Wo sind sie nur hingekommen, die Millionen von Lokomotivführern, Piloten, Tierärztinnen und Schauspielerinnen? Sie wurden sang- und klanglos begraben, irgendwo auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Die ambitionierten Mädchen und Buben von damals sind heute kaufmännische Angestellte, Handwerker, Versicherungsvertreter. Oder irgendetwas anderes, von dem sie nie geträumt haben.

Erwachsenwerden heisst eben auch, sich der Realität zu beugen. Angst und Rezession sind zwar schlechte Berufsberater, aber offiziell anerkannte. Zur gleichen Gattung gehören auch Familientraditionen und andere gesellschaftliche Druckmittel. Längst nicht jeder Arzt ist «berufen» oder jede Lehrerin die «geborene» Pädagogin.

Ansturm auf die Berufsberater

Berufliche Fehlgriffe scheinen weit verbreitet zu sein. Im Kanton Zürich wird jeder vierte Lehrvertrag noch vor der Abschlussprüfung aufgelöst. Einige machen ihre Kurskorrektur erst viel später: Karriere- und Lebensberater feiern Hochkonjunktur, die städtischen Berufsberatungsstellen haben es heute nicht mehr nur mit Jugendlichen zu tun, sondern zu 50 Prozent mit Erwachsenen, die sich umorientieren wollen oder müssen.

Viele andere «Fehlplatzierte» versuchen die berufliche Uber- oder Unterforderung mit hyperaktiver Freizeitbeschäftigung zu verdrängen. Selbstverwirklichung findet nicht am Arbeitsplatz statt, sondern am Feierabend im Hobbykeller oder im esoterischen Workshop.

Walter Wolfer kennt das nicht. Nach seinem Arbeitstag, der mitunter sechzehn Stunden dauert, braucht er weder Fitnessstudio noch Selbstfindungskurs oder Erlebniskick. Er ist das, was man den richtigen Mann am richtigen Ort nennt. Er wollte nie Pilot werden oder Lokführer, sondern immer schon das, was er heute ist: Metzger. Und zwar nicht jener, der hinter dem Ladentisch Schinken tranchiert oder appetitliche Häppchen kreiert. Walter Wolfer ist Metzger Typus B, Störmetzger – ein Beruf mit exzellenten Chancen auf eine Lehrstelle.

Wolfer erledigt den blutigen Teil in unserer Nahrungskette, jenen, den die Konsumenten lieber verdrängen und bei dem die meisten Menschen angeekelt wegschauen. «Aber Fleisch wächst nun mal nicht auf den Bäumen», sagt Wolfer. Damit hat der Mann natürlich Recht – ja selbst Vegetarier, die sich ab und zu ein Joghurt gönnen, müssen einsehen, dass die Kuh im Stall irgendwann den Gnadenschuss erhält und geschlachtet werden muss.

Wolfers Metier ist bestimmt nicht jedermanns Sache. Es kann einem unter die Haut gehen, wenn die Tiere am Strick ins kleine, frisch renovierte ländliche Schlachthäuschen geführt werden: Schuss zwischen die Augen, Kopf abhacken, Blut ablassen, Fell abziehen und dann im dampfenden Wirrwarr von Innereien das Verwertbare vom Abfall trennen.

Was für den Laien ein blutiges Hickhack ist und wie eine Szene aus einem Brutalovideo anmutet, ist für den Metzger beruflicher Alltag. Und dennoch: Wer Wolfer kennt, findet das Klischee des mordgierigen Schlächters überhaupt nicht bestätigt. Walter Wolfer ist ein warmer, sensibler Mensch. Eine ehrliche Natur. Er trägt das Herz auf dem rechten Fleck. Er liebt Tiere. Sie zu töten macht ihm keinen Spass. Es beschert ihm aber auch keine Albträume. Es ist ganz einfach ein Aspekt seiner Arbeit, wie das Filetieren, das Koteletthacken oder das Wursten. Letzteres gehört zu seiner Spezialität. Auf seine Blut-, Leber- und Bratwürste ist er stolz. Das Rezept heisst Wolfer – und bleibt sein Geheimnis.

