Es ist Mitte August 2007. In eineinhalb Monaten zieht das Stammzell-Labor in den neuen Trakt des Berner Inselspitals um. Das zukünftige Labor ist ein kahler Raum. Claudio Brunold stellt sich unter das Fenster in der Decke, legt den Kopf in den Nacken und verharrt in dieser Position. Bald ist das hier sein neuer Arbeitsplatz. Der biomedizinische Analytiker ist im Stammzell-Labor angestellt. Er verarbeitet das Blut von Krebspatienten, in einem stundenlangen Prozess separiert er die Stammzellen vom Rest des Blutes, sammelt sie, friert sie ein. Wenn der Krebspatient die Chemotherapie hinter sich hat, taut Brunold die Zellen wieder auf. Der Patient braucht sie, um nach der Therapie wieder eigenes Blut bilden zu können.

Endlich regt sich Brunold, langsam bewegt er seinen Kopf hin und her, sagt: «Ich fühle mich wie in einem Kellerloch. Schauen Sie sich doch mal um.» Hier meldet sich zum ersten Mal das Gefühl - und es wird einen begleiten bei allen weiteren Treffen mit diesem Mann, der beim Denken gern sein Kinn reibt oder es mit der Hand abstützt: ein Gefühl von Irritation. Weil da ein Mensch ist, der die Realität ganz anders wahrnimmt als man selbst. Weil man keinen Keller sieht, auch wenn man sich noch so anstrengt. Wir stehen im obersten Stock des Neubaus. «Es ist nicht beseelt», sagt Brunold. Dazu lacht er, und irgendwie klingt das Lachen bekümmert und überheblich zugleich. Am 25. September ist der Umzugstag. Bis dahin möchte man eine Antwort auf die Fragen, warum jemand einen Keller sieht, wo gar kein Keller ist, und warum eine Seele so wichtig ist für den eigenen Arbeitsplatz.

Zurück am alten Arbeitsort im Kinderspital, wo das Stammzell-Labor jahrelang untergebracht war. Fenster statt Wände, Sonnenlicht, in der Ferne sieht man die Alpen. Das kleine Team macht Kaffeepause im alten Büro von Claudio Brunold. Mir gegenüber sitzen drei Menschen, die sich ähnlich sehen. Grosse, weiche Körper und weiche Hände, die Rechte hält eine Tasse, die Linke ein Schmelzbrötchen, offene, gutmütige Gesichter, eine behütete Welt. Diese Welt ist bedroht. Weil der Tisch, auf dem die Tüte mit den Schmelzbrötchen liegt und der schon fast wie ein alter Bekannter ist, zurückgelassen werden muss. Weil die Stühle, die man liebgewonnen hat, nicht mitkommen. Wieder diese Irritation. «Wir verlieren viel», sagt Brunold. Eine der beiden Frauen sagt: «Es ist, als müssten wir unser nettes Häuschen im Grünen verlassen und in einen Block ziehen, in dem alles modern und leblos ist. Weil unser Häuschen plattgewalzt wird.» Bei diesen Worten entsteht vor dem inneren Auge ein Bild, das nicht hierherpasst: eine Gruppe Vertriebener, die ihre Heimat verloren haben. Das Bild klingt wieder ab. Zurück bleibt die Idee, dass die Überheblichkeit in Brunolds Lachen vorhin vielleicht mit Ohnmacht zu tun hat.

Eine Frau sieht die Mauern fallen
Anfang September 2007. Diesmal steht Esther Hofmann im vierten Stock des neuen Spitaltraktes. Die Stimmung ist ganz anders als damals mit Claudio Brunold, fast fröhlich. Das liegt an Esther Hofmann. Sie lacht, und das Lachen ist ein Strahlen, mit einer Spur Verwegenheit. Die ehemalige Cheflaborantin leitet das Projekt «Zentrum für Labormedizin»: Drei Institute, die über das Spitalareal verstreut liegen, sollen hier oben im vierten Stock des Neubaus zusammengeführt werden, die Immunologie, die Klinische Chemie und das Hämatologische Zentrallabor, zu dem auch das Stammzell-Labor gehört: 120 Menschen. Sie werden in Grossraumbüros und Grossraumlabors arbeiten - und sich in einer Begegnungszone erholen, in der wir jetzt stehen und die so steril wirkt wie die Schalterhalle einer Bank. Esther Hofmann dreht sich langsam im Kreis, als würde sie auf einem Berg stehen und die Aussicht geniessen. Sie sagt: «Es ist wunderschön hier.» Sie hat eine Vision: Die Begegnungszone ist wie eine Gasse in Paris, mit Strassencafés, belebt, Menschen sitzen zusammen an Tischen. Hofmann sieht die Mauern fallen, die Mauern in den Köpfen, die schuld sind, dass zwischen den Instituten bisher kein Austausch stattfand. «Wir alle werden gewinnen», sagt sie. Die Arbeit werde spannender, weil man nun auch vom Wissen der anderen profitieren könne.

