Maria F. (Name der Redaktion bekannt) fiel aus allen Wolken, als sie Anfang Oktober den Einschreibebrief der AHV-Ausgleichskasse des Kantons Zürich öffnete: Auf ein paar knappen Zeilen in kompliziertem Juristendeutsch eröffnete ihr die Behörde, sie habe «mit beiliegendem Einzahlungsschein den Betrag von Fr. 96'179.75» zu überweisen, und zwar «innert 30 Tagen».

Leider war der Brief entgegen ihrer Hoffnung kein Versehen, sondern bitterer Ernst. Ihr Fehler aus Behördensicht: Maria F. war Vizepräsidentin eines ehrenamtlich geführten Vereins, der eine Kinderkrippe betrieb. Zum Verhängnis wurde ihr, dass der Vereinspräsident mutmasslich Gelder veruntreut hatte. Nachdem der Verein pleite war, merkten die Behörden, dass für das halbe Dutzend Beschäftigte jahrelang keine Sozialversicherungs- und AHV-Beiträge bezahlt worden waren. Darum bitten sie nun Maria F. sowie vier weitere ehemalige Vorstandsmitglieder zur Kasse.

«Als Vizepräsidentin hatte ich nie etwas mit Geldangelegenheiten zu tun», erinnert sich die 48-jährige Maria F., berufstätige Mutter eines Sohnes. «Ich weiss nicht, wie ich hätte merken sollen, dass etwas schief läuft.» Sie verstand dies als soziales Engagement. Zudem lagen die Krippenräume gleich neben ihrer Wohnung, so konnte sie auch ihren damals Fünfjährigen dorthin schicken. Ein Pflichtenheft für die Vorstandsmitglieder gab es nicht. Als die Sache aufflog und sie vom Finanzmalaise erfuhr, war sie bereits seit über einem Jahr aus dem Verein ausgetreten.

Unschuld schwierig zu beweisen

Trotzdem haftet sie solidarisch mit den anderen Vorstandsmitgliedern, unabhängig von ihrer persönlichen Verantwortlichkeit. Eingeführt wurde diese persönliche Haftung von Vereins- respektive Unternehmensleitungen in der durchaus nachvollziehbaren Absicht, dass windige Unternehmer nicht einfach die Beschäftigten um ihre Sozialversicherungsprämien prellen können.

Davon betroffen sind aber auch ehrenamtlich tätige Vereinsmitglieder. «Das ist nicht der Sinn dieser Regelung. Zudem hat die Rechtsprechung diese Solidarhaftung ohne eindeutige gesetzliche Grundlage eingeführt, darum glaube ich, dass meine Einsprache gute Chancen hat», sagt Maria F.s Anwalt Stephan Bernard. Schliesslich habe seine Mandantin nicht grobfahrlässig gehandelt, vielmehr habe der damalige Vereinspräsident ohne Wissen der übrigen Vorstandsmitglieder und statutenwidrig Bankgeschäfte getätigt. Das Strafverfahren gegen ihn wegen Veruntreuung und Urkundenfälschung läuft noch.

«Dieses Risiko ist vielen Vereinsmitgliedern nicht bewusst», sagt der Zürcher Vereinsrechtsspezialist Urs Scherrer. Auch in Streitfällen um Nachforderungen der Mehrwertsteuer könnte der umstrittene Gesetzesartikel zum Risiko für Vereinsvorstände werden. Scherrer: «Und das Schlimme an dieser ‹Schocknorm› ist: Eine Absicherung dagegen ist kaum möglich. Wenn man betroffen ist, lässt sich meist nur noch über die Abzahlungsmodalitäten verhandeln.»

Zwischen 300 und 400 solche Schadenersatzforderungen pro Jahr stellt allein die Ausgleichskasse des Kantons Zürich, die meisten davon gegen juristische Personen (AGs, GmbHs). Vereinsorgane seien «sehr selten» betroffen, sagt Ausgleichskassenleiter Ruedi Pauli. Dann aber gilts ernst, denn noch kaum je konnte ein betroffenes Vereinsmitglied vor Gericht seine Unschuld beweisen.

«Alle tragen die Verantwortung»

So etwa beim EHC Kloten: Nachdem der Eishockeyverein im Jahr 2000 in Nachlassstundung ging, verlangte die AHV-Ausgleichskasse von sieben ehemaligen Vorstandsmitgliedern insgesamt mehr als eine halbe Million Franken. Die Sozialversicherungsbeiträge für Trainer und weitere Beschäftigte waren über Jahre hinweg nicht bezahlt worden. Alle Gerichte stützten dieses Vorgehen; in letzter Instanz befand das Eidgenössische Versicherungsgericht ausdrücklich, für die Haftungsfrage spiele es keine Rolle, ob ein Verein ehrenamtlich geführt werde oder nicht.

Der Leiter der Zürcher Ausgleichskasse findet es richtig, dass Vorstandsmitglieder von Vereinen für AHV-Schulden haften, denn «alle Vorstandsmitglieder tragen die gleiche Verantwortung». Ob sie ehrenamtlich tätig seien oder nicht, spiele keine Rolle, «sie müssen dafür sorgen, dass die AHV-Beiträge gesetzeskonform entrichtet werden». Für einen Vorstand gälten die gleichen Sorgfaltspflichten wie für den Verwaltungsrat einer Aktiengesellschaft.

Es gibt keine Schätzung, wie viele Vereine in der Schweiz Angestellte beschäftigen und damit potenziell von dieser Solidarhaftung betroffen sind, auf jeden Fall zählen Sportklubs und Krippen dazu. Fest steht aber, dass die immer wieder geäusserte Empfehlung in diesem Fall nichts nützt. Auch wenn in den Vereinsstatuten steht, dass eine Haftung der einzelnen Mitglieder über das Vereinsvermögen hinaus ausgeschlossen sei, pochen die Behörden auf die Solidarhaftung für Sozialversicherungsbeiträge. Ob dies auch für ehrenamtliche Vereinsvorstände gilt, lässt Maria F.s Anwalt jetzt von den Gerichten klären. Bis diese Frage entschieden ist, leidet Maria F. weiter: «Die Forderung von knapp 100'000 Franken ist das Letzte, woran ich abends vor dem Einschlafen denke, und das Erste, wenn ich wieder erwache.»