Kurz vor Weihnachten wollte sich Elisabeth Bähler (Name geändert) einen lang gehegten «Kindertraum» erfüllen: «Ich wollte schon immer einmal kiösklen», sagt die 56-jährige einstige Krankenpflegerin. Als exakt in ihrem Dorf bei Solothurn eine Teilzeitstelle frei wurde, zögerte sie nicht lange: Sie bewarb sich bei der Kiosk AG um den Job. «Ich brauchte nur über die Strasse zu gehen, und schon war ich bei der Arbeit», schwärmt sie. Und zum Publikum habe sie nach kurzer Zeit «einen super Kontakt» aufgebaut.

Doch die Freude währte nicht lange. Stutzig wurde die Angestellte bereits bei der Durchsicht des Arbeitsvertrags: Statt des abgemachten Pensums von 15 bis 20 Wochenstunden enthielt der Vertrag einen schwammigen Artikel: «Die Arbeitszeit ist nicht festgelegt, Arbeitseinsätze erfolgen unregelmässig und nach den Bedürfnissen des Unternehmens.» Als Zugabe wurde von der Verkäuferin maximale Flexibilität verlangt: «Arbeitszeiten können auch kurzfristig geändert werden.»

Nicht einmal der Lohn entsprach dem, was mündlich vereinbart worden war. Statt von 15.20 Franken war im Vertrag nur von 15 Franken Stundenlohn (netto) die Rede. Die Folge: Die Angestellte schickte das Dokument ohne Unterschrift zurück und bat um einen neuen Vertrag.

Flexibel sein auch am Wochenende
Mit der Antwort liess sich die Kiosk AG Zeit; Elisabeth Bähler begann ohne gültigen Vertrag zu arbeiten. Punkto Arbeitszeit musste sie sich aber der geforderten Flexibilität beugen. Sie arbeitete quasi auf Abruf, musste einspringen, wenn jemand fehlte, auch an Wochenenden. In anderen Fällen wurden Arbeitstage gestrichen; die Angestellte wusste nie, wie viel sie Ende Monat in der Lohntüte haben würde. Zudem wurde erwartet, dass die Kioskfrau morgens die Auslagen sortierte und abends aufräumte, ohne dass der Mehreinsatz entschädigt wurde.

Als nach zwei Monaten noch immer kein Vertrag eingetroffen war und eine neue Gebietsleiterin «in arrogantem Ton» auftrat, hat es die Kioskfrau «glüpft»: «Ich verliess den Laden auf der Stelle», sagt die enttäuschte Verkäuferin. Nur mit mehrmaligem Nachhaken erreichte sie, dass die Salärdifferenz von 20 Rappen pro Stunde nachgezahlt wurde. «Ich habe zwar von Anfang an gewusst, dass der Lohn mies ist», meint sie, «aber ich dachte, die Freude an der Arbeit würde das kompensieren.»

Die enttäuschte Kioskfrau aus dem Solothurnischen ist kein Einzelfall, wie Robert Schwarzer, Generalsekretär der Gewerkschaft VHTL, sagt. «Die Kiosk AG ist uns seit langem ein Dorn im Auge. Es ist eine Katastrophe, wie die Leute dort ausgenutzt werden.» Er weiss von einer Verkäuferin, die der Firma 30 Jahre lang treu geblieben ist und trotzdem nicht mehr als 13 Franken pro Stunde verdient hat. Eine Umfrage des VHTL vom Sommer 1999 in Bern brachte an den Tag, dass bei neun von 14 Verkäuferinnen der Monatslohn unter 3000 Franken netto lag. Aus anderen Regionen wurden Stundenlöhne von 14.60 Franken gemeldet.

VHTL spricht von «Sklaverei»
Die Gewerkschaften setzen sich seit längerem für eine Aufwertung von schlecht entlöhnter Arbeit ein: «Keine Jobs unter 3000 Franken netto» lautet die Forderung einer Kampagne, die für den kommenden 1. Mai wieder aktiviert wird und zum Beispiel bei Migros und Coop erste Erfolge gezeigt hat.

Nicht aber bei der Kiosk AG: Seit Jahren führe man Gespräche mit den Verantwortlichen, doch sei bisher «nichts daraus geworden», kritisiert Schwarzer. Erst kürzlich, im Januar, habe man einen neuen Anlauf genommen, um für die Branche einen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) mit garantierten Mindestlöhnen einzurichten. «Seither herrscht Funkstille», bedauert der VHTL-Sekretär.

