Harro von Senger, geboren 1944, ist promovierter Jurist. Seit 1989 arbeitet er als Professor für Chinawissenschaft an der Universität Freiburg im Breisgau. Er lehrt auch an der Generalstabsschule der Schweizer Armee. Sein zweibändiges Werk über die chinesischen Listen machte ihn einem grösseren Publikum bekannt. In seinem neusten Buch «Die Kunst der List» stellt von Senger die Strategeme auf leicht verständliche Art vor.

Beobachter: Wann wurden Sie das letzte Mal überlistet?
Harro von Senger:
Das ist bereits eine Weile her. Ich hatte im Zug meinen Platz gewechselt. Die Jacke liess ich am alten Ort hängen. Ein Fahrgast muss bemerkt haben, wie vertieft ich in meine Lektüre war. Meine Brieftasche befand sich jedenfalls nicht mehr in der Jacke, als ich den Zug verliess. Der Dieb handelte gemäss der chinesischen Lehre nach List Nummer zwölf: «mit leichter Hand das Schaf wegführen». Das bedeutet, eine sich bietende Chance rücksichtslos auszunutzen.

Beobachter: In Ihrem neuen Buch erklären Sie, wir Europäer könnten – im Gegensatz zu den Chinesen – nicht mit Listen umgehen. Sind wir dazu zu anständig? Zu nett? Zu dumm?
von Senger:
Ein bedeutendes chinesisches Schriftzeichen für «List» heisst gleichzeitig «Weisheit». Mit anderen Worten: Der Weise darf in China listig sein. Er wird dafür bewundert. Im christlich geprägten Abendland hingegen wird der Begriff «List» mit «Lug und Trug» gleichgesetzt. Das ist einseitig. Wir Europäer haben in dieser Beziehung ein enormes Manko.

Beobachter: Sind wir demnach anfälliger, überlistet zu werden?
von Senger:
Das kann man mit Fug und Recht behaupten. Aus dem einfachen Grund, weil wir die einzelnen List-Typen nicht erkennen, nicht identifizieren können. In China wurde das Durchschauen und Anwenden von List seit alters her hoch geschätzt. Als einzige Zivilisation der Welt brachte China einen Katalog von 36 Überlistungstechniken hervor. Ich brauche für diese List-Typen den Begriff «Strategeme», weil das deutsche Wort «List» zu negativ ist. Strategeme sind in China kein Tabu. Man unterhält sich darüber. Man denkt darüber nach. Unsere Kultur hat nur wenige Worte, um diese Verhaltensweisen zu kennzeichnen. Wo die Worte fehlen, fehlt aber auch das Denken.

Beobachter: Ist es denn nötig, dauernd auf der Hut zu sein?
von Senger:
Dauerndes Misstrauen macht krank. In einem intakten familiären Umfeld kommt den Listen sicher eine viel kleinere Bedeutung zu. Im politischen und im beruflichen Alltag aber macht es durchaus Sinn, wachsam zu sein. Und dann stellen sich plötzlich neue Fragen. Zum Beispiel: Stellt sich dieser Gemeinderat jetzt dumm? Oder: Will mich mein Chef aushorchen? Oder: Will mir meine Nachbarin jetzt eigentlich ein Gerücht aufschwatzen?

Beobachter: Also sind nicht bloss Diebe listig.
von Senger:
Keineswegs. Wir alle wenden täglich Listen, Strategeme, an – meistens freilich unbewusst. Wir bleiben höflich, auch wenn es uns unangenehm ist. Wir machen wider Willen Komplimente. Wir machen eine gute Miene zum bösen Spiel und platzieren auch mal eine gern gehörte Lüge. All dies sind Listen des Alltags, die das Leben erleichtern. Sich dauernd die Wahrheit ins Gesicht zu sagen, das wäre ja unerträglich. Abgesehen davon: Im Beobachter erscheinen regelmässig Beispiele von zahlreichen weiteren Listen. Betrüger nutzen die List natürlich auch.

Beobachter: Mit der Attacke von Manhattan hat die List wohl eine neue Dimension bekommen.
von Senger:
Hier handelte es sich um eine extrem destruktive, kriminelle List. Aber bleiben wir genau. Auch Präsident Bush wendet eine List an, wenn er heute behauptet, er kenne den Täter. Bush wendet das Strategem 20 an: «im Trüben fischen». Die Administration des Präsidenten will zwar Beweise haben, aber Bin Laden ist nicht rechtmässig verurteilt. Wie dem auch sei: Wer immer die Attacke geplant hat – die Täter verwendeten zahlreiche Listen. Sie zielten auf eine unkontrollierte Schwachstelle. Es handelte sich um einen Stoss ins Herz, um einen hochsymbolischen Ort. Sie nutzten alle Begleitumstände. Das Fernsehen versetzte der Nation live einen Schock. Und schliesslich: Die Terroristen gaben sich nicht zu erkennen.

Beobachter: Meinen Sie, den Chinesen wäre die Katastrophe nie passiert?
von Senger:
In der Volksrepublik China setzt man viel mehr auf Kontrolle als in der freien Welt. Ich glaube nicht, dass ein chinesisches Flugzeug so einfach zu kapern wäre. Aber gegen ein derartig ruchloses Vorgehen dürften auch Chinesen ziemlich hilflos gewesen sein. Allerdings ist die Aussenpolitik Chinas nicht so ausgerichtet, dass dieser Staat Opfer eines derartigen Anschlags werden könnte.

Beobachter: Worauf gründet sich denn in Europa die Kultur der List?
von Senger:
Unsere Verhaltensgrundlage ist im Wesentlichen die Bibel – auch wenn wir uns dessen nicht immer bewusst sind. Jesus sagte: «Seid klug wie die Schlangen!» Dieser Rat fand viel zu wenig Beachtung. Viel wirksamer für unser Verhalten ist das erste Buch Moses – im Speziellen die Schlange, deren Urlist uns aus dem Paradies vertrieben hat. Ich denke, dass unsere «Listenblindheit» stark auf diese Bibelstelle zurückzuführen ist. Aber im Grunde ist die Bibel durchaus ein listiges Buch. So hat Jesus immer wieder die List angewandt, verfänglichen Fragen auszuweichen. Er beantwortete sie oft mit Gegenfragen. Zusammenfassend kann man sagen: Wir Abendländer wenden die List unverschämt an – verschweigen sie aber verschämt. Im Unterschied dazu ist der Chinese doppelt unverschämt. Nämlich im Anwenden der Listen wie auch im offenen Reden darüber.

Beobachter: Welchen Stellenwert haben diese Chiffren in der chinesischen Kultur?
von Senger:
Die Bedeutung der Strategeme ist zentral. Ich habe gestaunt, wie viele Kinderbücher es zu diesem Thema gibt. Entscheidend dabei ist: Die einzelnen Listen werden immer erklärt, kommentiert und analysiert. Gewiss, auch wir haben listige Kinderbuchhelden – Globi zum Beispiel oder Hänsel und Gretel. Aber deren Listigkeit ist nicht weiter ausgeführt, es gibt keine Hilfe, darüber nachzudenken. In einem chinesischen Kinderbuch würde zum Beispiel stehen: Gretel stiess die Hexe mit dem Strategem Nr. 27 in den Ofen – «den Tölpel spielen, ohne den Kopf zu verlieren». Gretel stellte sich dumm. Sie fragte die Hexe, wie man den Ofen anfeuern solle.