Der Garagist schüttelt den Kopf: «Herr Doktor, wann kaufen Sie sich endlich ein neues Auto?» Pierre Gachoud, Hausarzt in Marly bei Freiburg, fährt seit 16 Jahren und 210'000 Kilometern seinen Toyota Corolla. «Das kann ich mir mit meinem Lohn nicht leisten.» Der Garagist staunt: «Ich dachte, Sie seien Arzt.»

Der 62-jährige Allgemeinpraktiker Gachoud erzählt die Anekdote ohne Lächeln. Er kann sich monatlich 8'100 Franken netto auszahlen. Mal 13. «So viel wie ein Lehrer der Sekundarstufe.» Gachoud arbeitet aber 60 Stunden pro Woche, hat sieben Jahre Universität hinter sich und zusätzlich acht Jahre Fachausbildung, rückt nachts zu Unzeiten immer wieder zu Notfällen aus, auch an Wochenenden. Und er hat im Gegensatz zum Lehrer keine garantierte Altersvorsorge. Gachoud kann sich das fröhliche Rentnerdasein mit 65 ans Bein streichen. «Meine Altersrente betrüge 3'900 Franken. Mehr konnte ich nicht auf die Seite legen.»

Als «Drecksau» beleidigt
Pierre Gachouds Praxis liegt im dritten Stock eines Hochhauses am Rande von Marly, einer armen Vorortsgemeinde von Freiburg. Braun in braun dunkeln Vorhang, Pult und Liege im Sprechzimmer vor sich hin - ein Stillleben, das den Zustand des Berufsstands treffend illustriert. Man kann sich gut vorstellen, wie Doktor Gachoud letzten März in einer Mischung von Wut und Mut sein Stethoskop ablegte, um einen offenen Brief an die «Schweizerische Ärztezeitung» zu schreiben. Seither herrscht offener Streit. «Ihre undifferenzierten Anschuldigungen sind nicht akzeptabel und dienen niemandem», empörte sich ein Gynäkologe, «ausser dass Sie die Ärzteschaft weiter auseinanderdividieren.» Ein Magen-Darm-Spezialist bezeichnete Gachoud als «salaud», als Drecksau.

Was hatte der arme Gachoud um Himmels willen geschrieben? Er hatte sein Einkommen veröffentlicht. Und gefragt, weshalb Augenärzte, Gynäkologen oder Gastroenterologen das Vielfache von ihm verdienen. «Warum erzielen manche in Extremfällen immer noch ein Jahreseinkommen von 800'000 bis einer Million Franken oder mehr für eine normale Vollzeittätigkeit?»

Mit seinem Brief sprach Gachoud vielen Hausärzten aus dem Herzen, wie Dutzende von zustimmenden Zuschriften bezeugen. Der Verteilkampf zwischen Hausärzten und Spezialisten ist eröffnet.

Nun legen weitere Allgemeinpraktiker im Beobachter ihr Nettoeinkommen offen, um politisch Druck zu machen. Sie wollen ausdrücklich nicht jammern, ihnen gehe es finanziell noch gut, sie alle lieben ihren Job. Doch sie finden, sie und vor allem die nachrückenden Jungärzte sollen besser entlöhnt werden.

«Geld regiert die Welt»
Alexander Minzer, 41, aus Rothrist verfügt im Monat über ein Einkommen von 7'500 Franken, bei 13 Monatslöhnen. Es liegt relativ tief, weil Aargauer Ärzte - genau wie der Freiburger Gachoud - keine Medikamente verkaufen dürfen. Das macht bis zu einem Drittel des Einkommens aus. Edy Riesen, 59, der «mit Begeisterung» seit 35 Jahren eine Praxis in Baselland führt und dessen Ärger in der «Tabuisierung der Einkommensunterschiede» wurzelt, kommt auf 10'800 Franken. Peter Matter, 62, aus dem zürcherischen Kilchberg bringt es auf 12'000 Franken. «Das ist im Vergleich zu vielen Schweizern immer noch ein guter Verdienst», weiss Matter. «Aber im Vergleich zu den spezialisierten Ärzten ist dies deutlich weniger. Deshalb stirbt der Beruf des Hausarztes langsam aus. Dagegen müssen wir kämpfen.» Und endlich Lohntransparenz schaffen, meint Riesen: «Wir schleichen wie die Katzen um den heissen Brei. Tatsache ist, dass auch für die meisten jungen Mediziner Geld die Welt regiert.» Er sieht nicht, «wie das alles weitergehen soll ohne eine Diskussion über die Einkommensunterschiede».

