Beobachter: Im letzten Jahr gab es Unwetterschäden in der Höhe von rund 270 Millionen Franken, im Katastrophenjahr 2000 waren es rund 700 Millionen. Kann sich die Schweiz solche Summen überhaupt noch leisten?

Alain Thierstein: Die Frage ist vielmehr, ob man sich langfristig die Investitionen in Schutzbauten leisten will, die es braucht, um die tendenziell zunehmenden Schadenssummen zu begrenzen. Heute werden solche Investitionen noch ohne grosse Diskussionen getätigt, weil der Bund einen recht hohen Anteil übernimmt. Häufig merken die Kantone gar nicht, wie hoch die Kosten effektiv sind.

Beobachter: Von Schutzbauten profitieren ja meist nur sehr wenige Menschen in abgelegenen Regionen. Machen denn solche millionenteuren Investitionen Sinn?

Thierstein: Wenn man diese Summen auf die Personen umlegt, die direkt davon profitieren, sind die Kosten enorm hoch. Aber oft sind gewisse Schutzbauten notwendig, um bedeutende Verkehrsachsen zu sichern, denn diese sind für die Grundversorgung und die Wirtschaftsentwicklung wichtig. Man muss sich von Fall zu Fall überlegen, was man mit den Steuergeldern macht und ob es nicht Alternativen gibt, die längerfristig einen grösseren Effekt haben. Ich denke da zum Beispiel an einen Rückbau.

Beobachter: Das heisst, dass sich der Mensch aus gewissen Gegenden zurückziehen sollte?

Thierstein: Letztlich heisst es das.

Beobachter: Denken Sie an ein konkretes Beispiel?

Thierstein: Man könnte eine solche Diskussion etwa im Fall des Glarner Ferienorts Braunwald führen. Das Dorf hat Überlebensprobleme, weil es im Winter nicht mehr garantiert schneesicher ist. In der Gemeinde gibt es zudem einen so genannten Kriechhang: Das Dorf wird mit der Zeit abrutschen. Zudem ist die Bergbahn nach Braunwald defizitär, und das wirtschaftliche Überleben des Orts ist durch den Tourismus und die Berglandwirtschaft nicht mehr gesichert. Angesichts dieser Umstände kann man sich tatsächlich fragen, ob man Braunwald um jeden Preis erhalten will oder welche Alternativen denkbar sind. Dazu bräuchte es aber ein Projekt, das von der Kantonsregierung getragen und wissenschaftlich begleitet würde. Aber der politische Wille für eine solche Diskussion in der auch eine Nulloption, also ein Rückbau und eine Umsiedlung der Bevölkerung, enthalten sein müsste fehlt nicht bloss im Glarnerland. Die Existenzfrage stellt sich auch für andere Gemeinden in der Schweiz.

Beobachter: Sie plädieren also für einen geordneten Rückzug?

Thierstein: Diese Möglichkeit müsste überall von den Kantonen geprüft werden. Dazu bräuchte es aber eine offene politische Diskussion über die Ausgestaltung dieses Übergangs, über die Rahmenbedingungen und den Zeitrahmen.

Man muss sich etwa über das Schicksal der am Ort verwurzelten Menschen, über vorhandene Infrastruktur und über Entschädigungsfragen unterhalten. Dann muss man abschätzen, welche Geldmittel es braucht und wie man diese beschaffen kann. Natürlich wird es auch Menschen geben, die im Dorf wohnen bleiben wollen. Solange die Gefährdung nicht unmittelbar ist, könnte man sagen: Gut, sie können dort bleiben, aber wir bauen die Bahn ab, die Schule wird geschlossen und die Post auch.

Beobachter: In den vergangenen Jahren hätte man solche Diskussionen auch einige Male nach grossen Unwetterkatastrophen führen können. Warum geschah das nicht?

Thierstein: Stimmt, das wäre eigentlich der Zeitpunkt für solche Diskussionen gewesen. Aber angesichts von Toten und Verletzten und Menschen, die alles verloren haben, ist es schwierig, darüber zu diskutieren, ob man einen Ort ganz verschwinden lassen will oder nicht.

Interview: Thomas Angeli