«Mami! De Globi!» Den Blick auf den Malbogen geheftet, kämpft sich das Mädchen durch die Wartenden. Die rund 50 Personen stehen etwas verloren in der Eingangshalle. Die Mutter mustert die Bildergeschichte, die die Kleine von der Hausführung erhalten hat. «Auf dem Tagesplan für heute steht das Parlamentsgebäude, das am Bundesplatze steht, über den jetzt Globi geht»

Bern, Bundeshaus, ein regnerischer Nachmittag. Ausserhalb der Session finden hier täglich sechs Führungen statt. Die nächste beginnt in zehn Minuten. Die Besucher: Touristinnen und Touristen von nah und fern. Zu deponieren sind grössere Taschen, Videokameras, Esswaren.

«Welcome to the Swiss Parliament!» Es ist 14 Uhr. Elisabeth Thürlemann hebt ihre Arme: «A special place, special guests ein besonderer Ort, besondere Gäste!» Das Mädchen deponiert den Globi-Malbogen neben dem bronzenen Bären. Die Präsentation wird heute in Deutsch und Englisch abgehalten.

«Dieses Haus», sagt die Führerin, «wurde fast ausschliesslich aus Schweizer Materialien gebaut.» Sie wird etwas leiser: «Wir stehen auf Solothurner Kalkstein. Der Sandstein der Wände stammt aus Ostermundigen, der Marmor der Säulen aus St-Triphon.»

Erster Halt der Gruppe: die Plattform unter der Kuppel. «Could you come a bit closer?» Elisabeth Thürlemann weist auf drei wuchtige Gestalten Kalkstein aus Brescia , deren Hände sich über dem Bundesbrief feierlich vereinen. «This is Werner Stauffacher, this is Walter Fürst, and this is Arnold von Melchtal. Uri, Schwyz and Unterwalden. This is how it all began.»

«Ich bin beeindruckt», sagt Birger Sörensen, Informatiker aus Dänemark. Er ist auf Durchreise. «Das Bundeshaus ist eine geschlossene Welt mit offensichtlich gutem Fundament.» Er lächelt freundlich.

Über der Haupttreppe zwei Gestalten in weissem Marmor. Elisabeth Thürlemann tippt per Lichtstrahl aus dem Pointer einer Skulptur auf die Brust: «Diese Figur steht für die Opferbereitschaft. It is Winkelried!» Der rote Lichtpunkt springt zur anderen Figur. «Hier ist Niklaus von Flüe die Versöhnung.» Das Treppengeländer: Marmor aus Merligen. Die vier Eckfiguren: unsere Landessprachen. «Sie haben die fünfte Landessprache vergessen», ruft der Rentner aus Köniz. «Ja? Und die wäre?» «Ds Mattenänglisch!», sagt er. Seine Frau lacht lange.

Elisabeth Thürlemann ist eine temperamentvolle Dame, hellwach, mit Mutterwitz, «überzeugte Bernerin», wie sie ernst erklärt. Sie liebt ihre Aufgabe, die sie sich mit drei Kolleginnen und einem Kollegen teilt. «Ich zeige den Leuten hier etwas Spezielles.» Natürlich gebe es auch schwierige Kunden Schweizer in der Regel, die über die Bundespolitik lästern würden. Da müsse man halt diplomatisch sein. «E chli nätt, e chli luschtig», lautet ihr Führungsprinzip.

Unter der Kuppel befinden sich vier Fenster mit Glasmalereien. Die Köpfe heben sich, die Kiefer fallen, und die 50 Besucher drehen sich in vier Schritten um die eigene Achse. Im Süden ein Ochsengespann mit Kornähren: die Landwirtschaft. Im Norden das Rheinufer: der Handel. Im Osten Glärnisch und Säntis: die Spinnerei. In das Staunen der Gesichter schleicht jetzt auch Anstrengung. Die Metallindustrie im Westen noch und dann das Insgesamt der Kantone: das grosse bewappte Kuppelrund. «Ein Kanton fehlt in diesem Kreis. Welcher?» Eine ältere Frau greift sich an den Nacken. Ein Primarschüler hebt die Hand. «Jura!» «Prima! Wo kommst du her?» «Jura!» «Und du sprichst Schweizerdeutsch?» Der Knabe nickt. Die Japanerin neben ihm nickt auch und strahlt. Elisabeth Thürlemann zeigt auf das Wappen des neuen Kantons es prangt just über den Häuptern der drei Gründer.