Die Alten kämpfen nicht für sich, ihnen würde eine Änderung nicht mehr viel bringen, sie engagieren sich für die Jungen. Es gibt nämlich viele alte Hausärzte und kaum junge. Laut einer Umfrage des Instituts für Hausarztmedizin an der Uni Basel geht in den nächsten neun Jahren die Hälfte der Hausärzte in Pension. Für 3000 Praxen muss ein Nachfolger gesucht werden. Und der Nachwuchs, der bereits heute ausgebildet werden müsste, ist nirgends in Sicht: Nur gerade einer von zehn Medizinstudenten will Allgemeinpraktiker werden.

Kein Wunder: Die Zukunft ist düster. In den letzten Jahren wurde immer auf ihrem Buckel gespart - ein Abstieg in drei Schritten. Erster Streich: Tarmed, der gesamtschweizerische Ärztetarif, der 2004 in Kraft trat. Er sollte unter anderem Apparatemedizin und chirurgische Eingriffe lohnmässig ab-, die sprechende Medizin dafür aufwerten. Damit werde auch die Arbeit der Hausärzte besser entlöhnt, wurde ihnen versprochen.

Drei Jahre nach Einführung folgt die Ernüchterung: Profitiert haben nicht die Hausärzte, sondern wieder die Spezialisten. So stieg der Umsatz der Hausärzte um sieben Prozent und blieb somit exakt im Durchschnitt aller Ärzte. Überdurchschnittlich mehr eingenommen haben hingegen die Gynäkologen und die Krebsspezialisten (plus zehn Prozent) sowie die Orthopäden (plus 14 Prozent), aber auch die Kinderpsychiater (plus 32 Prozent), die vor Tarmed noch am wenigsten verdient hatten. «Die sprechende Medizin wurde nur partiell aufgewertet», räumt selbst Thomas Zeltner, der Chef des Bundesamts für Gesundheit, ein. «Die Hausärzte sind die Verlierer des Tarmed», sagt es deutlicher Hansueli Späth, Präsident der Gesellschaft für Allgemeinmedizin.

Hausarzt Edy Riesen ist ein Landdoktor wie aus dem Bilderbuch. Mit seinem Koffer macht er hin und wieder sogar noch Hausbesuche, er kennt seine Patienten, und das Praxisgebäude, das seit Generationen den Hausarzt beherbergt, liegt im Herzen des idyllischen Örtchens Ziefen. Wenigstens hier ist der Dorfarzt noch wer.

Bundesrat treibt Ärzte auf die Strasse
Edy Riesen ist einer, der den Menschen sieht, nicht nur den Patienten. Er versteht sich auch als Tröster, Zuhörer, Begleiter, als eine Art «sanfter Schamane». Er mag, was er tut, das sieht man ihm an, und würde es wohl sogar für weniger Geld tun.

Doch nach Einführung von Tarmed erlebte auch Hausarzt Edy Riesen kurz einen finanziellen Taumel und kam «bös auf die Welt», wie er sagt. «Ich konnte plötzlich die Mitarbeiter nicht mehr zahlen, weil ich es unterliess, jedes Telefonat zu verrechnen.» Die Abrechnung im Fünf-Minuten-Takt fand er «unter seiner Würde». Das hat er schleunigst korrigiert.

Im April 2006 gingen die Hausärzte auf die Strasse und brachen das Schweigen. Grund war der zweite Streich der Gesundheitsbürokratie: Bundesrat Pascal Couchepin hatte den Hausärzten die Labortarife reduziert. Die Ärzte demonstrierten vor dem Bundeshaus - unerhört für eine Zunft, die nicht im Verdacht steht, zur Fraktion der Chaoten und Spontis zu gehören. Tausende gingen an die Demo, unter ihnen auch Alexander Minzer, seit sieben Jahren Hausarzt in Rothrist. Hat das etwas genützt? «Im Gegenteil: Alles ist noch schlimmer geworden», sagt er.

«Eine schallende Ohrfeige»
Tatsächlich folgte der dritte Streich ein Jahr nach der Demo: Auf diesen April hin wurde den Hausärzten auch noch die Notfallpauschale um rund 20 Prozent gekürzt, dafür eine sogenannte Dringlichkeitspauschale eingeführt. Als ob sie für ihre Unbotmässigkeit bestraft werden sollten. Das Ganze ist eine Schreibtischtat: Unter dem Strich verdienen die Hausärzte erneut weniger, die Spezialisten erneut mehr. Minzer ist entsetzt, «wie naiv wir einmal mehr zu einer Lohnreduktion gekommen sind».

