Eingesperrt. Die eine Tür hat sich hinter den drei Frauen geschlossen, die andere vor ihnen noch nicht geöffnet. Sie stehen in der Sicherheitsschleuse der Strafanstalt Hindelbank BE. Zusammengedrängt auf vier Quadratmetern. Schnell schieben sie ihre Identitätspapiere durch den Schlitz im Panzerglas der Loge. Lange Minuten prüft der Polizeibeamte die Papiere. Man sieht den Frauen an, dass Angst hochkommt, blockierte Erinnerungen rauswollen.

Es ist das erste Mal, dass Rita Schreier, 62, Ursula Biondi, 58, und Regina Schluep (Name geändert), 51, zurückkehren an den Ort, wo sie als junge Mädchen «auf unbestimmte Zeit zur Erziehung» eingesperrt waren. Keine von ihnen hatte ein Verbrechen begangen - sie waren bloss unbequeme Jugendliche aus schwierigen Familienverhältnissen. Man hatte sie erst bevormundet, dann in Erziehungsheime gesteckt und zuletzt nach Hindelbank verfrachtet. Die Vormundschaftsbehörden konnten bis 1981 eine Anstaltseinweisung verfügen, ohne dass die Betroffenen eine Möglichkeit hatten, sich vor Gericht dagegen zu wehren.

Zeitreise in der Sicherheitsschleuse
«Hast du den Zehnder noch gekannt?» - «Und die Haldimann?» - «Nein, Schwester Ursula war bei den Gerichtlichen.» - «Wann warst du denn drin?» Wie bei einer Klassenzusammenkunft hatten die drei Frauen auf der Fahrt nach Hindelbank Erinnerungen ausgetauscht. Dann tauchte am Horizont das Schloss auf. Das Geplauder verstummte. Wie viele Schweizer Strafanstalten ist auch Hindelbank in einem ehemaligen Patriziersitz untergebracht. «Früher war da der Psychiater drin, die Küche und der Zahnarzt», sagt Regina Schluep. Rund ums Schloss stehen langgezogene niedrige Bauten, in denen derzeit rund 100 Frauen ihre Strafen verbüssen. Bis vor rund 30 Jahren waren es nur zur Hälfte Straftäterinnen, die andere Hälfte waren Frauen, die zur Erziehung nach Hindelbank geschickt worden waren. Zum Beispiel wegen «lasterhaften Lebenswandels» oder wie Rita, Ursula und Regina als «schwererziehbare» Kinder.


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Schloss Hindelbank in den sechziger Jahren: heute der Sitz der Gefängnisverwaltung


«Der Stempel Hindelbank sitzt ein Leben lang», sagt Biondi. «Er belastet meinen Alltag.» Aus diesem Grund fordern die drei Frauen moralische Wiedergutmachung - stellvertretend für ein weiteres Dutzend Betroffene, die sich beim Beobachter gemeldet haben, nachdem dieser Ursula Biondis Geschichte publik gemacht hatte (siehe Artikel zum Thema «Behördenwillkür: Zur Erziehung ins Gefängnis»). «Es soll wenigstens mal jemand sagen, dass es falsch war, uns zur Erziehung in eine Strafanstalt zu stecken», fordert Biondi. Die Verantwortlichen zu finden ist nach 30 oder 40 Jahren schwierig, denn die einweisenden Behörden sind längst neu besetzt. In dieser Hilflosigkeit wird die Reise nach Hindelbank zum symbolischen Ersatz, und die Minuten eingeschlossen in der Sicherheitsschleuse werden zur Zeitreise.

Regina Schluep wurde 1976 als 19-Jährige nach einem Suizidversuch nach Hindelbank gebracht. «Sie lebt seit ungefähr einem Jahr mit einem übel beleumdeten und mehrfach vorbestraften Manne, der 15 Jahre älter ist als sie, zusammen», begründete die Vormundschaftsbehörde der Bürgergemeinde Recherswil SO die Einweisung. «Von diesem Mann hat sie im Dezember 1975 ein Kind geboren. Um das Kind bekümmert sie sich wenig oder gar nicht. (...) Sie ist eine notorische Lügnerin. Sie begeht gelegentlich kleinere Diebstähle, ist hingegen strafrechtlich nie verfolgt worden.» Nach Hindelbank sei sie einzuweisen, weil die psychiatrische Klinik zu wenig sicher sei. Wieso genau sie in die Strafanstalt gesperrt wurde, wusste Schluep nicht - bis im Juni dieses Jahres, als sie auf Anraten des Beobachters erstmals ihre Akten einsah. «Statt Hilfe zu bekommen, wurde ich weggesperrt», sagt die Frau, die heute in einem Behindertenheim arbeitet. Immerhin erwirkte damals ein aufmerksamer Anstaltspsychiater, dass sie nach drei Monaten in eine psychiatrische Klinik und nach sechs Monaten freikam.

