Eigentlich sollte Daniel Windlers Herz für die Unia schlagen. Der Werkmeister bei der Toggenburger AG verdient sein Geld mit harter Maloche auf dem Bau. Seit ein Unia-Stosstrupp am 1. April in einer wilden Aktion das Betonwerk im Zürcher Stadtteil Oerlikon während Stunden blockiert hat, ist Windler aber nicht mehr gut auf die streitbare Gewerkschaft zu sprechen. «Es herrschte eine aggressive Stimmung. Die Leute waren frech und stur, das verstehe ich nicht», sagt Windler. «Zu mir haben sie ‹Heb d Schnure› gesagt», beklagt sich Camionneur Albert Saliu. Dabei habe er lediglich zu erklären versucht, dass sein Lastwagen kaputtgehe, wenn der Beton zu lange in der Trommel drehe. «Eine riesige Sauerei haben die hier hinterlassen. Schreiben Sie das ruhig!», sagt Markus Wespe, Maschinist im Betonwerk der Firma Kibag AG im Zürcher Stadtteil Seefeld. Am Tag danach ist die Stimmung in den bestreikten Betrieben nicht eben gewerkschaftsfreundlich.
«Eine symbolische Aktion» hätte es sein sollen, sagt Unia-Sprecher Hans Hartmann, gegen die sture Haltung der Zürcher Baumeister und um der Forderung nach der Unterzeichnung eines neuen Landesmantelvertrags Nachdruck zu verleihen. Eine Begründung mit einem kleinen Schönheitsfehler. Die beiden bestreikten Unternehmen, Kibag AG und Toggenburger AG, sind nicht Mitglied im Baumeisterverband und damit nicht Vertragspartner der Unia. Mit anderen Worten: Die Aktion hat die Falschen getroffen. «Die Aktion der Unia erachten wir auf jeden Fall als illegal, und wir werden sie deshalb auf Nötigung und Hausfriedensbruch sowie zivilrechtlichen Schadenersatz verklagen», sagt Ulrich Widmer, Leiter Kies und Beton bei der Kibag.

Die Strafanzeige hat einige Aussicht auf Erfolg. Denn nur drei Tage nach der Betonwerkblockade bestätigte das Bundesgericht - mit interessanter Begründung - eine Verurteilung von vier hohen Gewerkschaftsfunktionären, darunter der ehemalige Unia-Kopräsident Vasco Pedrina und die jetzigen Unia-Geschäftsleitungsmitglieder Michael von Felten und Rita Schiavi Schäppi, wegen Nötigung. Organisiert von der damaligen Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI) und der Gewerkschaft Syna, hatten im Jahr 2002 rund 2000 Demonstranten die Portale des Bareggtunnels blockiert und so die Frühpensionierung ab 60 für die Bauarbeiter erkämpft. «Die Aktion», so führte das höchste Gericht aus, «richtete sich nicht gegen den Arbeitskampfgegner, sondern sie traf unbeteiligte Dritte, welche im Übrigen für die von den Streikenden beklagten Missstände weder verantwortlich waren noch irgendetwas zu deren Beseitigung beitragen konnten.»

«Was sollen die Streiks?»

Der spektakulären, medienträchtigen Aktion am Baregg folgten weitere. Etwa der sich über Wochen hinziehende Swissmetal-Streik vor zwei Jahren in Reconvilier BE oder jüngst der Streik um die Zukunft des SBB-Cargo-Industriewerks in Bellinzona. Meistens an vorderster Front dabei: die Grossgewerkschaft Unia, 2004 hervorgegangen aus der Fusion der Branchengewerkschaften GBI, Smuv, VHTL und Unia.

Die aktionsbetonte Strategie der Unia, die professionelle Medienarbeit und die öffentlich vorgetragene Absage an die bislang für schweizerische Arbeitsverhältnisse typische, absolute Friedenspflicht haben der grössten Arbeitnehmerorganisation den Ruf eingebracht, allzu leichtfertig zum letzten Mittel im Arbeitskampf zu greifen, dem Streik. «Die interprofessionelle Gewerkschaft Unia ist immer zur Stelle, wenn sich irgendwo in der Schweiz legal oder illegal Gelegenheit zu einem medienwirksamen Streik bietet», schrieb jüngst die NZZ. Kritik wird aber auch bei der eigenen Klientel laut: «Ich finde, sie gehen zu weit. Streik ist nicht das richtige Mittel. Verhandlungen bringen meist mehr», sagt ein ungenannt sein wollender Zürcher Polier und langjähriges Gewerkschaftsmitglied. Und Philipp Althaus, Bauführer bei der Tiefbaufirma Vago, fragt: «Was sollen die Streiks? Unsere Arbeitsbedingungen sind gut.»

