6.30 Uhr. Ibrahim (alle Namen geändert) schlägt seinen Jackenkragen hoch und reibt sich die klammen Finger. Es ist bitterkalt an diesem frühen Morgen. Ibrahim steht als Erster am Strassenrand. Er ist Taglöhner, sucht einen Job für einen Tag – oder zumindest für zwei, drei Stunden. «Egal, was es ist; ich bin froh, wenn ich arbeiten kann.» Rasch rückt er seinen Rucksack zurecht, steckt seine Hände in die Hosentaschen, tritt von einem Bein aufs andere. Der Regen wird stärker. Ibrahim wartet.

Vor knapp einer Stunde machte sich der 41-jährige Familienvater von seinem Wohnort im aargauischen Untersiggenthal zum Güterbahnhof in Zürich auf. Diesen Monat nimmt er den weiten Arbeitsweg täglich auf sich. «Ich kann etwas Geld gut gebrauchen», sagt der Asylbewerber.

Seinen richtigen Namen will Ibrahim nicht nennen. «Sonst werde ich bestraft.» Er arbeitet schwarz. Das ist den temporären Arbeitgebern nur recht: So müssen sie keine Sozialabgaben bezahlen. Das Risiko trägt Ibrahim: Würde er bei der Arbeit verunfallen, stände er ohne Versicherung da.

Die Polizei schreitet nicht ein gegen die Schwarzarbeiter. Ab und zu werden hier zwar Personenkontrollen durchgeführt. Doch nur wer strafrechtlich gesucht wird, hat etwas zu befürchten. Man habe andere Prioritäten, heisst es bei der Zürcher Stadt- und Fremdenpolizei.

Lastwagen donnern vorbei, dann reiht sich wieder Auto um Auto in die Schlange vor dem Lichtsignal. Es ist laut vor dem Güterbahnhof im Kreis 4, es stinkt nach Abgasen. «Gewohnheitssache», sagt Ibrahim und zuckt die Schultern. Er spricht fast fliessend Deutsch. «Hieraus gelernt», behauptet er und zeigt auf die Gratiszeitung in seiner Jackentasche.

Erst kürzlich Vater geworden

Kurz vor sieben Uhr. Fejm kommt. Die beiden begrüssen sich herzlich, klopfen sich auf die Schulter. Sie stammen aus derselben Region im Kosovo, teilen das gleiche Schicksal.

Der Regen wird stärker. Fejm spannt seinen grünen Schirm auf, hält ihn auch über Ibrahim. Fejm spricht nur ein paar Worte Deutsch. Seine Frau habe kürzlich ihr erstes Kind zur Welt gebracht, erzählt er. Deshalb wäre er froh, ein paar Franken zu verdienen. «Aber es wird schwierig, eine Arbeit zu bekommen», sagt Ibrahim. «Im Sommer gibts mehr zu tun als jetzt.»

Auch der 25-jährige Fejm hat sich so am Strassenrand platziert, dass er von jedem vorbeifahrenden Fahrzeug aus gesehen werden kann. Aber es hält kein Lastwagen, kein Auto. Arbeitgeber machen sich heute Morgen rar.

Sieben Uhr. Langsam wird es heller. Ibrahim und Fejm verharren geduldig in der Kälte, unterhalten sich unter dem Schirm. Die beiden sind sich gewohnt, stundenlang zu warten – oft vergeblich. Wie gefährlich das Trottoir gleich nach der Kurve der Seebahnstrasse sein kann, ist ihnen nicht bewusst. Einmal krachten hier Granitplatten von einem Lastwagen auf die Fahrbahn. «Mir passiert schon nichts», meint Ibrahim. Fejm nickt.

Die Taglöhner, die täglich am Zürcher Güterbahnhof stehen, verrichten alle Arten von Jobs. Meist ist es harte körperliche Arbeit. «Oft helfe ich zügeln oder transportiere ein grosses Möbelstück», erzählt Ibrahim. Er habe schon geputzt, Waren aus einem Lastwagen gehievt oder einen Garten aufgeräumt.

Einmal sei es passiert, dass ihn der Arbeitgeber nicht bezahlen wollte. Erst nach zäher Diskussion habe er ihm die Hälfte des ausgehandelten Lohns gegeben. «Was kann ich dagegen tun? Ich habe sowieso keine Rechte.» Fast alle Taglöhner, die hier am Güterbahnhof warten, sind Asylbewerber aus dem Kosovo. Sie müssen wieder in ihre Heimat zurückkehren.

Maximal 20 Franken pro Stunde

Ungefähr 150 Stunden pro Monat steht ein Taglöhner an der Strasse. Wenn es hochkommt, verdient er ein paar hundert Franken. Pro Stunde werden höchstens 20 Franken bezahlt – bar auf die Hand.

Seit 1898 bieten Taglöhner am Zürcher Güterbahnhof ihre Dienste an. Der Bau der Gotthardbahn war beendet, und Zürich entwickelte sich zu einem Knotenpunkt des internationalen Bahnverkehrs. Damals gab es Arbeit in Hülle und Fülle. Und eine Baracke, in der sich die Taglöhner aufwärmen konnten. Sie wurde vor langem abgerissen.

Kurz nach sieben Uhr steht ein weiterer Mann auf dem Trottoir – nur ein paar Meter von Ibrahim und Fejm entfernt. «Ein Albaner», flüstert Ibrahim und macht eine abfällige Geste. «Mit denen wollen wir nichts zu tun haben. Die haben es nur aufs Geld abgesehen.»

