Das Bild der vorbildlichen Schweiz hat bei Anna Robnik aus dem vorarlbergischen Hohenems ein paar Kratzer bekommen: «Ich hätte nie gedacht, dass ich als Grenzgängerin so schlechte Erfahrungen machen würde.» Fünf Jahre lang hatte sie als Nachseherin im Stickereibetrieb Kuster-Schweizer AG in Diepoldsau SG gearbeitet. Tag und Nacht, jahrelang mit monatlich bis zu 80 Stunden Überzeit, und das zuletzt für bescheidene 18 Franken pro Stunde. Rekordmonat war der Januar 2005, wo sie 118 Überstunden leistete und drei Wochen lang von 5 Uhr bis 23 Uhr an den Stickautomaten stand.

Für Überzeit gabs bloss einen Franken Zuschlag pro Stunde. In den Arbeitsverträgen hielt die Firma ihre knapp 20 Mitarbeitenden kurz: «Mit dieser Entschädigung erklärt sich die Arbeitnehmerin einverstanden und verzichtet gleichzeitig auf weitere Zuschläge gemäss den gesetzlichen Arbeitsbestimmungen.» Eine illegale Abmachung; das Arbeitsgesetz verlangt einen 25-prozentigen Zuschlag.

Massiv zu viel Überzeit

Anna Robnik wurde auf Ende 2005 gekündigt. Ihr Verhalten im Betrieb sei «nicht weiter tragbar», hiess es ohne nähere Begründung. Auch dem Beobachter wurde lapidar beschieden: «Wir haben uns nichts vorzuwerfen, halten uns an die gesetzlichen Bestimmungen und möchten auf Ihre Fragen im Detail nicht weiter eingehen.»
Fragen gibts einige. Die heute 56-jährige Alleinerziehende hat ihre Monatsabrechnungen samt Stempelzeiten fein säuberlich abgeheftet. Mehrere Verstösse gegen geltendes Recht sind so belegt:

  • Die zehnprozentige Zeitgutschrift für Nachtschichtarbeit - seit dem 1. August 2003 ist diese obligatorisch - wurde nicht geleistet.
  • Die höchstzulässige Überzeit - bei 45 Wochenstunden 170 Stunden pro Jahr - wurde mehrfach massiv überschritten.
  • Nicht bezogene Ferien wurden Ende Jahr illegalerweise ausbezahlt.

Die Schichtarbeiterin wurde auch nie ärztlich untersucht. Offenbar auch niemand sonst, obwohl bei einer 12-Stunden-Nachtschicht medizinische Untersuchungen zwingend vorgeschrieben sind. Dem Beobachter liegen entsprechende Aussagen weiterer ehemaliger Mitarbeitender vor.

Teilerfolg vor Gericht

Nach ihrem Rauswurf gelangte Robnik ans Arbeitsgericht Rheintal. Dieses hat ihr im März 2006 in einem Vergleich 8'355 Franken wegen geschuldeter Überzeitzuschläge zugesprochen. Doch: «Mir steht noch mehr zu.» Weitere illegale Praktiken seien im Verfahren nicht berücksichtigt worden. Dies allerdings entspricht der Rechtslage: «Der Richter ist an die Begehren der Klägerin gebunden und darf nicht von sich aus nach Gesetzesverstössen forschen», sagt Gerichtspräsident Walter Würzer. Und da Robnik den Vergleich per saldo aller Ansprüche akzeptiert habe, werde sie es mit ihrem Revisionsbegehren «schwer haben».

Robniks Nachzahlung hat keine unmittelbaren Folgen für die anderen Mitarbeiter. Sie müssen ihre Rechte erst bei der Arbeitgeberin einfordern. «Wenn diese keine Einsicht zeigt, können sie klagen», sagt Würzer. Das Arbeitsgericht informiere auch keine anderen Amtsstellen: «Da Zivilgerichte auf ein gewisses Vertrauensverhältnis zu den Parteien angewiesen sind, wird üblicherweise bei Strafverfolgungsbehörden, Steuerbehörden und dem Arbeitsinspektorat keine Anzeige gemacht.»

Zuständig für den Vollzug des Arbeitsgesetzes wäre das kantonale Arbeitsinspektorat. Doch die Kuster-Schweizer AG wurde in den letzten sechs Jahren gar nicht kontrolliert, wie Inspektoratsleiter Karl Raggenbass bestätigt. Das will man nun nachholen und die «relevanten Vorwürfe vor Ort überprüfen».