Hat er recht? Das Bundesamt für Statistik veröffentlicht eine Tabelle mit Mindestlöhnen in den Branchen, die einem Gesamtarbeitsvertrag unterstellt sind. Am wenigsten verdient wird im Gastgewerbe. Auf Rang eins landet - wenig erstaunlich - das Kreditgewerbe. Auch die Pharmaindustrie zahlt gut: Rang drei. Rang zwei und damit die zweithöchsten Mindestlöhne aber erreicht - das Baugewerbe.

Selbst Bundesbern mahnt inzwischen zu einer konzilianteren Gangart zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden. «Der soziale Frieden ist von zentraler Bedeutung für die Schweiz. Eine Gefährdung des Friedens schadet unserer Wirtschaft und damit auch den Arbeitnehmern», sagt Rita Baldegger, Leiterin Kommunikation im Staatssekretariat für Wirtschaft.

Für Unia-Sprecher Hartmann ist klar, wer die Schuld trägt an der Erosion des Arbeitsfriedens: «Immer mehr Unternehmer und sogar Arbeitgeberverbände wenden sich vom Ziel des sozialen Ausgleichs ab und entziehen damit der Sozialpartnerschaft den Boden. Den Vorwurf, den ‹Standortvorteil Arbeitsfrieden› zu gefährden, müssen sich wenn schon gewisse Arbeitgeberkreise mit ihrer egoistischen Umverteilungspolitik nach oben gefallen lassen.»

Besonders im Visier der Unia: der Präsident des Baumeisterverbands, Werner Messmer, ein «gottesfürchtiger Hardliner, der den Nahkampf probt», wie der «Tages-Anzeiger» titelte mit Verweis auf Messmers öffentliches Bekenntnis zum christlichen Glauben und seine Rolle im Konflikt zwischen den Gewerkschaften und den Bauunternehmern. Der Konflikt hat eine lange Vorgeschichte. Das jüngste Kapitel schrieben die Delegierten des Baumeisterverbands im Januar. Die Versammlung schickte eine unter der Federführung von Jean-Luc Nordmann, dem ehemaligen Chef der Direktion für Arbeit im Staatssekretariat für Wirtschaft, erarbeitete Kompromisslösung mit grossem Mehr bachab.

Mittel zum Selbstzweck?

Arbeitgeberfreundliche Beobachter werteten das wuchtige Nein als Beleg für ein nachhaltig gestörtes Vertrauensverhältnis der Sozialpartner im Bauhauptgewerbe und orteten im «oft rüden Vorgehen von bezahlten Funktionären der Gewerkschaften gegen Bauunternehmen» einen der Gründe dafür. «Streiks sind für die Unia niemals Selbstzweck, sondern immer nur letztes Mittel, um wichtige Arbeitnehmerrechte durchzusetzen. Doch wenn Arbeitgeber die Arbeitsbedingungen ihrer Belegschaften systematisch verschlechtern, Verträge einseitig künden, Gespräche verweigern, muss eine Gewerkschaft, die diesen Namen verdient, die Interessen ihrer Mitglieder auch im Konflikt vertreten können», verteidigt sich Unia-Sprecher Hartmann.

Damit hat die Unia Erfolg. Etwa jüngst im Wallis, als die Leitung des Pharmazulieferers Lonza in Visp nach harten Verhandlungen die zuvor ausgesprochene KAV-Kündigung zurücknehmen musste und auf die geplante Arbeitszeiterhöhung verzichtete. Einen Teilerfolg erzielte die Unia auch im Streit mit der Migros um die Legitimität der Arbeitszeiten. Im Migros-Fleischverarbeitungsbetrieb Micarna darf, so entschied das Bundesverwaltungsgericht in einem noch nicht rechtsgültigen Urteil, nicht mehr in dauernden Nacht- und Sonntagsschichten gearbeitet werden.

