Er liegt in Halle vier, der eigentliche Scheiterhaufen aus blauen Übergewändern. Hans Rawe zieht einen der Arbeitskittel hervor und studiert die Pflegeetikette. Eingestickt der Name eines ehemaligen Kollegen: «Schreiber-CH», waschbar bei 95 Grad. Liquidationsware. Er legt den Kittel zurück, mag nicht nach weiteren Namen in der Kiste wühlen. Eine Hand voll Arbeiter schlendert durch die Halle. Ihre Blicke schweifen entlang den übrig gebliebenen Bohrern, Feilen, Kistchen des einstigen Stolzes der Schweizer Eisenbahnindustrie.

In besseren Zeiten hiess das Werk in Pratteln BL noch Schindler Waggonfabrik und beschäftigte bis zu 1000 Personen. Seither hat die Firma dreimal die Hand gewechselt. Bei jedem Besitzerwechsel hofften die Mitarbeiter, das Werk sei gerettet. Jetzt wird die Fabrik ihre Tore für immer schliessen. Die meisten Angestellten müssen ihren Arbeitsplatz Anfang April verlassen.

Beschlossen wurde die Werkschliessung auf der anderen Seite des Atlantiks, in Saint-Bruno, Kanada, dem Hauptsitz des Weltkonzerns Bombardier. Rund 500 Arbeitsplätze gehen in Pratteln verloren.

Rosige Zeiten wurden vorhergesagt



15 Jahre seines Lebens hat der Elektromonteur Hans Rawe in der Waggonfabrik Pratteln gekrampft, zuerst noch beim Elektrik-Zulieferer ABB. Inzwischen ist er 39-jährig, aufgestiegen zum Gruppenleiter Komponentenprüfung. Nach Pratteln kam er 1990, nachdem sein Arbeitgeber in Baden umstrukturiert hatte. Damals meldeten die Waggonbauer noch volle Auftragsbücher. Die Zeitungen schrieben über bevorstehende rosige Zeiten beim Eisenbahnhersteller.

Doch schon Mitte der neunziger Jahre fehlte es an Aufträgen. Die Werkangestellten absolvierten ein erstes Programm, damit die Firma schlanker werde. «Avanti» hiess es, genügend vorwärts brachte es die Firma aber nicht. 1997 verkaufte Schindler das Werk, das nie mehr als einen Zehntel zum Geschäftsergebnis beigetragen hatte, an Adtranz, eine Tochterfirma von DaimlerChrysler und ABB.

«Für den Standort Pratteln bedeutet dies eine klare Aufwertung. Wir sind für diesen Konzern sehr wichtig, weil wir unsere Stärken als Mechaniker und unser Know-how (…) einbringen können», Pieriono Piffaretti, Geschäftsleiter Schindler Waggon Pratteln, 4. September 1997.


Hans Rawe schreitet durch die Halle der Vormontage Rohrschlosserei. Noch vor wenigen Wochen bündelten hier ein Dutzend Arbeiter Leitungen und Rohre zum so genannten Rückenmark der Züge. Jetzt kontrollieren gerade noch drei Arbeiter still für sich auf ihren Werkbänken Klimaanlagen, die später auf dem Dach des letzten Neigezugs montiert werden. Zwischen den Werkbänken steht ein unförmiger Apparat. «Was machst du mit deiner Biegemaschine?», fragt Rawe. Sein Kollege zuckt mit den Schultern. Die werde wohl nach Villeneuve verschickt, meint er.

Dort steht noch ein Bombardier-Werk mit rund 160 Beschäftigten. Es ist vom Kahlschlag des kanadischen Konzerns bislang verschont geblieben. «Das Material kann man problemlos nach Villeneuve schicken, aber das Know-how, das bleibt in den Köpfen der Prattler Mitarbeiter», sagt Hans Rawe.

«Man ist eine Schachfigur»



An der Wand der Produktionshalle hängen Fotos vom letzten Betriebsausflug der Rohrschlosserei in die nahe gelegene Brauerei. Kaum eine der abgebildeten Personen arbeitet noch in der Firma. Nackte Fotokleber zeugen von den Abgängen. Als die Ersten gehen mussten, entfernte der Vorgesetzte noch deren Fotos, doch damit hat er aufgehört. Der Anblick würde ihn zu sehr schmerzen.