Auch er findet, er habe einen «tollen Job», scheint eher zu den Besonnenen zu gehören. Doch in ihm hat sich Wut aufgestaut. In einigen Jahren, wenn noch mehr ältere Kollegen vom Notfalldienst dispensiert werden, wird er eine Nacht pro Woche Pikett leisten müssen. Das heisst: ein- bis zweimal ausrücken, in zehn Minuten vor Ort sein und trotzdem am nächsten Tag um halb acht die Praxis öffnen. Dies alles bei einer 50-Stunden-Woche. Zum Pikett ist er gesetzlich verpflichtet. Und was ihn besonders ärgert: Spezialisten können sich für ein paar tausend Franken von diesem Dienst freikaufen.

Für den Kilchberger Arzt Peter Matter ist die Reduktion der Notfallpauschale «eine schallende Ohrfeige». Und er sagt: «Ab Herbst gedenke ich mich deshalb vom Notfalldienst zurückzuziehen.» Ab 60 sind Hausärzte im Kanton Zürich von der Notfalldienstpflicht entbunden. Matters Protestaktion werden seine vier Hausarztkollegen in der Gemeinde nicht gern registrieren. Sie werden noch häufiger für 300 Franken aus den Federn müssen. Steigt dann auch der andere Hausarzt aus, der über 60 ist, bricht der Notfalldienst zusammen.

Matter prophezeit einen Kostenschub: «Gehen Patienten direkt ins Spital oder zum Spezialisten, kostet eine Behandlung regelmässig mehr als beim Hausarzt.» Er erzählt von einem Bekannten, der sich nachts nach der Konsultation einer Krankenkassen-Hotline mit einer Nierenkolik direkt in ein Zürcher Spital begab. Dort sei er behandelt und gleich noch mit einem Computertomographen (CT) untersucht worden. Das kostete 5'500 Franken. «Diese Nierenkolik hätte die Krankenkasse bei mir als Grundversorger inklusive Ultraschall und Nachkontrollen kaum 1000 Franken gekostet. Ein CT ist in der Regel völlig überflüssig.»

Toyota-Fahrer Gachoud fragte nach seinem offenen Brief an die Kollegen einen Facharzt, wie er Lohnunterschiede von einer halben Million Franken und mehr erklären könne. Die Antwort: Er hätte ja auch Gastroenterologe werden können. Besonders perfid: Gachoud wurde von Kollegen hinter vorgehaltener Hand kritisiert, er sei zu wenig schlau, um aus seiner Praxis und vor allem seinem Labor mehr herauszuholen. «Im Klartext heisst das, ich müsste mehr und unnötige Laboruntersuchungen machen. Das ist doch Nonsens. Ich mache nur, was sinnvoll ist.»

Es ist Heuchelei im Quadrat: Am Sonntag loben Politiker und Funktionäre den Hausarzt, am Montag streichen sie ihm die Einkünfte zusammen. Ein Muster, das sich seit Jahren wiederholt. Dabei ist der Hausarzt nötiger denn je, sagt Professorin Barbara Buddeberg-Fischer von der Psychosozialen Medizin des Zürcher Unispitals: «Die Menschen werden immer älter und leiden unter mehrfachen und oft chronischen Erkrankungen. Solche Patienten brauchen einen medizinischen Koordinator, also einen Hausarzt, und nicht einen Spezialisten für jedes einzelne Gebresten.» Schon heute ist die Leistung der Grundversorger beachtlich: Mehr als die Hälfte der ambulanten Arztkonsultationen zulasten der Grundversicherung läuft über den Allgemeinmediziner.

So viel verdienen Ärzte mit einer eigenen PraxisDurchschnittliches AHV-pflichtiges Einkommen in Franken*
Radiologen 394'586
Augenärzte 371'361
Urologen 327'529
Neurochirurgen 309'145
Orthopäden298'930
Hals-Nasen-Ohren-Ärzte285'249
Chirurgen250'431
Hautärzte245'171
Allgemeinmediziner189'424
Kinderärzte 170'213

Quelle: Ärztevereinigung FMH, Zahlen von 2003

*Um Nettolöhne zu erhalten, müssen noch die AHV-Beiträge (12,5%) und die Pensionskassenbeiträge (zirka 20%) abgezogen werden. Als Selbständige entrichten Ärzte Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge.

