinder nicht denken: «Der hat keine Ahnung, macht aber Geld mit unserem Elend.» Ich habe mich allerdings nicht aus Geldgier oder Geltungsdrang für diese Rolle entschieden, sondern weil Schauspiel meine grosse Leidenschaft ist. Und ich will diesen Menschen eine Stimme und ein Gesicht geben. Die Leute und auch die Jungen sollen sehen, dass es nicht nur eine schöne Schweiz gab und gibt, sondern auch eine dunkle, gemeine, dreckige.
Damit ich die Rolle des Verdingbuben spielen konnte, musste ich mich an eigene Gefühle erinnern, die jenen ähnlich sind, die ich spiele. Bei einer Filmszene, in der der Verdingbub Max voller Angst ist, holte ich zum Beispiel das Erlebnis hervor, wie ich als Kind mit Freunden Schneebälle an ein fahrendes Auto warf, der Fahrer ausstieg und mir nachrannte. Damals hatte ich wirklich das Gefühl, dass mich dieser Mann töten will. Das Anspruchsvolle beim Film im Unterschied zum Theater ist: Man muss ein solches Gefühl zwei, drei Minuten für eine Szene empfinden, dann folgt eine Pause, in der die Kameraeinstellung geändert wird, und dann muss man mit dem gleichen Gefühl die Szene nochmals spielen. Und dies oft dutzendmal.
Ich habe dabei viel von den professionellen Schauspielern wie Stefan Kurt und Katja Riemann gelernt. Ich selbst bin ja nicht wirklich Schauspieler. Stefan Kurt scherzte mit mir in der Pause, und einen Augenblick später schaute er mich an, als wenn er mir die Seele aus dem Leib prügeln wollte. Diese Präsenz, diese Konzentration beeindruckte mich.
Die Rolle des Verdingbuben hat mich verändert. Ich schätze die alltäglichen Dinge und unseren Lebensstandard mehr als zuvor. Dass ich Freunde habe, dass ich zur Schule kann, obwohl ich nicht gern zur Schule gehe. Ich bin dankbar, dass ich genug Taschengeld fürs Kino und den Ausgang habe. Trotzdem kann ich verstehen, wenn Junge heute rebellieren. Der Weg ist für uns bereits vorbestimmt: Schule, Hobby, Beruf. Und man braucht mindestens die Fachmittelschule – teilweise sogar für eine Ausbildung als Kinderbetreuer.
Man steht zudem immer im Verdacht, Störenfried zu sein. Wie im letzten Winter, als uns Sicherheitsleute vor einem Club provozierten. Die riefen sofort die Polizei. Diese wollte unsere Adressen. Als wir fragten, weshalb, sagten sie, um die Bussen zuzustellen. Die haben einfach den Securitys geglaubt, ohne unsere Aussagen gehört zu haben! Die Busse lautete dann auf «unsittliches Benehmen». Das tönt doch fast wie «liederlicher Lebenswandel» – also wie der Stempel, den man Verdingkindern und administrativ Versorgten aufdrückte. Sicher sind unsere Probleme heute kleiner als früher. Aber der Druck der Gesellschaft, sich anzupassen, und der Drang von uns Jungen, unseren Platz nicht einfach zugewiesen zu bekommen, sondern selbst finden zu wollen: Das ist sehr ähnlich geblieben.
Mit der Rolle in diesem Film bin ich kein Star, dem die Engagements in den Schoss fallen. Und das ist gut so. Ich bin froh, dass ich ein normales Leben habe und mich um meine Leidenschaft, die Schauspielerei, bemühen muss. Und das werde ich. Wenn die Schule endlich fertig ist, will ich ins Ausland. Wenn möglich an eine Schauspielschule.
Der Film zum Thema «Der Verdingbub»
Dieser Heimatfilm der anderen Art ist sehenswert. Für alle, die die Schweiz besser verstehen wollen.
Es gibt Filme, die schaffen es unter die Haut. Sie dringen ein unter die Oberfläche jener Schweiz, die wie ein Uhrwerk tickt und wo alles paletti ist. Sie machen einen Humus sichtbar, auf dem wir alle stehen, es aber selten merken: unsere heutigen Normen, Zwänge und moralischen Urteile.
Der Verdingbub Max kommt auf die Dunkelmatte, wo er wie ein Arbeitstier behandelt und vom Bauernsohn Jakob aus Eifersucht gedemütigt wird. Max Hubacher spielt das Waisenkind so zurückhaltend und verstockt, dass es eine eindringliche Kraft erhält. Am Leben bleibt Max einzig wegen seiner Liebe zum Handörgeli, zur Musik und zum zweiten Verdingkind auf dem Hof: Berteli. Sie wurde ihrer Mutter weggenommen, als der Vater starb. Zum Drama kommt es, als Berteli vom Bauernsohn geschwängert wird. Da hilft selbst der Einsatz der Lehrerin nichts, die die Missstände auf der Dunkelmatte aufklären will.
Trotz der Schwere des Stoffs bleibt der Kinofilm leicht und schnell. Und er tappt auch nicht in die Falle der simplen Schuldzuweisung. «Jeder hat seine Probleme, seine Sicht auf die Dinge. Jeder hat aus sich heraus recht», schildert der Regisseur Markus Imboden seinen Versuch. Und der gelingt.
«Der Verdingbub» läuft ab 3. November 2011 in den Kinos. Der Spielfilm basiert auf Erlebnisberichten, wie sie auch in der Ausstellung «Verdingkinder reden» zu lesen und zu hören sind. Sie gastiert ab 8. November 2011 im Schulhaus Kern in Zürich (Kernstrasse 45, 8004 Zürich). www.verdingkinderreden.ch |