Ungewohnte Szenen spielten sich am 10. September ab in der Strafanstalt Hindelbank BE: Frauen und Männer umarmten sich, Tränen in den Augen. Und Justizministerin Widmer-Schlumpf hakte Frauen unter, die vor rund 40 Jahren als Jugendliche ohne Straftat und ohne Urteil in Hindelbank versorgt worden waren. Vormundschaftsämter hatten sie wie Tausende andere weggesperrt, nur weil sie als schwererziehbar, liederlich oder arbeitsscheu galten. Bis 1981 war das gängige Praxis.

Eine Stunde zuvor hatten die rund zwei Dutzend administrativ Versorgten im Prunksaal des Schlosses Hindelbank gespannt Platz genommen. Eine bunt zusammengewürfelte Schar, von der schicken Geschäftsfrau bis zur Ex-Prostituierten oder dem selbständigen Baumaschinenmechaniker. Sie alle eint das Schicksal, wegen Behördenwillkür mit dem Stigma von Straffälligen leben zu müssen – die sie nie waren.

Entschuldigung ohne Wenn und Aber

Und dann die entscheidenden Worte der Justizministerin: «Ich möchte Sie im Namen des Bundes um Entschuldigung bitten für das Unrecht, das man ihnen angetan hat.» Die Betroffenen sind sichtlich bewegt, vereinzelt ist Schluchzen zu hören.

Auch der Zürcher Regierungspräsident Hans Hollenstein, der Berner Polizeidirektor Hans-Jürg Käser und der Aargauer Oberrichter Guido Marbet entschuldigten sich. Sie taten es im Namen der Kantone. Marbet ging gar einen Schritt weiter und verurteilte ausdrücklich die «willkürliche Versorgungspraxis» der damaligen Vormundschaftsbehörden, die «in moralischer Selbstherrlichkeit den ihnen übertragenen Fürsorgeauftrag aufs Schlimmste missachteten».

Nach dem rund einstündigen Gedenkanlass waren die Betroffenen erleichtert: «Endlich können wir die Last der Ungerechtigkeit, die wir jahrelang alleine tragen mussten, an den Staat zurückgeben», sagte Gina Rubeli, die 1970 als 18-Jährige weggesperrt wurde. Ursula Biondi, die 1967 als 17-Jährige in die Anstalt kam, sprach vom «schönsten Tag in meinem Leben».

Es dominierte eine Stimmung der Versöhnung. Offenbar hat die Schweiz ein Verfahren gefunden, wie sie unkompliziert den Opfern von Unrecht vergangener Zeiten moralische Wiedergutmachung zukommen lassen kann. Und genau dies verdienen neben den administrativ Versorgten auch die Zwangssterilisierten, die Verding- und misshandelten Heimkinder – auch sie Betroffene von Zwangsmassnahmen der Fürsorgebehörden. Deshalb müssen sich Bund, Kantone und Gemeinden nun auf gleiche Art auch bei ihnen entschuldigen.

Doch mit einer Entschuldigung allein ist es nicht getan. Dieses dunkle Kapitel Schweizer Geschichte muss seinen Platz bekommen im kollektiven Gedächtnis der Schweiz, damit künftig nicht wieder ähnliche Fehler passieren.

Nationalfonds und Bund müssen nun also Forschungsgelder sprechen, damit die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen umfassend aufgearbeitet werden können. Gestützt darauf sind neue Kapitel in die Schulbücher einzufügen, und die Dauerausstellung im Landesmuseum muss entsprechend ergänzt werden. Vor allem aber müssen die Betroffenen Hilfe bekommen, wenn sie nach ihren Akten suchen oder wegen des schlechten Starts ins Leben heute in finanzielle Not geraten.

Die Reden im Wortlaut

  • Rede von Berner Polizeidirektor Hans-Jürg Käser im Namen der Konferenz der Justiz- und Polizeidirektoren: Intensive Forschung in den Archiven der Berner Polizeidirektion haben unter anderem zu Tage gebracht, dass sogar vier Betroffen ohne Einweisungsbeschluss eingewiesen wurden.
  • Rede als PDF (12.3 kb)

  • Rede des Aargauer Oberrichters Guido Marbet im Namen der Vormundschaftskonferenz:  Er kritisiert offen die damaligen Behörden, die «in moralischer Selbstherrlichkeit den ihnen übertragenen Fürsorgeauftrag aufs Schlimmste missachteten».
    Rede als PDF (51.9 kb)

Verdingkinder: Das Psychologische Institut der Uni Zürich sucht ehemalige Verdingkinder über 65 Jahre, die bereit sind, über ihr Leben Auskunft zu geben. Interessierte melden sich unter Telefon 044 635 73 08 oder per E-Mail an s.krammer@psychologie.uzh.ch

Thematisiert

Das vom Beobachter aufgedeckte Kapitel «administrativ Versorgte» interessiert auch im Ausland:
BBC-Artikel