Im Dezember 2008 musste Margrit Holinger schweren Herzens ihren Job aufgeben. Die Arbeit erledigte sie zwar gern, aber die Rechnung ging nicht mehr auf – genau genommen war sie von Anfang an nicht aufgegangen. Die 52-Jährige musste bei Firmenkunden in Solothurn Pakete abholen, Postbriefkästen leeren und Briefe und Pakete von Poststellen auf dem Land ins nächste Zentrum transportieren. An ihrem eigens für diese Aufgaben geleasten Lieferwagen hatte sie ein Schild montiert mit der Aufschrift «unterwegs für die Post».

Für ihre täglich vierstündige Tour wurde die Frau von der Transportfirma A. Greub GmbH mit 100 Franken entschädigt. Mit diesem Geld musste sie erst mal alles selbst bezahlen: Leasingrate, Versicherung, Motorfahrzeugsteuer, Benzin. Gemäss dem Schweizerischen Nutzfahrzeugverband Astag schlagen diese Kosten bei einem Lieferwagen mit mindestens einem Franken pro Kilometer zu Buche. Macht bei einer Tour à 45 Kilometer Fixkosten von 45 Franken, womit für Margrit Holinger noch 55 Franken blieben. Macht pro Stunde einen Hungerlohn von Fr. 13.75. Brutto. «Ich wollte lange nicht wahrhaben, dass ich so mies bezahlt war, weil mir die Arbeit dermassen gefiel», sagt sie.

Die Medienstelle der Post schreibt dazu lapidar: «Die Firma Greub arbeitet nicht im direkten Auftragsverhältnis der Post.» Da ist jemand «unterwegs für die Post» ohne direkten Auftrag des gelben Riesen?

Beauftragte Firmen nicht kontrolliert

Tatsächlich hat die Post in der Region Solothurn der Eichenberger Transport GmbH verschiedene Touren übergeben. Diese wiederum gab die Postaufträge mindestens teilweise an Drittfirmen weiter. Im Fall von Margrit Holinger war offenbar eine ganze Reihe von Transportbetrieben involviert, doch wer alles von dieser Auftragskette profitierte, an deren Ende Holinger stand, blieb selbst für sie bis zuletzt völlig undurchsichtig.

Weder die Transportfirmen Greub und Eichenberger noch die Post mochten gegenüber dem Beobachter zur Klärung beitragen. Letztere betont lieber, dass sie als sozialverantwortliche Arbeitgeberin keine Missstände bei Partnern und Subunternehmern dulde – bloss kontrolliert sie die Arbeitsbedingungen dort nicht. Es gilt die Selbstdeklaration zur «Einhaltung branchenüblicher Arbeitsbedingungen». «Sollten tatsächlich solche Einzelfälle vorkommen, so sind wir bereit, diese Fälle mit den Betroffenen einvernehmlich zu regeln», verspricht die Medienstelle.

Einzelfälle? Tatsächlich profitieren Festangestellte, die direkt von der Post beschäftigt werden, von einem Gesamtarbeitsvertrag (GAV) mit garantiertem Minimallohn und Sozialleistungen. Doch die Zahl der Beschäftigten, die nicht mehr direkt für den gelben Riesen arbeitet, wächst. So hat die Post etliche Transportfirmen übernommen und sich an Verteilerorganisationen beteiligt. Wer dort beschäftigt ist, profitiert nicht vom Post-GAV. Auf wie viele Angestellte das zutrifft, scheint aber nicht einmal die Post selbst zu wissen: «Eine Angabe dieser Beschäftigtenzahl ist nicht möglich», heisst es.

Hintergrund dieser Entwicklung ist der schrittweise Abbau des Postmonopols. Der Bundesbetrieb wird immer stärker privater Konkurrenz ausgesetzt. Ab diesem Sommer erlaubt der Bundesrat den Privaten bereits, Briefe ab 50 Gramm zu befördern; bis jetzt galt eine Limite von 100 Gramm. Der verschärfte Wettbewerb wird vor allem über den Preis geführt, da sind hohe Personalkosten ein Nachteil. Die Post selbst schreibt dazu in ihrem Jahresbericht: «Wenn im Zuge der Marktöffnung die Arbeitsbedingungen der Konkurrenz weniger gut sind, gefährdet dies auf längere Sicht unsere Konkurrenzfähigkeit.» Im Klartext wird damit eine Anpassung nach unten in den Raum gestellt.

Nationalrat und SP-Präsident Christian Levrat, bis letzten Sommer Präsident der Gewerkschaft Kommunikation, weiss, wie die Post um jeden Preis ihre Kosten zu senken versucht: «Die Post trimmt sich auf dem Buckel der Angestellten fit für den Wettbewerb.» Um noch rentabler zu werden, umgehe sie immer wieder den Gesamtarbeitsvertrag. «Chefs in den Regionen treffen manchmal unglaubliche Massnahmen und werden von der Zentrale daran auch nicht gehindert.»

Den Gesamtarbeitsvertrag umgehen

Bereits heute ist nicht immer Post drin, wenn «Post» draufsteht. Beispiel Briefkästen: Seit letztem Herbst werden in Basel die Post-Briefkästen nicht mehr von Angestellten des Bundesbetriebs geleert, sondern billiger von solchen der Firma Direct Mail Company, an der sich die Post beteiligt hat. Seit Anfang dieser Woche passiert dasselbe auch in der Stadt Bern: Dort sind Mitarbeiter der Firma Bevo am Werk, die die Post kürzlich vollständig übernommen hat. Auch hier scheint der Konzern die Gesamtentwicklung aus den Augen verloren zu haben: «Eine Übersicht, wo solche Arbeiten durch welche Drittfirmen ausgeführt werden, gibt es zentral nicht», meldet die Medienstelle.

Selbst beim Zustelldienst, der klassischen Pöstlerarbeit schlechthin, nutzt die Post Schlupflöcher. Dort werden vermehrt billigere Temporärkräfte eingesetzt. Aktuell in Zürich, Bern oder Aarau. Allein in der Region Aarau beschäftigte die Post bis letztes Jahr mehr als ein Dutzend Temporäre systematisch über Monate, ja sogar Jahre hinweg. Erst als die Gewerkschaft intervenierte, wurden sie grösstenteils fest angestellt. «Dabei gibt es im Zustellbereich aufgrund der fixen Tourenplanung kaum Schwankungen und schon gar keine überraschenden Spitzenbelastungen», sagt Peter Spichtig, Regionalsekretär der Gewerkschaft Kommunikation. «Wenn die Post selbst hier ohne nachvollziehbare Begründung Temporäre einsetzt, kann es ihr nur darum gehen, den GAV zu umgehen und auf Kosten des Personals zu sparen.»

Im April wird Michel Kunz die Nachfolge von Ulrich Gygi als Post-Chef antreten. Als bisheriger Leiter der Bereiche PostMail und PostLogistics ist er mitverantwortlich für die geschilderte Entwicklung. Der Beobachter wollte deshalb wissen, was er zu Fällen wie jenem von Holinger sagt, die zum Stundenlohn von weniger als 14 Franken für die Post unterwegs war. An Kunz’ Stelle antwortet die Medienabteilung: «Wir haben sicher nicht die Absicht, unsere Partner ungerecht zu entschädigen.» Hehre Absichten. Doch davon und von ihrem Hungerlohn werden Kuriere wie Margrit Holinger nicht satt.