Klar scheint aber auch, dass die Unia mit ihren aggressiven Aktionen wie etwa der Betonwerkblockade so manchen Arbeitgeber nachhaltig vor den Kopf stösst. «Das ist heikel» oder «Da möchte ich lieber nichts sagen», bekommt zu hören, wer in Unternehmerkreisen nach dem Verhältnis zur streitbaren Gewerkschaft fragt. Und weiter: Mitunter würde auch ganz unverhohlen gedroht: einlenken, «sonst kommen wir mit den Fahnen».

Dass die Unia-Interventionen nicht immer zum Wohl der Arbeitnehmer sind, zeigt etwa die Übernahme der Filialen von Elektronikanbieter Eschenmoser durch die Fust AG. Weil Fust bei der Übernahme den Eschenmoser-Mitarbeitern eine Änderungskündigung vorlegt, veranstaltet die Unia vor der Zürcher Eschenmoser-Filiale eine Protestaktion. Die Gewerkschaftsfunktionäre erstreiten für die Angestellten das Recht, auch nach der Fusion zu den alten Vertragsbedingungen weiterarbeiten zu dürfen. Laut Fust hat Unia den Angestellten damit einen Bärendienst erwiesen: «Der Anstieg der Bruttolöhne bei den Verkäufern, die den neuen Vertrag eingegangen sind, betrug 2007 gegenüber dem letzten vollen Eschenmoser-Jahr 2005 rund 19 Prozent. Einzelne Mitarbeiter verdienen 30 bis 40 Prozent mehr», so ein Fust-Sprecher. Die vier Mitarbeiter, die ihren alten Vertrag beibehalten haben, würden dagegen auf dem alten Lohnniveau stagnieren.

«Jetzt ist genug gestritten»

Auch die Firma Roche machte mit der Unia eine unangenehme Erfahrung. «Lohndumping auf Roche-Baustelle», betitelte im Herbst die Unia eine Medienmitteilung. Eine Kontrolle der Gewerkschaft habe aufgedeckt, dass die Arbeiter auf einer Baustelle in Kaiseraugst nicht nach den Vorschriften des Gesamtarbeitsvertrags bezahlt würden. Ganz anders lautet die Darstellung von Roche: Die Arbeiter hätten sich zwei Monate früher schon selbständig bei Roche gemeldet, ihr Arbeitgeber, die Firma Shaba Sarl, bezahle sie nicht nach GAV-Vorschriften. Roche habe als Auftraggeber von sich aus interveniert und für GAV-konforme Entlöhnung gesorgt. «Als die Unia sich einschaltete, war die Sache längst erledigt», sagt Roche-Mediensprecherin Martina Rupp. Hartmann hingegen meint: «Auslöser der Unia-Kontrollen waren Hinweise von Roche-Angestellten, denen die prekären Arbeitsbedingungen aufgefallen waren. Als wir den Betrieb Ende August und Anfang September zweimal kontrollierten, war die Bezahlung nicht LMV-konform. Der Fall ist seither bei der paritätischen Kommission Jura hängig.»

«Es gibt eine Zeit zum Streiten. Es gibt aber auch eine Zeit, um sich zu einigen. Jetzt ist genug gestritten», sagte Bundesrätin und Volkswirtschaftsdirektorin Doris Leuthard vergangenen September an einer Medienkonferenz in Zusammenhang mit dem Arbeitskonflikt im Baugewerbe. Mehr als ein halbes Jahr später sieht es danach aus, als seien ihre Worte gehört worden. Die seit Ende März zwischen Baumeistern und Gewerkschaften laufenden Gespräche unter der Führung von Mediator Jean-Luc Nordmann waren erfolgreich. «Differenzen im Bauhauptgewerbe bereinigt», verkündeten kurz vor Drucklegung dieses Hefts in seltener Eintracht die Verhandlungsführer. Stimmen die zuständigen Gremien des Baumeisterverbands und der Gewerkschaft dem Kompromiss zu, soll schon zum 1. Mai der neue GAV gelten. Und damit die Friedenspflicht.