Nie hätte ich gedacht, dass es einmal mich treffen würde», sagt Max Gerber, 60. «Ich hatte ein gutes Leben, und plötzlich ist alles fertig – man ist ein Sozialfall.» Der Ingenieur HTL blickt auf eine erfolgreiche Karriere zurück. Doch seit der Rückkehr aus Südafrika vor zwei Jahren ist er arbeitslos. 300-mal hat er sich beworben. Er war sich auch nicht zu schade, sich um einen Job als Autoverkäufer zu bemühen – ohne Erfolg. Seit Ende Mai ist er ausgesteuert. «Es gibt einfach zu wenig Arbeitsplätze», sagt Gerber resigniert.

Letztes Jahr wurden schweizweit 14'511 Menschen ausgesteuert; 2003 werden es noch mehr sein. Denn seit Mitte Jahr gesteht das revidierte Arbeitslosengesetz unter 55-Jährigen nur noch 400 statt wie bisher 520 Arbeitslosentaggelder zu. Auf einen Schlag verloren so im Juli 2700 Menschen ihren Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung.

«Die Verkürzung der Bezugsdauer kam im falschen Moment», sagt der Basler Wirtschaftsprofessor George Sheldon – einer der geistigen Väter des strengeren Gesetzes. «Es ist nicht gut, die Bezugsdauer zusammenzustreichen, wenn sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt verschärft. Sie sollte in der Hochkonjunktur verkürzt und bei einem Abschwung verlängert werden – also antizyklisch.» Eine Einsicht, die den Betroffenen wenig nützt.

Erwerbslosigkeit gilt oft als Makel

«Die Arbeit hat in unserer Gesellschaft einen grossen Stellenwert. Man definiert sich über sie und erhält dafür Einkommen und Status», sagt der Basler Sozialwissenschaftler Daniel C. Aeppli, der im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft bereits mehrere Studien über die Situation der Ausgesteuerten in der Schweiz verfasst hat. Es gilt als Makel, keiner Arbeit nachzugehen. Das Selbstwertgefühl der Betroffenen sinkt, je länger die Abhängigkeit als Bittstellerin oder Bittsteller dauert. Viele reagieren mit Scham und haben Angst vor dem erniedrigenden Gang zum Sozialamt.

«Nur auf der faulen Haut liegen»

«Ich will mich nicht outen», sagt etwa Sebastian Holzer, 41 (Name geändert). Auch der diplomierte Verkaufsleiter bewarb sich mehrere hundert Mal. «Bei Arbeitgebern ist man als Arbeitsloser von vornherein abgestempelt», glaubt er. Ende Monat wird Sebastian Holzer ausgesteuert. Doch das möchte er auf keinen Fall «an die grosse Glocke hängen». Er fürchtet sich vor den Reaktionen der Einwohnerinnen und Einwohner des 7000-Seelen-Dorfes in der Innerschweiz. «Da heisst es schnell, man nütze die Situation aus und liege nur auf der faulen Haut.»

Eine bittere Erfahrung, die auch Max Gerber machte. «Mir wurde vom Leiter des Regionalen Arbeitsvermittlungszentrums gesagt, dass ich selber schuld sei, wenn ich keine Stelle fände, denn wer wirklich arbeiten wolle und seine Ansprüche reduziere, fände immer eine Stelle.»

Solche Vorurteile dürften auch bei der Abstimmung über das revidierte Arbeitslosengesetz in vielen Hinterköpfen mit im Spiel gewesen sein. 56 Prozent der Stimmenden sprachen sich für eine schärfere Gangart gegenüber den Beschäftigungslosen aus.

Die Suppe auslöffeln muss nun das stetig wachsende Heer von Arbeitssuchenden und Menschen, die ihren Anspruch auf Taggelder verwirkt haben. «Die Ausgesteuerten wollen arbeiten», sagt Ruth Odemar, 55. «Doch die meisten Leute haben keine Ahnung, was für eine steife Brise zurzeit auf dem Arbeitsmarkt weht.» Die Vorurteile, wonach Ausgesteuerte «faule Säcke» oder «Schmarotzer» seien, trafen die ehemalige Ladenbesitzerin hart. Nach einem halben Jahr Fürsorgeabhängigkeit hat Odemar eine neue Stelle gefunden – als Praxisassistentin bei einem Augenarzt.

Weniger Glück hatte bisher Urs Dörig. Der 41-Jährige probierte alles aus, um wieder eine Stelle zu finden. «Immer wenn ich potenziellen Arbeitgebern die Lücken in meinem Lebenslauf erklären und von meiner manisch-depressiven Erkrankung erzählen musste, war das Bewerbungsgespräch gelaufen.» Seit seiner Aussteuerung im Juni zehrt der ehemalige Versicherungsangestellte von seinen finanziellen Reserven. Bei der IV ist zudem ein Gesuch für eine Umschulung zum Berufsberater hängig. Dörig hofft, so wieder den Anschluss im Arbeitsprozess zu finden.