«Die eigenen Tiere töte ich nicht»

Nicht nur die Wirte der Region können sich seit bald 37 Jahren auf Wolfer verlassen. Auch der Bauer mit Notfall im Stall weiss: Der Wolfer kommt – auch mitten in der Nacht. Einmal haben sie ihn gar aus dem Kino geholt. «Ich will nicht, dass die Tiere unnötig lange leiden», sagt er.

Sie sollen überhaupt nicht leiden. Den Todgeweihten, die zu ihm ins Schlachthaus kommen, redet er gut zu und streicht ihnen beruhigend über den Kopf, bevor er ihnen den tödlichen Bolzen setzt. Seine Art von Sterbebegleitung. Ein paar wenige Male, wenn eine Sau im letzten Moment den Kopf bewegt hatte, kam es vor, dass der erste Schuss nur verletzte. «Dann leide ich mit und habe mindestens so viel Herzflattern wie das quietschende Tier selbst.»

Die Geschöpfe mögen Nutztiere sein, unseren Respekt verdienen sie allemal. Darum ärgert sich Wolfer insgeheim, wenn er unter dem Kuhfell verräterische Stichwunden entdeckt: stumme Zeugen von zweckentfremdeten Mistgabeln und entnervten Bauern. Dass es auch anders geht, weiss Walter Wolfer, der nicht nur Metzger, sondern auch Bauer ist, aus eigener Erfahrung. Seinen 60 Jungmuni zu Hause will er das kurze Leben so angenehm wie möglich machen. Sie danken es ihrem Meister mit Zutrauen und würden ihm vertrauensvoll überallhin folgen. Auch in sein Schlachthäuschen. Nur, dort will er sie nicht haben: «Ich schlachte meine Tiere nicht selber. Das schaff ich einfach nicht.»

Imagepolitur für «Putzfrau»

Wolfer ist stolz auf seinen Beruf. Daran können weder die von der Presse ausgeschlachteten Fleischskandale etwas ändern noch die Tatsache, dass sein Handwerk auf der beruflichen Beliebtheitsskala ganz unten figuriert. Er weiss von jungen Branchenkollegen, die ihren Beruf verleugnen, wenn sie auf Brautschau gehen.

Der Berufsstand der Metzger ist nicht der einzige, der mit Imageproblemen zu kämpfen hat. Einige Berufsverbände versuchen mit verbaler Kosmetik eine Prestigekorrektur. So wird aus dem Totengräber ein Bestatter, aus der Coiffeuse eine Hairstylistin, aus der Serviertochter eine Servicefachangestellte, aus der Putzfrau eine Raumpflegerin. Sprachliches Feingefühl macht aus Kehrichtmännern Angestellte des Strasseninspektorats, aus Seelsorgern Mentoren, aus Stewardessen Flight Attendants, aus Briefträgern Zustellbeamte.

Auch das öffentliche Ansehen der Anwälte, Ärzte, Banker und Topmanager hat an Glanz verloren. Die einstigen Helden der Gesellschaft werden nicht mehr nur bewundert und um ihr fettes Einkommen beneidet, sondern zusehends als sozial und emotional verarmte Workaholics bemitleidet. Sie stehen plötzlich da als auserkorene Spitzenkandidaten für einen Herzinfarkt oder das Burnout-Syndrom. Dazu lastet auf ihnen die Mitschuld an Auswüchsen wie dem Fusionswahn und der Sucht nach maximalem Shareholder value.

Wer Berufung abblockt, wird krank

Schwierig, sich im Labyrinth der Berufe zurechtzufinden und nicht in Sackgassen zu geraten. «Wir haben verlernt, auf unsere innere Stimme zu hören, und zahlen dafür einen hohen Preis», sagt Psychotherapeut James Hillmann, Autor des Buchs «The Sole’s Code». Er ist überzeugt, dass jeder Mensch als «gute Idee» zur Welt kommt und mit der Zeit eine individuelle Konstellation von Charakter, Neigungen und Talenten ausbildet.

Um so tragischer, dass die meisten ihre Begabungen leichtfertig faulen Kompromissen opfern. Hillmann hat einen antiquierten biblischen Begriff entstaubt: die Berufung. Wer nicht nach ihr sucht, verleugnet sich selbst und riskiert Frustration, Depression und Angststörung. «Denn nichts ist so erschöpfend, wie auf Dauer gegen die innere Berufung zu leben und nicht das zu tun, was wir tun möchten.»