Hätte er diesen Job nicht angenommen, wäre vielleicht alles ganz anders gekommen. Der Engländer Tim Haley, ein hoch qualifizierter Computerspezialist, wurde von der Schweizer Computerfirma BSI beinahe bekniet, an einem Projekt für Novartis mitzuarbeiten, für das genau seine Kenntnisse gefragt waren. Es ging um den Transfer von heiklen Daten von medizinischen Studien des Pharmakonzerns Novartis von einem Computersystem auf ein anderes. Dazu brauchte es jemanden, der Erfahrung mit so genannten SAS-Programmen für biomedizinische Statistiken hatte.

Haley schien der ideale Mann für das komplexe Unterfangen. Als freischaffender Experte hatte er schon für die Europäische Kommission und diverse grosse Pharmakonzerne sowie andere renommierte Unternehmen gearbeitet – auch für die Novartis-Vorgängerin Ciba-Geigy. Haley unterschrieb bei BSI einen sechsmonatigen Arbeitsvertrag und trat seinen Job beim Novartis-Projekt im November 2000 an.

Ungenügende Arbeitsbedingungen


Was Haley bei Jobbeginn antraf, schockierte ihn: «Es war das am schlechtesten gemanagte Projekt, das ich je sah.» Obwohl das Projekt unter grossem zeitlichem Druck stand, fehlte es am Nötigsten. So war er sechs Tage lang ohne Computer, hatte keinen Zugang zum Programm, und als er einen hatte, gab der Bildschirm den Geist auf. Ersatz fand sich wochenlang nicht im Weltkonzern Novartis.

Haley ist ein gründlicher und gewissenhafter Mensch. Er warnte, dass das Projekt in die falsche Richtung lief. Er wies darauf hin, dass die Projektleitung selbst erkannte Datenprobleme nicht ernst nahm und diese sogar dem Management gegenüber verschwieg. Er zeigte auf, dass bereits Daten beim Transfer korrumpiert wurden und dass die Gefahr bestand, enorme Datenmengen sowie Programme könnten verändert werden. Das hätte für die Hunderte von medizinischen Studien, die betroffen waren, eine Katastrophe bedeutet. Er schlug Alternativlösungen vor, die von der Projektleitung jedoch ignoriert wurden. Der Zeitdruck verbot Experimente. «Man bedeutete mir, ich solle die Klappe halten, als ich auf Probleme hinwies», sagt Haley.

«Dunkle Geheimnisse» offen gelegt


Die Firma BSI bot ihm trotzdem eine Festanstellung an, doch er zog damals den Status des Freelancers vor. Er zog aus dem Hotel aus, mietete eine Wohnung, richtete sich auf eine längere Zukunft in Basel ein. Seine Ehefrau Nadette kam aus Frankreich nach, vermietete dort ihr Haus und fand eine Anstellung als Sprachlehrerin an der staatlichen Orientierungsschule in Riehen. Noch schien die Welt der Haleys in Ordnung zu sein.

Im Januar 2001 lieferte er einen kritischen Bericht ab, der Schwachstellen des Projekts aufzeigte. Die von der Projektleitung angewandte Lösung hielt er für technisch unkorrekt und mit seinem ethisch-professionellen Verständnis unvereinbar. Der Bericht – und das erwies sich wohl als fatal – war über das Novartis-interne Netz für alle einsehbar, die ihn sehen wollten. «Nun waren die kleinen, dunklen Geheimnisse in der Novartis-Welt bekannt», sagt Haley. Jetzt änderte sich plötzlich der Ton ihm gegenüber. «Tim», habe seine Vorgesetzte gesagt, «wir brauchen schnelle Lösungen, und die hast du nicht gebracht.» Haley wurde zum Versager abgestempelt.

Nach der Hälfte seines sechsmonatigen Vertrags wurde er vom Projekt abgezogen, erhielt aber weiterhin seinen Lohn. Was er nicht gut gemacht haben soll, bekam er nie zu hören. Die Firma BSI stellte ihm sogar ein hervorragendes Zeugnis aus und attestierte ihm, er habe in kurzer Zeit ein überdurchschnittliches Pensum geleistet. Auch während der Recherchen des
Beobachters hat sich niemand negativ über Haleys Arbeit geäussert.

«Es gibt genügend SAS-Arbeit bei Novartis, aber nicht für Haley», bemerkte einst sein ehemaliger Projektleiter zynisch. Damals mass Haley dem Ausspruch keine Bedeutung bei. Er bewirbt sich anfänglich noch häufig bei Novartis, weil der Konzern auf seinem Fachgebiet faktisch eine Monopolstellung einnimmt. Allein im Frühling 2001 hatte Novartis über ein halbes Dutzend Positionen ausgeschrieben, auf die sein Profil passte. Doch bereits abgemachte Vorstellungstermine wurden plötzlich rückgängig gemacht.

«Unerfahren» oder «überqualifiziert»


Auch englische Stellenvermittlungsbüros, bei denen sich Haley gemeldet hatte, boten den Computerspezialisten der Novartis an. Doch entweder war er zu «unerfahren» oder «überqualifiziert». Alle Bewerbungsversuche scheiterten. Novartis nervte sich über die vielen Anfragen der Agenturen – insgesamt mehrere hundert – für Haley. «Ich werde seinen Lebenslauf nie mehr ansehen, es ist eine Zeitverschwendung», schrieb ein Personalverantwortlicher bei Novartis einer Agentur auf Anfrage zurück. Insgesamt bewarb er sich bei Novartis erfolglos für 20 Positionen.