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Prunkstück: Der Neubau des Inselspitals kostet über eine Viertelmilliarde Franken.


Alles eine Frage der Perspektive
Ein neuer Arbeitsplatz, zwei Bilder: ein Keller und eine Gasse in Paris. Wie kann es sein, dass die einen auf den bevorstehenden Umzug mit Angst und schlimmen Vorahnungen reagieren, während die anderen voller Abenteuerlust auf die Zukunft zumarschieren? Vielleicht ist es eine Frage der Frosch- und der Vogelperspektive. Ohnmacht und Überblick. Claudio Brunold wird mit fertigen Tatsachen konfrontiert, die er akzeptieren muss. Mitspracherecht besteht höchstens auf technischer Ebene. Esther Hofmann, die Projektleiterin, ist von Anfang an in den Entstehungsprozess des neuen Trakts involviert. Seit 1995 der Grosse Rat des Kantons Bern den Kredit von 215 Millionen Franken für den Neubau abgesegnet hat. Das teuerste Hochbauprojekt, das der Kanton je in Angriff genommen hat. Als 2002 die Arbeiten gestoppt wurden, weil die Kosten für den Innenausbau den Kredit massiv überschritten hätten, sass sie an der Quelle der Information, während ihm nur das wenige blieb, das durchsickerte. Und als dann 2005 doch weitergebaut wurde, nach politischen Turbulenzen, in deren Verlauf der Grosse Rat einen Nachkredit von fast 50 Millionen Franken bewilligte, war das für Hofmann Kontinuität. Für Brunold war es ein Wechselbad der Gefühle.

Seit 2006 laufen die Vorbereitungen für den Umzug, der allein eine Million Franken kostet. 37 externe Firmen sind daran beteiligt. Insgesamt müssen 800 Angestellte gezügelt, 3'500 Umzugskisten gepackt und ausgepackt, Geräte im Wert von 85 Millionen Franken montiert werden - ein Mammutprojekt, und mittendrin Claudio Brunold, der sagt: «Wissen Sie, wir haben Angst, von der grossen Masse geschluckt zu werden.»

Frische Luft schmeckt besser
Mitte September 2007: Heute findet die Einweisung in das neue Gebäude statt, obligatorisch für alle Angestellten. Ein fensterloser Raum, ungefähr 30 Männer und Frauen in weissen Kitteln sitzen in Stuhlreihen. Claudio Brunold sitzt mit rundem Rücken da, reglos, nur hin und wieder bewegt sich der Unterkiefer. Eigentlich geht es um Sicherheitsfragen, um Fluchtwege. Claudio Brunold will wissen, ob man in den Grossraumbüros die Fenster öffnen darf. Der Mann, der vorne steht und referiert, schüttelt den Kopf. Keine Sorge, die Luft aus dem Lüftungssystem sei perfekt «vorkonfektioniert». Er habe die Luft von draussen aber lieber, sagt Brunold. Nein, die Fenster müssten zu bleiben, sonst kollabiere das Lüftungssystem.

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Gewinn und Verlust liegen manchmal eng beieinander: Esther Hofmann und Claudio Brunold (beide in weissen Kitteln) bei der Abnahme des neuen Büros.


Nach der Einweisung geht Claudio Brunold mit schweren Schritten durch den Verbindungsgang, der vom Neubau zurück in den alten Teil des Spitals führt, 20 Meter Niemandsland, wie ein Grenzübergang. Er schweigt, wirkt wütend. Sobald er in seinem alten Büro auf einem knarrenden Holzstuhl Platz genommen hat, legt er los: «Der Mensch bleibt auf der Strecke. Er ist nur noch eine Nummer.» Die zwei Kolleginnen nicken. Alles erinnert an unser erstes Treffen: Kaffeeduft, statt Schmelzbrötchen steht eine Schachtel mit Pralinen auf dem Tisch. Die Gemütlichkeit wirkt trotzig. Und wieder kommt Brunold mit der Seele, die am neuen Ort einfach nicht vorhanden sei. Die Seele sei doch das Wichtigste. Was heisst hier Seele? Wie kann ein Raum eine Seele haben? Claudio Brunold grinst so breit, dass die Furche in seinem Kinn verschwindet. Der Versuch zu verstehen, was er mit dem Wort Seele meint, belustigt ihn. Nein, der Computer sei nicht gemeint, der werde ja mitgezügelt. Ebenso die weissen Kittel, die Glasvitrinen, die Teamkollegen. Was dann? Brunold reibt sich übers Kinn, es dauert lange, bis er leise antwortet: «Der Tisch. Die alten Holzstühle. Die eigene Kaffeemaschine. Die Aussicht auf die Alpen. Das Sonnenlicht.» Die jüngere Kollegin unterbricht ihn. Die Kaffeemaschine werde sie mitnehmen.