Die Denunziation des Sekundarlehrers
Im Alter von 16 Jahren wurde Rita Schreier 1962 in Hindelbank eingewiesen. Der Grund: Sie soll einer Mitschülerin zehn Franken aus dem Etui gestohlen haben. Aus den Erziehungsheimen, in die man sie deswegen gesperrt hatte, war sie immer wieder zu ihrem Grossvater geflohen. «Ich rebellierte gegen die Ungerechtigkeit, wegen eines angeblichen Diebstahls aus meiner Familie gerissen worden zu sein», sagt die resolute Frau heute. Ebenfalls erst dieses Jahr bei der Akteneinsicht realisierte Schreier, dass für die Einweisung ihr Zuchwiler Sekundarlehrer entscheidend gewesen war. Er zeigte den Diebstahl an und schrieb an den Solothurner Jugendanwalt: «Rita fällt sofort auf. Zur Schule fährt es mit einem Velo, bei dem die Enden der Lenkstange nach oben gerichtet sind. Es trägt einen Mantel mit übergrossem Pelzkragen und Schuhe mit hohen Absätzen. Das Streichen der Lippen und der Fingernägel sowie das Sichparfümieren habe ich ihm wenigstens für die Dauer der Schulzeit abstellen können.» Rita Schreier wurde nach einem Jahr entlassen, lernte Coiffeuse, heiratete, zog zwei Söhne gross und leitete während über 20 Jahren ein Taxiunternehmen.

Ursula Biondi wurde 1967 mit 17 Jahren in Hindelbank eingesperrt. Weil der Vater sie schlug, riss sie immer wieder von zu Hause aus. Ein Au-pair-Jahr im Welschland brach sie ab, weil sie vom Hausherrn sexuell missbraucht worden war. Und dann traf sie in der Hawaii-Bar im Zürcher Niederdorf den sieben Jahre älteren Eisenleger Heinz. Mit ihm reiste sie nach Genua, und von ihm wurde sie schwanger. Als sie in die Schweiz zurückkehrte, galt sie als schwer erziehbar und wurde von der Vormundschaftsbehörde der Stadt Zürich «für die Dauer von zwei Jahren in ein geeignetes Erziehungsheim eingewiesen». Nach rund einem Jahr in Hindelbank wurde sie entlassen, arbeitete zuerst als Kellnerin, dann als Sekretärin, machte Karriere als Informatikausbildnerin bei Uno-Organisationen, zog ihren Sohn gross und lebt heute am Zürichberg.

Der Sicherheitsbeamte schiebt die Identitätskarten zurück durch den Schlitz im Panzerglas, die Innentür öffnet sich. Marianne Heimoz, die heutige Direktorin der Strafanstalt, und Martin Kraemer, Vorsteher des Amts für Freiheitsentzug und Betreuung des Kantons Bern, begrüssen die Ex-Insassinnen. «Personenkontrolle brauchen wir heute keine», sagt Heimoz und führt ihre Gäste am Metalldetektor vorbei in den Hof der Strafanstalt.

Die Frauen sagen nichts. Sie stehen direkt vor jenem Zellentrakt, in dem sie damals untergebracht waren. Von aussen sieht er noch genau gleich aus wie damals. Stumm gehen sie ans Tor, blicken in den Innenhof, wo sie manchmal spazieren durften. Es herrscht beklommene Stille. Die Frauen haben Tränen in den Augen. Aber bald wandelt sich die Trauer in Wut. «Was die mit uns gemacht haben!», sagt Schluep. «Das sollen sie mir büssen.» Doch die Wut bleibt ohnmächtig, weil sie kein konkretes Gegenüber hat.

Auch Kinder wurden eingesperrt
Bis 1981 war Hindelbank zugleich Strafanstalt und Erziehungsheim. Doch gab es lange weder therapeutische noch erzieherische Hilfe und auch keine Möglichkeiten zur beruflichen Aus- oder Weiterbildung. Die jungen Frauen arbeiteten in der Wäscherei zusammen mit erwachsenen Mörderinnen, Räuberinnen oder Brandstifterinnen. Die zur Erziehung eingewiesenen Mädchen waren teilweise erst 14 Jahre alt. «Zuerst hatten wir nur Frauen, die 18 Jahre und älter waren», erinnert sich Fritz Meyer, der heute 89-jährige ehemalige Direktor der Strafanstalt, der noch immer wenige hundert Meter weit entfernt in Hindelbank wohnt. «Im Laufe der sechziger Jahre wurden immer jüngere Frauen eingewiesen. Es kam sogar der Antrag, eine 13-Jährige aufzunehmen. Den lehnten wir aber ab.»