Ibrahim und Fejm gehören zu den Gorani, einer ethnischen Minderheit aus dem südlichen Kosovo. «In Mitrovica, meiner Heimatstadt, arbeitete ich als Bäcker», erzählt Ibrahim. Dann habe er weggehen müssen, weil das Zusammenleben mit den Albanern in der geteilten Stadt untragbar geworden sei. Obwohl auch die Gorani Muslime sind, fühlen sie sich mehr mit den Serben verbunden als mit den Albanern.

Ibrahim flüchtete vor zwei Jahren mit seiner Frau und den drei Kindern in die Schweiz. Wie weitere 300 goranische Asylbewerber ist er im Besitz des Ausländerausweises F. Damit hat er kaum Rechte. Er kann seinen Wohnort nicht selber bestimmen. Und als Arbeiter käme er erst zum Zug, wenn ein freier Platz nicht durch einen Schweizer, einen niedergelassenen Ausländer oder einen Jahresaufenthalter besetzt werden könnte.

Es ist bald halb acht. Noch mehr Autos brausen vorbei, dafür hat es aufgehört zu regnen. Plötzlich stehen weitere vier Taglöhner um Ibrahim und Fejm herum. Man kennt sich und unterhält sich in Gorani, einer Mischung aus Mazedonisch, Türkisch und Serbisch. «Und, wie siehts heute aus?», erkundigt sich Azbi mit der Wollmütze. «Nicht besser als gestern», sagt Ibrahim. Ein paar Sprüche, Gelächter.

«Wohl keine Arbeit heute»

Die Zeit vergeht. Längst ist es hell geworden. Die Taglöhner stehen sich die Beine in den Bauch. Sitzmöglichkeiten gibt es nicht, ausser einem unbequemen Eisengeländer am Ende des Trottoirs. «Wohl keine Arbeit heute», sagt Ibrahim etwas später. Fejm reibt sich seine kalten Hände. Azbi liest in «Alem», einer goranischen Zeitung.

Er spricht ein paar Brocken Französisch und ein wenig Englisch, aber kein Wort Deutsch. «Das ist Dragash, das Dorf, aus dem ich komme», sagt er stolz und zeigt auf ein Bild in der Zeitung.

Plötzlich schaltet sich Hakile ins Gespräch ein. «Wenn ich einmal pro Woche Arbeit finde, habe ich Glück.» Er verrät nicht, seit wie vielen Monaten er zum Güterbahnhof kommt, auch nicht, wann er die Schweiz wieder verlassen muss. «Aber schreiben Sie, dass die Gorani gute Leute sind, die gerne arbeiten würden.»

Ibrahim und Fejm wissen nicht, wie lange sie noch in der Schweiz bleiben dürfen. Das Bundesamt für Flüchtlinge (BFF) will die Gorani bis April 2003 ausschaffen, da sich die Lage in ihrem Gebiet beruhigt hat. 2000 Franken zahlt das BFF allen Erwachsenen, die bis April in ihre alte Heimat zurückkehren – plus 1000 Franken für jedes Kind.

«Die Schweizer sind gut», sagt Ibrahim; das Geld könne er gut gebrauchen. Dennoch hofft er, länger hier bleiben zu dürfen. «Meine Tochter ist im ersten Lehrjahr», sagt er. Er werde ein Gesuch stellen, damit sein ältestes Kind die Ausbildung in der Schweiz beenden könne.

Eine Zigarette nach der andern

Allmählich beginnen die Füsse zu schmerzen. Ibrahim geht im Kreis, «damit ich mich ein bisschen aufwärmen kann». Noch immer hat sich kein Arbeitgeber eingefunden. Auto reiht sich an Auto, Lastwagen an Lastwagen.

Nur ein paar Strassen weiter entfernt befindet sich das Schweizerische Arbeiterhilfswerk Etcetera. Auch hier kommen Erwerbslose, grösstenteils Schweizer, zu Taglöhnerjobs: Fensterputzen, Laubwischen und Zügeln sind die am häufigsten angebotenen Arbeiten. Aber auch Firmen bieten dort ab und zu Aushilfsjobs an. 20 Franken beträgt der Stundenlohn; nach den Abzügen verbleiben noch Fr. 18.70. Ibrahim und die anderen Taglöhner vom Güterbahnhof kommen nicht hierher. Nur Ausländer mit Aufenthaltsbewilligung B oder C dürfen bei Etcetera der Taglöhnerei nachgehen.

Zehn Uhr. Nichts ist passiert. Kein Auto hält an. Kein Job in Sicht. Hakile zündet sich eine weitere Zigarette an, wohl die zehnte an diesem Morgen. «Warum ist es so schwierig, uns arbeiten zu lassen?», fragt er sich und schüttelt den Kopf. Etwas weiter hinten lehnt ein anderer Taglöhner am Geländer, das Gesicht in die Hände vergraben.

«Ich warte noch bis zwölf Uhr», sagt Ibrahim. «Danach gibts heute wohl keine Hoffnung mehr.» Längst hat sich der Albaner verzogen. Ob er wohl Arbeit bekommen hat? «Bestimmt nicht», zischt Hakile.

11.30 Uhr. Das Grüppchen löst sich allmählich auf. Fejm steht noch immer aufrecht am Strassenrand und diskutiert mit einem seiner Kollegen. Azbi hat sich verzogen, ebenso Hakile. Die beiden sind in die Asylunterkunft zurückgekehrt. Ibrahim schultert seinen Rucksack. «Vielleicht habe ich am Montag mehr Glück», sagt er und geht langsam davon.