Haben wir Menschen etwa ein Grundbedürfnis nach Protest? Und müssen wir, wenn wir im Grossen übergangen werden, uns halt im Kleinen verweigern, einfach um zu spüren: Wir haben auch noch etwas zu melden? Widerstand sieht dann so aus, dass die Kaffeemaschine in der Gemeinschaftsküche verschmäht wird.

Die Seele liegt in der Kaffeemaschine, der topmoderne Arbeitsplatz im obersten Stock ist ein Kellerloch, der Umzug fühlt sich an wie eine Vertreibung - Oliver Strohm soll helfen, diese Bruchstücke von Stimmungen und Gefühlen zu einem sinnvollen Bild zusammenzufügen. Er leitet das Institut für Arbeitsforschung und Organisationsberatung in Zürich und begleitet die Entstehung des Zentrums für Labormedizin im neuen Spitaltrakt als externer Berater. Zu seinen Forschungsgebieten gehört auch, wie Mitarbeiter auf tiefgreifende Umbrüche im Unternehmen reagieren. Strohm ist ein hagerer Mann, der lieber im Tea-Room als im engen, überfüllten Büro über seine Arbeit spricht. Er bestellt ein Mineralwasser und beginnt zu erzählen. Beim Zuhören hat man das Gefühl, da sitzt ein Biologe, der eine eigenartige Gattung entdeckt hat: den Mitarbeitenden. Der Mitarbeitende ist häufig ein konservatives Wesen ohne Bedürfnis, seine Gewohnheiten zu verändern. Der alte Arbeitsplatz ist für ihn wie ein persönliches «Reich». Ein Umzug löst beim Mitarbeitenden Ängste und Widerstände aus, weil er den Wechsel teilweise wie eine Vertreibung aus seinem Territorium empfindet. Er bangt um Status und um seine Hoheiten.

Der Mitarbeitende hat ein starkes Kontrollbedürfnis. Den Umzug empfindet er als Kontrollverlust, umso bedrohlicher, je weniger Einflussmöglichkeiten er hat. Schwierig wird es, wenn sich die Umbruchsphase, wie im Inselspital, über mehrere Jahre hinzieht. Oliver Strohm hält kurz inne, bevor er sagt: «Im Inselspital dauert die Planung und Realisierung des Umzugs sehr lange. Niemand kann sich auf eine Zukunft vorbereiten, die vielleicht kommt in drei Jahren, vielleicht aber auch nicht.»

Nicht alle können Fahnenträger sein
Irgendwie versteht man Claudio Brunold nun besser. Wer sich vorstellt, sein Reich mit allen Hoheitsrechten, seine Macht und seine Autonomie zu verlieren, dem bleibt als Bild vielleicht wirklich nur ein Kellerloch. Oliver Strohm spielt mit dem leeren Wasserglas und sagt, dass es bei jedem grossen Umzug eines Unternehmens welche gebe, die sich querlegten, sehr kritisch seien. Immer 10 bis 20 Prozent aller Angestellten. Gleich gross sei die Gruppe der Fahnenträger, der Pioniere, das andere Extrem. Letztlich sei es auch ganz einfach eine Frage der Grundhaltung, ob man Pessimist oder Optimist sei.

Warum ist die Seele für den Arbeitsplatz so wichtig? Der Wissenschaftler greift sich ins Haar, streicht es sich aus der Stirn, ringt nach einer Erklärung. Der neue Trakt koste über 250 Millionen Franken. Der Angestellte sage sich, dass dafür irgendwo anders gespart werden müsse, und zwar bei ihm, bei seiner Arbeit. «Die Angst vor der Rationalisierung, vor mehr Druck ist permanent da», sagt Strohm. Plötzlich passt auch Brunolds Kaffeemaschine ins Bild. Was im Berufsalltag strahlt mehr Menschlichkeit aus als eine gemütliche Kaffeerunde mit Schmelzbrötchen?