Beobachter: Herr Meyer, wieso hat die Gesellschaft damals junge Mädchen zur Erziehung in die Strafanstalt gesteckt?
Fritz Meyer: Die Gesellschaft war ratlos und überfordert. Diese jungen Frauen liefen den Eltern davon und flüchteten aus Erziehungsheimen. Zuletzt landeten sie bei uns. Man wollte nichts von ihnen wissen und steckte sie weg.

Beobachter: Haben Sie sich nie gefragt, ob die Strafanstalt das Richtige sei für diese Mädchen?
Fritz Meyer: Doch. Das fragte ich mich immer wieder. Aber wir waren verpflichtet, sie aufzunehmen. Wenn ich heute mein Tagebuch von damals durchlese, frage ich mich, wie ich das verantworten konnte.

Beobachter: Hat es Sie nie gestört, dass Vormundschaftsbehörden diese Frauen ohne gerichtliche Überprüfung einweisen konnten?
Fritz Meyer: Doch. Die Vormundschaftsbehörden hatten damals zu viel Macht.

Fragt man bei damaligen Verantwortlichen nach, tönt es hilflos: Es sei eine verzwickte Sache gewesen, sagt etwa der frühere Präsident der Vormundschaftsbehörde der Bürgergemeinde Recherswil, die Regina Schluep nach ihrem Suizidversuch in die Strafanstalt Hindelbank eingewiesen hat. Damals hätten sie einfach keine andere Möglichkeit gehabt, ihr beizukommen. Ähnlich ohnmächtig tönt es beim früheren Präsidenten der Vormundschaftsbehörde der Gemeinde Wald ZH, die noch 1979 eine 15-jährige Frau administrativ in Hindelbank versorgte. Der heute 80-jährige Mann beschreibt am Telefon seine Mühe, für diese junge Frau eine sinnvolle Lösung zu finden. Aus Heimen sei sie ausgebrochen, und selbst als er sie zu sich in die eigene Familie aufgenommen habe, sei sie geflohen. Man habe damals sogar den Beobachter angefragt, was sie mit dem Mädchen tun sollten. Doch auch der wusste keinen Rat. Man wies bloss darauf hin, dass es zwischen halbfreien Heimen und der geschlossenen Anstalt leider noch keine Alternativen gebe.

Nochmals einige Sicherheitsschleusen. Doch diesmal ist die Anstaltsdirektorin dabei und öffnet sofort jede Tür. Rita Schreier, Ursula Biondi und Regina Schluep treten ein ins Schloss, jenen Teil der Anstalt, in dem heute die Gefängnisverwaltung untergebracht ist. Der Innenhof ist lauschig wie eine gemütliche Gartenbeiz. In den hohen Räumen hängen Kronleuchter von der Decke und ehrwürdige Porträts des Erbauers Hieronymus von Erlach an den Wänden. Unter seinen Blicken setzen sich die drei ehemaligen Insassinnen am grossen Eichentisch Direktorin Heimoz und Amtsvorsteher Kraemer gegenüber. Wie hatte es Ursula Biondi formuliert? «Es soll wenigstens mal jemand sagen, dass es falsch war, uns zur Erziehung in eine Strafanstalt zu stecken.»

Die Opfer fühlen sich ernst genommen
Direktorin Heimoz serviert Kaffee und bietet Patisserie an. Hergestellt von einer Insassin, die eben eine Anlehre abgeschlossen hat. Die drei Frauen erzählen ihr Leben. Die Strafvollzieher hören zu. Nach eineinhalb Stunden sagt Martin Kraemer: «Ich verstehe Ihren Zorn, Ihre Wut und Ihren Aufruhr gegen die Behörden, die Ihnen Unrecht getan haben.»

Er habe nicht gewusst, dass in Hindelbank junge Frauen ohne gerichtliches Urteil zur Erziehung eingesperrt wurden - und zwar nicht im tiefen Mittelalter, sondern bis vor 27 Jahren, zu einer Zeit also, «als ich bereits erwachsen war. Ihre Lebensgeschichten führen mir vor Augen, wie wichtig es ist, dass ich im Strafvollzug nur das mache, wovon ich wirklich überzeugt bin, dass es für die Betroffenen förderlich ist.» Die Geschichte des Strafvollzugs zeige aber, dass sich jede Generation für ihre Arbeit bei der späteren Generation entschuldigen müsse für die Fehler, die sie gemacht habe. «Wenn es Frauen gibt, die als Jugendliche von Berner Behörden ohne gerichtliches Urteil in Hindelbank eingewiesen wurden, werden wir gründlich prüfen, ob eine Wiedergutmachung angebracht ist.»