Schluss mit der KuschelsolidaritätGünstiger, sanfter, menschlicher - alles spricht für den Hausarzt. Doch haben Politiker und Gesundheitsbeamte nur Lippenbekenntnisse für ihn übrig. Thomas Zeltner, Chef des Bundesamts für Gesundheit, findet den Hausarzt zwar «sehr wichtig». Für viele sei er die erste Ansprechperson und könne so die Rolle des umfassenden Gesundheitsberaters wahrnehmen. Besser entlöhnen will er ihn aber nicht. Einziger Rat: Die Hausärzte sollen nicht mehr Einzelkämpfer spielen, sondern sich in Gesundheitszentren zusammenschliessen.

Auch der Krankenkassenverband Santésuisse preist den Hausarzt. Er schlug der Ärztevereinigung FMH eine neue Tarifstruktur vor, die dessen Honorar angehoben hätte - zulasten der Spezialisten. Doch die FMH schmetterte das Ansinnen ab. Man wolle keine Umverteilung, sondern allgemein mehr Geld. Davon wollen aber die Krankenversicherer nichts wissen. Sogar der eigene Verband der Allgemeinpraktiker möchte den Spezialistenkollegen nicht an die Honigtöpfe (siehe Artikel zum Thema «‹Nächstes Jahr wird es knallen›»).

Deshalb fühlen sich die Hausärzte mehr und mehr nicht nur von Politikern und Behörden, sondern auch von den eigenen Verbänden verraten. Minzer: «Ich bin nicht bereit, mich weiter von diesen Gremien für dumm verkaufen zu lassen.» Matter: «Der Hausärzteverband hat unsere Anliegen zu wenig aggressiv vertreten und die FMH bei Tarmed nicht gehalten, was versprochen wurde.» Dabei gestehen sie ein, dass es auch an ihrem mangelnden Engagement lag. «Hausärzte sind Idealisten, machen ihren Beruf vor allem aus Berufung. Spezialisten denken schon früh ans Geld», meint etwa der Allgemeinpraktiker Gachoud. Darum hätten sich die Fachärzte mehr für ihr Geld gewehrt und verdienten heute besser. «Wir waren bisher zu zahm.»

Pierre Gachoud griff deshalb in die Tasten und eröffnete so den Verteilkampf unter den Ärzten. «Wir müssen das Schweigen übers Geld brechen», sagt er. «Nur so können wir den Leuten erklären, dass unsere wichtige Arbeit zu wenig honoriert wird. Und nur so können wir die exorbitanten Löhne der Spezialisten korrigieren.» Nicht mehr Kuschelsolidarität, sondern eine Neuverteilung des Kuchens. Das ist die Lösung für den Hausärztemangel, die die Basis vorschlägt. Schützenhilfe erhält sie von Santésuisse. Deren Sprecher Peter Marbet meint, die Hausarztmedizin könne nur aufgewertet werden, wenn die Ärzte zu Umverteilungen bereit seien. «Was man den Hausärzten am einen Ende mehr gibt, muss bei den Spezialisten am anderen Ende kompensiert werden.»

Notfallzentrale Bahnhof
Und was interessiert das alles den Patienten? «Dem ist das egal», meint Gachoud. «Der interessiert sich nur dafür, dass er gesund wird. Ob das ein Spezialist für 2000 Franken erreicht oder ein Hausarzt für 200, ist ihm schnurz.» Als Prämienzahler kann es ihm aber nicht schnurz sein. Es kann ihm auch nicht schnurz sein, wenn er nachts aufwacht, weil ihn eine Nierenkolik fast zum Wahnsinn treibt - und der Notfallarzt plötzlich nicht mehr um die Ecke ist. In Luzern haben 80 Ärzte den Notfalldienst bereits an die Permanence am Bahnhof abgetreten.

Die Prognose sei gewagt: Erst wenn der Hausarzt auf der Liste der bedrohten Arten zuoberst steht, wenn eine Praxis nach der andern dichtmacht, wird man ihn vermissen. Es werden Zeiten kommen, wo Gemeinden nicht nur mit Steuervorteilen, sondern auch mit eigener Arztpraxis werben. Und die verbliebenen Exemplare an Hausärzten werden begehrt sein. Wie unlängst in Arosa, wo das Stimmvolk mit überwältigendem Mehr 1,1 Millionen Franken sprach, um eine moderne Arztpraxis zu bauen und damit einen Hausarzt anzulocken.