Doch die Aussichten sind schlecht. Die Zahl der Arbeitslosen steigt seit drei Jahren kontinuierlich an. Im September waren in der Schweiz über 143'000 Menschen arbeitslos gemeldet – das entspricht einer Arbeitslosenrate von 3,6 Prozent. Den rund 20'0000 Stellensuchenden standen im August nur 8307 gemeldete offene Jobs gegenüber. Und die Lage dürfte sich noch verschärfen. Jean-Luc Nordmann, Direktor für Arbeit im Staatssekretariat für Wirtschaft, rechnet damit, dass die Arbeitslosigkeit nächstes Jahr die Vier-Prozent-Schwelle erreicht.

Einzelne Wirtschaftsauguren glauben zwar, einen Silberstreifen am Konjunkturhorizont zu erkennen. «Doch damit die Arbeitslosigkeit sinkt, müsste das Bruttoinlandprodukt um zirka zwei Prozent wachsen», so Roland Aeppli von der Konjunkturforschungsstelle (KOF) in Zürich.

Der Druck wird noch weiter steigen

Die KOF rechnet für das Jahr 2003 mit einer Nullwachstumsrunde – und für das nächste Jahr ist lediglich ein bescheidenes Wachstum prognostiziert: Die Zahlen der Konjunkturforscher bewegen sich zwischen 0,8 und 1,5 Prozent. Der Druck auf Arbeitssuchende wird also weiter steigen, und es werden noch mehr Menschen aus dem Arbeitsprozess katapultiert.

Jean-Pierre Weber, 50, fühlt sich ausgenutzt und betrogen. Der Diplomingenieur arbeitete als Kadermitglied beim Umbau der Telecom zur Swisscom an seiner eigenen Wegrationalisierung mit. Nach erfolgreicher Restrukturierung habe er das «vollausgestattete Schiff dem neuen Kapitän» übergeben; «ohne Rücksicht auf Resultate und Leistung» sei ihm danach gekündigt worden. Seit einem Jahr ist Weber ausgesteuert. «Ich erlebe die Situation so, dass ich gern arbeiten würde, es aber nicht darf.» Auf seine über 400 Bewerbungen erhielt er nur Absagen – meist mit der Begründung, er sei überqualifiziert.

Auch die soziale Integration leidet

Mit dem Jobverlust gehe auch oft der Verlust an Wertschätzung einher, sagt Hubert Helbling, Amtsvorsteher des Arbeitsamts Schwyz. Das führe zur Frage: «Werde ich überhaupt noch gebraucht – oder bin ich unnütz geworden?»

Viele Arbeitssuchende wahren den Schein und verlassen morgens das Haus, als gingen sie zur Arbeit. «Mit dem Verlust der beruflichen Integration geht auch ein Teil der sozialen Integration verloren», erklärt der Sozialwissenschaftler Daniel C. Aeppli, der selber zweimal arbeitslos war. Und die soziale Desintegration sei der ideale Humus für das Entstehen psychosomatischer und psychischer Störungen.

Beste Referenzen hat auch die 36-jährige Laila Horvath (Name geändert). Anfang Juli wurde die Künstlerin und KV-Fachfrau ausgesteuert. Seither schlägt sie sich mehr schlecht als recht durch. «Aufs Sozialamt bringen mich aber keine zehn Pferde. Das ist doch absurd. Ich bin ja vollkommen arbeitsfähig.» Horvath hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser: mit Kinderhüten, Putzen und mit der Untervermietung eines Zimmers ihrer Wohnung. «Was so an Geld hereinkommt, reicht ganz knapp für die Krankenkassenprämien und die Miete.»

Die Flucht nach vorn gewagt

In der Klemme steckte auch Martina Bernasconi. Die 38-jährige Philosophin und Basler Verfassungsrätin wäre im Juni ausgesteuert worden. Doch sie wagte die Flucht nach vorn und machte sich selbstständig. «Ohne diesen Druck hätte ich das nie gewagt.» Seit kurzem hat Bernasconi zusätzlich ein 50-Prozent-Pensum in einer psychiatrischen Klinik. «Ein Glücksfall – das deckt meine Fixkosten.» In der übrigen Zeit spürt sie in ihrer «Denkpraxis» mit Denkfreudigen den grossen Fragen der Existenz nach und zeigt Wege auf, wie man sich – trotz allen Schwierigkeiten – ins eigene Leben verlieben kann.