Der Besuch hat den Frauen geholfen. Sie wurden ernst genommen. Ursula Biondi legt den beiden Vollzugsangestellten aber noch etwas ans Herz: «Jugendliche dürfen nie mehr bloss aus erzieherischen Gründen in Anstalten untergebracht werden, die den gleichen Namen tragen wie ein Gefängnis. Eine Stigmatisierung, wie wir sie erlebt haben, darf nie mehr passieren.» Die Tür zur Freiheit geht diesmal problemlos auf. Draussen umarmt eine junge Strafentlassene gerade einen jungen Mann. «Auf mich wartete damals nicht der Freund, sondern der Vormund», meint Rita Schreier trocken.

Einweisungen bis in die achtziger Jahre
Das Angebot des Berner Strafvollzugschefs, eine Wiedergutmachung gründlich zu prüfen, nützt den drei Frauen allerdings herzlich wenig, denn sie wurden von Solothurner oder Zürcher Behörden eingewiesen. Und die bieten keine Wiedergutmachung an:

«Aus heutiger Sicht mag zwar die Einweisung in die Strafanstalt Hindelbank befremden», schreibt der heutige Präsident der Vormundschaftsbehörde Recherswil, die damals Regina Schluep eingewiesen hatte. «Indessen entsprach das Vorgehen der damaligen Behörden den rechtlichen Bestimmungen, und es liegt nicht an den heutigen Behörden, jenes Vorgehen zu kommentieren oder gar zu kritisieren.»

Bei Schreier und Biondi reagieren die Verantwortlichen ähnlich: Die Einweisung wird bedauert, doch den damaligen Behörden mag niemand einen Vorwurf machen.

Entschuldigungen gibt es keine. Diese Reaktionen befriedigen die Berner Historikerin Tanja Rietmann nicht. Sie schreibt eine Dissertation über Frauen und Männer, die im Kanton Bern administrativ in Heime oder Strafanstalten eingewiesen wurden. «Bereits seit dem frühen 20. Jahrhundert forderten professionelle Fürsorgerinnen und Sozialarbeitende, dass man bei schwierigen Jugendlichen zuerst eine ‹soziale Diagnose› stellen muss, genau hinschauen sollte, was es für Gründe gibt, wieso sich jemand auffällig benimmt. Doch davon wollten viele Vormundschaftsbehörden bis in die siebziger Jahre nicht viel wissen.»

Etwa die Vormundschaftsbehörde Basel-Stadt. Sie wies noch im Frühling 1980 eine junge Frau in Hindelbank ein, weil sie mit der Pflegemutter nicht auskam und ihr einen Wäschesack nachgeworfen hatte. Da hatten Bundesrat und Parlament bereits realisiert, dass es menschenrechtswidrig ist, Leute in geschlossene Heime oder Strafanstalten zu stecken, ohne dass ein Gericht angerufen werden kann: Sie hatten das Zivilgesetzbuch revidiert und auch beim fürsorgerischen Freiheitsentzug eine gerichtliche Überprüfung vorgesehen.

Doch als die Revision Anfang 1981 in Kraft trat, erfuhr die Baslerin nicht etwa von der Vormundschaftsbehörde, dass sie rechtswidrig in Hindelbank festgehalten wurde, sondern von einer Mitinsassin, die ihr einen Zeitungsartikel zusteckte. «Das überrascht mich nicht», sagt Christoph Häfeli, ehemaliger Rektor der Hochschule für Soziale Arbeit Luzern und Experte im Vormundschaftsrecht. «In den Vormundschaftsbehörden arbeiteten bis weit in die neunziger Jahre vorwiegend Laien, die keine professionelle Ausbildung hatten. So änderte sich im Vormundschaftswesen oft erst etwas, wenn die Behörden von den Gerichten gerüffelt wurden.»

Viele alte Akten sind bereits zerstört
Die jüngere Geschichte des Vormundschaftswesens ist weitgehend unerforscht. Erst die administrative Versorgung wird historisch aufgearbeitet. Die Quellenlage aber ist schlecht: Von 2700 im Kanton Bern zwischen 1942 und 1981 administrativ Versorgten sind nur noch 207 Dossiers vorhanden. Der Rest wurde vernichtet. «Das ist unhaltbar», protestiert Ursula Biondi. «Akten dürfen nicht mehr vernichtet werden, sondern sind den Betroffenen auszuhändigen.» Sie fasst zusammen mit Rita Schreier und Regina Schluep ein neues Ziel ins Auge: Die drei Frauen wollen ein Archiv aufbauen, wo die Fälle von Männern und Frauen dokumentiert werden, die ohne Urteil in Erziehungsheimen landeten. «Damit man nicht vergisst, was man uns angetan hat», sagt Biondi.