Am besten gar nicht dran denken
25. September 2007: Das Team des Stammzell-Labors zügelt die zwei je 600 Kilo schweren Stickstofftanks, in denen Stammzellen von Krebspatienten bei einer Temperatur von minus 150 Grad lagern. Es ist halb sieben Uhr morgens, in den verwinkelten Gängen des alten Stammzell-Labors herrscht Hochbetrieb. Zwei Männer vom technischen Dienst montieren Türen ab, damit die Tanks durchpassen. In Brunolds altem Büro wartet das Team auf die Zügelleute und den Vertreter des Tankherstellers. Die Stimmung ist angespannt, der Kaffee fehlt auch diesmal nicht, dazu ein Teller mit Marzipan. Auf Brunolds Stirn bilden sich laufend neue Schweisstropfen, die er sich immer wieder abwischt. Am besten denke er gar nicht darüber nach, dass das heute der letzte Tag sei an seinem vertrauten Arbeitsplatz, sagt er. Er versuche, den Umzug wie einen Auftrag zu sehen. «Wie wenn ich eine Blutuntersuchung machen muss.» Sein Gesichtsausdruck ist besorgt, die Brauen hat er zu einem einzigen dicken Schwulst zusammengezogen.

Vor zwei Tagen blickte Brunold bereits einmal so drein, als er auf seinem Holzstuhl sass, die grossen Hände rieb und meinte, der 25. September sei ein Tag, an dem es um Leben und Tod gehe. Er könne nicht mehr richtig schlafen, weil er sich ständig frage, wie er die Stammzellen heil in den neuen Trakt bringe. Für viele Krebspatienten seien die Stammzellen die letzte Hoffnung. Jede Erschütterung könne die Isolationsschicht in den Tanks zerstören. Das sei eine Gefahr für die Zellen.

Doch die Sorge war umsonst. An jenem 25. September, dem Tag, an dem es um Leben und Tod ging, zieht und schiebt ein Trupp von ungefähr zehn Leuten die riesigen Tanks durch unterirdische Gänge, die Aktion wirkt wie ein abenteuerlicher Schulausflug, auch weil Brunold die ganze Zeit Bemerkungen macht, die alle zum Lachen bringen. Das sei ja wie Migroswägelifahren. Peanuts. Ob jemand einen Strassenplan dabei habe, er glaube, man habe sich verlaufen. Einem Mann, der uns auf dem Weg begegnet, ruft er zu, in den Tanks sei die Sorbet-Glace aus der Spitalküche. Der Übermut kommt so plötzlich über ihn, als sei ein grosses Gewicht von ihm abgefallen, und die Stimmung schnellt nun in die Höhe. Nichts mehr da von jenem grimmigen, bekümmerten Claudio Brunold der letzten Wochen. Kann untätiges Abwarten so schwer wiegen?

War alles nur Theater?
Anfang Oktober 2007: Alle Abteilungen sind inzwischen in den vierten Stock des Neubaus gezügelt, 120 Menschen, die irgendwo hier oben sein müssen. Trotzdem sind die Gänge leer, die Stille lässt einen die Schritte beschleunigen. An den bleichen Wänden der Begegnungszone hängen Aquarelle: Strassenszenen. Die abgebildeten Menschen werfen lange Schatten. Das Zentrum für Labormedizin ist endlich Realität. Drei Institute sind räumlich zusammengewachsen. Aber auch kulturell? Immerhin wurden neue Führungsstrukturen entwickelt, mit dem Ziel, die Zusammenarbeit und Durchlässigkeit zu fördern. Esther Hofmann sitzt im Management. Ihr Empfang ist herzlich, der Händedruck fest und warm. Vor kurzem hatte sie in einer Mail die neue Situation geschildert und unter anderem folgende Sätze geschrieben: «Man sieht nicht häufig Mitarbeitende der verschiedenen Institute zusammen sprechen», und: «Die Zusammenarbeit im Führungskreis ist als vorsichtig optimistisch zu bezeichnen.» Jetzt erklärt sie, spricht von starren, antiken Hierarchien und von den Ängsten der Professoren vor Machtverlust. Die grossen Schritte seien wohl erst in ein paar Jahren möglich. Jetzt ist Esther Hofmann an der Reihe mit Abwarten.

Bei Claudio Brunold steht tatsächlich die kleine Kaffeemaschine im Regal hinterm Schreibtisch. Er ist gut gelaunt, während unseres Gesprächs stoppt er plötzlich mitten im Satz, schaut mich an und sagt: «Hier ist es gar nicht so schlimm. Was haben wir bloss für ein Riesentheater gemacht? Eigentlich für nichts.» Wirklich für nichts? Bot das Riesentheater nicht auch die Möglichkeit, sich auseinanderzusetzen mit der neuen Zukunft, indem man sich das Schlimmste vorstellte und Szenen daraus durchspielte, als wären sie Realität?

Zweite Woche November 2007: «Ich fühle mich wie in einem grossen Einkaufszentrum nach Ladenschluss, leere Gänge, künstliches Licht», sagt Claudio Brunold, die Begegnungszone rauf- und runterblickend. Er sagt es mit einem Schmunzeln, in einem selbstironischen Ton. Kellerloch, Einkaufszentrum - was wird wohl das nächste Bild sein?