Schliesslich will Haley endlich wissen, was Novartis gegen ihn hat. Er nimmt sich mit dem heutigen Basler Strafgerichtspräsidenten Lukas Faesch einen prominenten Anwalt. Doch als nach langem Hin und Her endlich mit dem Projektverantwortlichen im September 2001 ein Gespräch zustande kommt, wird er auf rüde Weise aus dem Büro komplimentiert. «Ich habe in meiner 20-jährigen Anwaltskarriere noch nie so etwas erlebt», sagt Faesch heute. Zu Fragen des Beobachters bezüglich Haley will Novartis auch heute noch keine Stellungnahme abgeben. Ganz allgemein lasse sich sagen, so Mediensprecher Bruno Hofer, dass niemand Anspruch auf eine Anstellung bei Novartis habe.

Haley bewirbt sich bei Firmen in halb Europa – ebenfalls ohne Erfolg. «Die Pharmaindustrie ist eine kleine Welt. Wenn jemand dort Referenzen einholt, stösst man unweigerlich auf den Fall Haley, was fast auf eine schwarze Liste hinausläuft», sagt der Geschäftsführer einer Firma, die immer wieder versucht hat, Haley zu vermitteln. Ab Mitte 2001 ist dieser arbeitslos.

Der 55-Jährige, der an der London School of Hygiene and Tropical Medicine den Doktortitel gemacht hat, den alle als intelligent, umgänglich und gewissenhaft schildern, der an der Universität London Dozent war und wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht hat, findet trotz allen Bemühungen keinen neuen Job. Sein Stempelgeld beträgt jetzt noch etwa einen Viertel von dem, was er bei BSI verdient hat. Immerhin hat seine Frau Nadette eine sichere Anstellung als Lehrerin an der Orientierungsschule in Riehen. Mit ihren zwei Unidiplomen wurde sie bei der Anstellung sogar als eher überqualifiziert bewertet.

Auch Haleys Frau wird arbeitslos


Doch völlig unerwartet spitzt sich die Situation zu: Die Stundenzahl von Haleys Ehefrau wird halbiert. Die finanziellen Probleme werden noch schlimmer, als der befristete Arbeitsvertrag von Nadette nicht mehr erneuert wird. Jetzt steht auch sie auf der Strasse. Da sie kein Schweizer Diplom habe, sei sie zu wenig qualifiziert gewesen, habe man ihr laut Haley bedeutet. Sie sei zudem kritisiert worden, weil das Kind eines Mitglieds der Schulpflege den Übertritt ins Gymnasium nicht geschafft habe.

«Personalentscheidungen sind von aussen oft nicht nachvollziehbar», lässt Liselotte Kurth, die damalige Rektorin, zu Nadettes Ausscheiden wissen. Im Übrigen könne der Hintergrund wegen des Persönlichkeitsschutzes nicht dargelegt werden.

Die Mittel der Haleys werden immer knapper. Einen Kinobesuch leisten sie sich nicht einmal mehr am verbilligten Montagabend. Oft geht Haley zu Fuss, um sich das Trambillett zu sparen. Das letzte Geld brauchen sie, damit Haleys Sohn aus England für ein paar Tage in die Schweiz kommen kann. «Das brachte das Fass zum Überlaufen», sagt er.

Nach der Niederschrift von fünf Abschiedsbriefen begibt sich Nadette am 20. August 2003 um vier Uhr nachmittags zum Fabrikgelände St. Johann der Novartis. Dort übergiesst sie sich mit Benzin und zündet sich an. Zwei zufällig anwesende kanadische Touristen versuchen, die lichterloh brennende Frau zu löschen. Auch Novartis-Leute sind rasch am Ort des Geschehens. Doch jede Hilfe kommt zu spät. Nadette wird zuerst ins Kantonsspital Basel, dann ins Universitätsspital Zürich gebracht, wo sie trotz der Hilfe von einem Dutzend Ärzten noch in derselben Nacht stirbt. Basel – sagt Tim Haley – war die Stadt, die sie als ihre Heimat bezeichnet hat. In den Medien erschienen kurze Berichte über Nadettes Tod. In Unkenntnis der persönlichen Umstände liess die Staatsanwaltschaft – die sonst Suizide nicht kommentiert – verlauten, die Frau habe keinen Bezug zu Novartis gehabt.

«Meine Situation», schreibt Haley Wochen später, «ist verzweifelter denn je – keine Freunde, keine Ehefrau, weder einen Job noch die Aussicht auf eine Stelle.»

Im Herbst 2003 läuft seine Arbeitslosenunterstützung aus. Er muss nun von der wesentlich bescheideneren Sozialhilfe leben; er sucht sich eine Bleibe für maximal 600 Franken. Es bleiben ihm monatlich noch 1000 Franken. «Ich habe in meinen 17 Jahren bei der Sozialhilfe», sagt Haleys Betreuer, «noch nie einen so dramatischen Fall gesehen, noch nie jemanden, der so schnell in eine Abwärtsspirale geraten ist.»

Gegenwärtig verbessert Haley seine Deutschkenntnisse, geht in eine Laufbahnberatung – doch Perspektiven zeichnen sich nicht ab. Innert kurzer Zeit ist Haley vom gefragten Spezialisten zum Sozialfall geworden; am scheinbar unaufhaltsamen Niedergang dürfte seine Frau verzweifelt sein. Bei Novartis bedauert man in einer Stellungnahme «den Zwischenfall», der zum Tod von Nadette Haley geführt hat, «ausserordentlich».