Tatsächlich kommt manche Angestellte, vor allem wenn sie Teilzeit arbeitet, auf ein hochgerechnetes Monatssalär von rund 2700 Franken. Stossend ist für den VHTL, dass die Frauen wie auf Abruf und selbst an Wochenenden einsatzbereit sein müssen, ohne dafür zusätzlich honoriert zu werden. «Eine moderne Form der Sklaverei», so Schwarzer. «Die Angestellten müssen jederzeit verfügbar sein.»

Betriebsgewinne in Millionenhöhe
Dazu passt auch ein Vorfall, der im Herbst letzten Jahres publik wurde: Die Kiosk AG hatte in einer Filiale im Kanton Zürich hinter den Zigarettenpackungen heimlich Videokameras installiert – in einer Nacht-und-Nebel-Aktion. So wollte man das Personal überwachen, weil die Kasse einen Fehlbetrag aufgewiesen hatte.

Betroffen von solchen Arbeitsbedingungen sind vorab Frauen und sozial Schwächere. Alleinerziehende etwa sind auf den Verdienst angewiesen und haben Mühe, überhaupt eine Stelle zu finden. Wer sich aber derart an den Job klammern muss, getraut sich kaum, die Arbeitsbedingungen zu kritisieren. Dazu Robert Schwarzer: «In den Gewerkschaften sind die Kioskfrauen praktisch nicht vertreten. Sie haben Angst, sich zu exponieren und dann vielleicht die Stelle zu verlieren.»

Dabei hat der Betrieb eigentlich keine Geldsorgen. Die Valora-Gruppe, zu der neben Merkur auch die Kiosk AG gehört, erzielte letztes Jahr einen Betriebsgewinn von 164 Millionen Franken, 33 Prozent mehr als im Vorjahr. Allein der Kioskbereich machte einen Umsatz von 1,1 Milliarden Franken.

In der Schweiz arbeiten rund 6200 Angestellte an den Kiosken, zwei Drittel im Teilzeitverhältnis. Die 1300 Verkaufsstellen zählen täglich rund eine Million Kunden. Seit einer Fusion 1990 hat die Kiosk AG in der Schweiz ein Quasimonopol.

Diese Machtstellung bekommen auch Anbieter zu spüren, die ihre Produkte am Kiosk platzieren. Wer verhindern will, dass seine Schokoriegel oder Zeitschriften in der hintersten Ecke landen, bezahlt für die Promotion zwischen 30'000 und 50'000 Franken. Wer noch 50'000 drauflegt, kann für zwei Wochen das Körbchen mieten, das in bester Griffnähe zur Kundschaft liegt. Und wird ein neues Produkt eingeführt, zum Beispiel eine neue Zigarettenmarke, so kostet die Lancierung am Kiosk bis zu 350'000 Franken.

Warum gibts bei solchem Geschäftserfolg nicht bessere Bedingungen für die Angestellten? Die Kiosk AG distanziert sich von der Kritik. Werde eine Verkäuferin fürs Auf- und Abräumen nicht entlöhnt, sei dies ein Einzelfall, meint Michael Tschopp, Personalleiter der K-Group. «Es kann sein, dass es an einigen Verkaufsstellen zu unterschiedlichen Meinungen bezüglich konkretem Zeitbedarf kommen kann.»

Für Überstunden und Sonntagsarbeit gebe es abgemachte Zuschläge. Von «Arbeit auf Abruf» könne keine Rede sein. Aber: «Kurzfristige Anfragen in Fällen von Krankheiten oder Personalengpässen sind natürlich im Rahmen einer ordentlichen Einsatzplanung jederzeit möglich.»

Kiosk AG plant Lohnerhöhung
Ein Gesamtarbeitsvertrag ist für Michael Tschopp kein Thema: Vom Verkaufspersonal seien höchstens 300 in einer Gewerkschaft, weshalb der Abschluss eines GAVs «bei uns nicht im Vordergrund steht».

Bleibt also noch die Lohnfrage: Hier versucht die Kiosk AG den Spagat zwischen einer «finanzierbaren und einer rentabilitätsorientierten Gehaltspolitik», wie Tschopp meint.

«Damit können wir auch die Arbeitsplätze von eher kleinen Verkaufsstellen sichern.» In der Mehrzahl bezahle die Firma Monatslöhne über 3000 Franken und Stundenlöhne zwischen 16 und 20 Franken. Gehälter von 15 Franken oder weniger seien nicht die Regel.

Bis zum nächsten Jahr sollen nun auch die tiefsten Löhne höher werden. «Mit der nächsten Lohnrunde ab 2002», verspricht Michael Tschopp, «werden wir auch dieser Mitarbeiterkategorie einen Mindestlohn von 3000 Franken gewährleisten können.» Allerdings nicht netto, wie die Gewerkschaften fordern, sondern brutto.