In den letzten Wochen haben sich schon viele endgültig verabschiedet. Die ersten Abgänger sprachen noch von ihren neuen Stellen, doch wer jetzt geht, hat meist nichts in Aussicht. «Am schwersten fällt mir der Abschied von Mitarbeitern, von denen ich immer wusste, wie es ihrer Frau und den Kindern geht», sagt Rawe. Er ist selbst vor sechs Monaten Vater geworden. Das belastet ihn, weil er als Familienvater gerne einmal eine sichere Stelle hätte. Doch es entlastet ihn auch, denn sein Sohn hilft ihm, sich abzulenken, damit er zu Hause nicht ständig über das nahe Ende des Werks grübeln muss. «Als Angestellter gehört man zu einer Masse, die von einem Konzern zum nächsten gereicht wird. Man ist eine Schachfigur», sagt Rawe.

Nachdem Schindler das Werk in Pratteln verkauft hatte, stieg ABB schon bald bei Adtranz aus. «Ab diesem Zeitpunkt wurden sehr viele Entscheide am Hauptsitz in Berlin getroffen», sagt Rawe. Damals musste er für eineinhalb Jahre nach Oerlikon in das dortige Lokmontagewerk pendeln.

«Wir waren so wütend»



Am 12. November 1999 verkündete ein Mitglied der deutschen Konzernleitung der versammelten Belegschaft in einer zweiminütigen Ansprache, das Werk werde geschlossen. «Da kam einer aus Berlin, mit dem wir vorher nie zu tun hatten, und verkündete kaltschnäuzig die Schliessung. Wir waren so wütend, dass wir schon am Nachmittag ein erstes Mal auf der Strasse demonstrierten», sagt Rawe.

«Ich bin vollkommen überzeugt, dass es uns gelingen wird, Druck zu machen. So etwas wie diesen Entscheid kann sich Adtranz nicht leisten», Erich Straumann, Volkswirtschaftsdirektor Baselland, am 16. November 1999.


Hans Rawe trug eine Fackel durch Pratteln, marschierte mit wehenden Fahnen durch Bern und machte seinem Unmut mit einer Trillerpfeife im Kantonshauptort Liestal Luft.

An dieser Demonstration forderte der damalige Gewerkschafter und heutige Regierungsrat Urs Wüthrich die Demonstranten auf, den Kampf um die Arbeitsplätze nicht aufzugeben. Das Parlament setzte eine Taskforce ein. Die Gewerkschaften riefen zum Widerstand auf, forderten aber vergeblich eine aktive Industriepolitik. Werkmitarbeiter und Gewerkschaften sammelten innert dreier Monate 27'000 Unterschriften für den Erhalt der Arbeitsplätze in Pratteln. SP-Nationalrätin Susanne Leutenegger Oberholzer stellte sich hinter die Forderungen der Belegschaft, nur den Bundesrat bat sie vergeblich um Unterstützung.

«Der Bundesrat ist über die Aufhebung von Arbeitsplätzen in der Industriebranche beunruhigt, geht jedoch nicht davon aus, dass der Industriestandort Schweiz ernsthaft bedroht ist»: Antwort des Bundesrats vom 24. März 2000 auf eine Anfrage von SP-Nationalrätin Susanne Leutenegger Oberholzer.

Das Werk schien gerettet



Nach Monaten zeigte der Widerstand schliesslich Wirkung. Die Schliessung konnte abgewendet werden dank einer neu gegründeten Auffanggesellschaft. Doch die Ereignisse überschlugen sich: Der kanadische Konzern Bombardier kaufte die Firma Adtranz inklusive der Auffanggesellschaft. Das Werk Pratteln erhielt den neuen Schriftzug «Bombardier», und der Konzern bekannte sich zum Werk. Die Schliessung schien vom Tisch zu sein.

«Bombardier hat die guten Aussichten der beiden Schweizer Werke realisiert», Alfred Ruckstuhl, Chef Bombardier Schweiz, am 14. November 2001.


Wieder wurde rationalisiert und umstrukturiert. Rawes Abteilung musste sich mit weniger Platz begnügen und deshalb den Zwei-Schichten-Betrieb einführen. Die erste Schicht begann um sechs Uhr morgens, die zweite endete um elf Uhr abends.

