Barbara Müllers Geschichte könnte eine erbauliche sein. Die Geschichte einer jungen Frau aus der Ostschweiz, die sich 1987 an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich einschreibt, zum Studium der Erdwissenschaften. Die ihr Studium unbeirrt weiterverfolgt, auch als Ärzte 1990 eine degenerative Erkrankung ihrer Netzhaut feststellen und sie die Welt nur noch mit einem immer enger werdenden Tunnelblick wahrnehmen kann. Barbara Müller schliesst ihr Studium 1992 ab, promoviert 1999. Forscht dann für Universitäten in Deutschland und Schweden, betreibt Feldforschung auf der ganzen Welt, heimst gute Zeugnisse ein. 2002 kehrt sie zurück an die ETH Zürich, ans Institut für Geotechnik. Ihre Sehkraft schwindet weiter, 2007 überlebt sie eine zentrale Lungenembolie nur knapp. Den widrigen Umständen zum Trotz forscht Müller weiter, beharrlich und motiviert.

Unverblümte Kampfansage der Kollegen

Anfang 2009 jedoch nimmt die Geschichte eine unschöne Wendung: Die ETH Zürich verweigert der sehbehinderten Geologin die Weiterbeschäftigung. Barbara Müller, die zu 50 Prozent eine IV-Rente bezieht, ist überzeugt: «Man will mich loswerden, weil ich behindert bin.» Von männlichen Kollegen habe sie oft mehr oder weniger unverblümt zu hören bekommen, dass eine Frau mit einer Behinderung in der Forschung nichts zu suchen habe.

Müllers Vorwurf ist hart und wirkt auf den ersten Blick unbegründet. Denn die ETH hat ihr weder gekündigt noch eine Anstellung verweigert, sie war ganz einfach befristet angestellt, wie rund 4000 andere ETH-Forscher auch. Das Arbeitsverhältnis endete Ende April dieses Jahres korrekt und wurde nicht mehr verlängert, weil Oberassistenten laut ETH-Personalverordnung höchstens sechs Jahre beschäftigt werden dürfen. Dieses Rotationsprinzip praktizieren weltweit praktisch alle Universitäten. Es soll jungen Forschern ermöglichen, einen Doktortitel zu erlangen, und gleichzeitig hochqualifizierten Wissenschaftlern eine akademische Karriere eröffnen. Einen festen Job beim wissenschaftlichen Personal erhalten die wenigsten: Die ETH stellt für Lehre und Forschung pro Jahr nur gerade zehn Wissenschaftler fest an.

Ein zweiter Blick jedoch fördert einige Ungereimtheiten zutage. Aus Sicht von Anwältin Claudia Bloem von der kirchlichen Beratungsstelle bei Arbeitslosigkeit (DFA), die den Fall geprüft hat, ist fraglich, ob Müller Oberassistentin war. «Laut Arbeitsverträgen war sie als wissenschaftliche oder höhere wissenschaftliche Mitarbeiterin angestellt», sagt sie. Das hat Einfluss auf die Anstellungsdauer: Wissenschaftliche Mitarbeiter müssen die ETH nicht nach sechs Jahren verlassen, sondern erst nach neun. Zudem stand Müller zwischen April 2004 und Juni 2005 gar nicht auf der Lohnliste der ETH – sie war im Rahmen eines Qualifikationsprogramms angestellt und wurde zu 80 Prozent von der Arbeitslosenversicherung bezahlt. Dennoch rechnet die ETH diese Zeitspanne für die sechs Jahre Beschäftigungsdauer an. Für Anwältin Claudia Bloem dagegen ist klar: «Barbara Müller war über ein Jahr nicht bei der ETH angestellt. Demnach gehen die sechs Jahre erst im Mai 2010 zu Ende.»

Umgehen liesse sich das Problem der Fristen mit einer Festanstellung. Doch die bekam Barbara Müller nicht. «Es hiess, ich verfüge nicht über die notwendigen Qualifikationen», sagt sie. «Gleichzeitig hat man mir aber nie Gelegenheit gegeben, fehlende Qualifikationen zu erarbeiten: In all den Jahren gab es weder Personalgespräche noch eine Laufbahnplanung.»

«Wir haben uns bemüht»

Damit habe die ETH gegen ihre Personalverordnung verstossen, die zur Standortbestimmung der Angestellten mindestens ein Personalgespräch pro Jahr vorschreibt, ist Anwältin Bloem überzeugt: «Die ETH hat Barbara Müller ins Leere laufen lassen. Sie hat sich nie dafür interessiert, was aus einer Geologin mit Behinderung werden soll, wenn sie die ETH verlassen muss.»

Die ETH weist die Vorwürfe zurück. Zwar habe es tatsächlich keine Qualifikationsgespräche gegeben, doch seien diese nur für festangestelltes Personal zwingend vorgeschrieben, sagt Piero Cereghetti, Leiter der Personalabteilung. «Wir sind uns unserer Verantwortung als öffentlich-rechtliche Bildungsstätte aber bewusst», sagt er. «Deshalb haben wir uns bemüht, andere Lösungen zu suchen. Wir haben Frau Müller eine Stelle als Projektleiterin in der Abteilung Sicherheit, Gesundheit und Umwelt angeboten. Zu unserer Überraschung hat sie abgelehnt.»

Für Müller war die Stelle aber aus gesundheitlichen Gründen nicht akzeptabel; sie hätte stundenlang am Bildschirm lesen müssen. «Das machen meine Augen gerade mal zehn Minuten lang mit», sagt sie. Zum selben Ergebnis kam auch die IV – und hat einen Spezialisten engagiert, der einen Job für Barbara Müller finden soll.

Und der Vorwurf Müllers, die ETH beschäftige sie wegen ihrer Behinderung nicht weiter? «Der Vorwurf ist unbegründet. Behinderte haben bei uns die gleichen Chancen wie Nichtbehinderte», sagt Personalabteilungsleiter Cereghetti. Es würden bedürfnisgerechte Arbeitsplätze und entsprechende Infrastrukturen eingerichtet, zudem stelle die Hochschule einen zentralen Kredit zur Verfügung, aus dem Stellen für Behinderte finanziert werden.

Es bleibt ein schaler Nachgeschmack, allen schönen Worten zum Trotz. Etwa bei Müllers RAV-Beraterin, die den Eindruck hat, man wolle Müller «bei der ETH einfach loswerden, sonst hätte man intensiver nach Lösungen gesucht». Oder bei ihrem Coach während des Qualifikationsprogramms. Er findet, da seien «einige Dinge komisch gelaufen – vielleicht weil es um eine Forscherin ging, bei der die Möglichkeit besteht, dass sie erblindet».

Wie die Geschichte ausgeht, ist offen. Sicher ist: Die ETH will eine ehemalige Studentin und langjährige Mitarbeiterin nicht länger beschäftigen. Nun muss ein von der IV finanzierter Jobvermittler eine Stelle suchen für eine stark sehbehinderte Frau, die auf einem sehr spezifischen Gebiet hochqualifiziert ist. Kein einfacher Job.