Doch die Ernüchterung kam schon bald nach der Übernahme. Bombardier zog zweimal hintereinander bei Grossaufträgen der SBB den Kürzeren. Der zweite Grossauftrag für 140 Fahrzeuge für die Zürcher S-Bahn ging an Siemens, die in der Schweiz kein Werk betreibt. Um die verlangten 42 Prozent Schweizer Produktion dennoch erfüllen zu können, holte sich der deutsche Konzern die Ostschweizer Firma Stadler Rail an Bord. Stadler-Chef und SVP-Nationalrat Peter Spuhler machte keinen Hehl daraus, dass er gerne den ganzen Auftrag in die Schweiz geholt hätte. Obwohl Bombardier Schweiz gerne mit seiner Firma offeriert hätte, seien die Verantwortlichen in Kanada gegen ein solches Konsortium gewesen.

Weltweit 6600 Stellen gestrichen



Ohne diese Aufträge begann dem Werk Pratteln die Arbeit auszugehen. Der zweite Schliessungsentscheid innert fünf Jahren kam für die Arbeiter deshalb nicht mehr überraschend. Am 17. März 2004 kündigt Bombardier an, wegen Überkapazitäten weltweit jeden fünften Arbeitsplatz im Schienenverkehrsgeschäft zu streichen: 6600 Stellen verschwinden, sieben Produktionsstandorte werden geschlossen – auch Pratteln.

Das Baselbieter Kantonsparlament rief noch einmal eine Taskforce ins Leben. Doch die Chancen, das Werk zu retten, waren viel schlechter als 1999. Grössere Inlandaufträge waren keine mehr in Sicht, und Bombardier stellte bald klar, dass der Konzern als Mieter des Prattler Geländes bis 2007 nie Hand bieten werde, um auf dem Areal Konkurrenz anzusiedeln.

Hans Rawe geht vorbei am Anschlagbrett, die neuste Liste mahnt an die Ziele von letztem Jahr: «Keine Fehler aus der Produktion bei der Fahrzeugübergabe an die Kunden. 100-prozentige Termineinhaltung. Entwicklung der Austauschbarkeit aller Mitarbeiter zwischen den Montageabteilungen.»

Daneben hängt eine Liste mit 33 ausgeschriebenen Stellen, die von Ende Dezember datiert. Gesucht wird ein gelernter Mechaniker in Winterthur, ein Fertigungslogistiker in Pratteln. Rawe hatte Glück, er kann wie 100 seiner Kollegen beim Konzern bleiben und in einem Servicepool für Unterhaltsarbeiten arbeiten.

Die Zahl der Beschäftigten in der Rollmaterialindustrie in der Schweiz ist gemäss einer Studie des Verkehrsplanungsbüros Metron zwischen 1998 und 2001 um einen Drittel zurückgegangen. Die Waggonbauer sind Teil einer grossen Entwicklung: Die Schweiz wandelt sich von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. Verglichen mit 1991 finden heute 300000 Menschen weniger Arbeit im industriellen Sektor.

Alles ist aufgeräumt, besenrein



In der Produktionsstrasse steht Wagen A06.20. Nach einer über 60-jährigen Firmengeschichte der letzte Intercity-Neigezug-Wagen, den die SBB bestellt haben. Arbeiter dichten den Personenübergang des einzigen Wagens in der 100 Meter langen Halle ab. Der Wagen riecht wie ein neues Auto. Ein Arbeiter jagt Druckluft aus der Pistole. Einer pfeift etwas zu laut. Es hallt jetzt ausgezeichnet inmitten der ausgeräumten Halle. Zwei Kollegen wollen sich von der betonten Lässigkeit nicht anstecken lassen. Sie sitzen ausser Hörweite verloren an einem Tischchen. Alles ist aufgeräumt, besenrein, vor dem Kaffeeautomaten stehen sich die Arbeiter die Beine in den Bauch.

Hans Rawe durchquert die kalte Halle zügig, kehrt zurück in sein Büro. Feierabend. Er streift seine Arbeitskleider ab. Er weiss, dass auch er schon bald seine Warnweste auf den Haufen zu all den anderen Übergewändern legen wird, in Halle vier, in eine Kiste aus Holz. «Rawe-CH», waschbar bei 95 Grad.