«Dass ein so kleines Land so viele Kantone hat!», staunt Maria Arribas Rosell. Sie ist in der Nähe von Barcelona aufgewachsen. Seit einem Jahr arbeitet sie in der spanischen Botschaft in Bern. Ihr Ressort: Sozialfragen. Ja, sie ist das erste Mal im Bundeshaus. Nein, Fotos mache sie keine hier. Das besorge die Nichte, die für eine Woche bei ihr zu Gast sei. Maria Arribas Rosell lacht: Eigentlich sei heute eine Reise nach Kandersteg geplant gewesen; der Regen habe sie ins Bundeshaus getrieben «sozusagen». Sie würde gern länger hier verweilen: «Wie robust das alles ist, wie monumental: so viel Bedeutung überall!»

«Mächtig beeindruckt» ist auch Dieter Klemm, langjähriger Bürger der ehemaligen DDR, 66 Jahre alt. 1985 schrieb er an die westdeutsche Regierung, er wünsche, sein Land zu verlassen. Seine Tochter kopierte den Brief für die Stasi: Klemm kam für neun Monate ins Gefängnis wegen «staatsfeindlicher Verbindungsaufnahme». Klemm lacht bitter. Heute wohnt er im deutschen Heidelberg. «Die Schweizer Demokratie ist vorbildlich für mich. Das Volk hat hier was zu sagen.»

Die Wandelhalle befindet sich in der Rückwand des Hauses. Die Rundbogenfenster sind hoch, das Dekor ist reichlich: Eine gewisse Feierlichkeit thront im Raum. «Die Türfüllungen stammen aus Grindelwald», sagt Elisabeth Thürlemann.

An der Decke prangen sechs Gemälde: Frauen mit ernstem Blick, sitzend, schwebend, schreitend «unsere Staatstugenden», wie die Führerin erklärt. Hier die Wahrheit, hier die Gesetzestreue, der Patriotismus, der Friede, die Barmherzigkeit. «Schauen Sie der Gerechtigkeit ins Auge», empfiehlt Elisabeth Thürlemann. «Sie sehen, dass der Blick dieser Frau Ihnen folgt.» Der folgende Rat ist eher praktisch: «Passen Sie auf die Stufen auf.»

Es ist hell im Nationalratssaal. Die Decke aus Glas wirkt leicht. Die Kinder staunen, die Fotoapparate klicken. «Voilà», raunt eine Französin. Sie atmet kräftig durch. Wo eigentlich Christoph Blocher sitze, fragt ein Mann. Ein Amerikaner will wissen: «How many presidents sit in here?» «Just one. Its Peter Hess.»

«Seht ihr die Frau in der Wolke, über dem See?», fragt Elisabeth Thürlemann. Wir stehen vor der «Wiege der Eidgenossenschaft», dem monumentalen Gemälde von Charles Giron. Die Führerin umkreist mit dem Pointer die weisse Gestalt, weist auf deren Olivenzweig. «Diese Frau ist der Beweis dafür, dass alle Frauen Engel sind. Angels you know» Die Führerin zwinkert in die Runde. Der Rentner aus Köniz lacht: «Wir Männer haben euch das Stimmrecht gegeben!» Elisabeth Thürlemann verzichtet auf die Übersetzung.

Im einstigen Tintenfass der Nationalratsbänke befinden sich heute zwei Druckknöpfe: zu betätigen bei der Stimmabgabe. Ein Zwischenfall machte einen Kontrollknopf nötig. «Ein Politiker ich will keinen Namen nennen vergriff sich zusätzlich am Knopf seines Nachbarn, der abwesend war.» Das wird kaum nochmals passieren: Auch der wendigste Politiker kann nicht vier Knöpfe gleichzeitig betätigen.

O nein, sie langweile sich nicht, sagt Isabel, vier Jahre alt. Sie stammt aus Guatemala. Konzentriert sitzt sie in der ersten Reihe des Saals. Ihre Mutter, seit sechs Jahren in der Schweiz, sagt: «Es ist gut, sind die Gesetze hier so streng.»

«Irgendwo liegt ein Fisch. Er ist nicht im Wasser.» Elisabeth Thürlemann weist nochmals aufs monumentale Bild. «Wer sieht den Fisch?» Sie schaut erwartungsvoll in die Runde. «Ah! Links! Oben! Auf dem ähm Balkon!», ruft ein Junge. Tatsächlich: auf einem Felsvorsprung eine ausgewachsene Forelle. Wie das? «Der Maler, ein Romand, beendete das Werk am 1. April. Und ein Aprilscherz heisst in der Romandie Aprilfisch. Hier liegt er!»

Das erste Bundes-Rathaus wurde als «Bundeshaus West» im Jahre 1857 von den Behörden übernommen. Der Komplex in der heutigen Form wird 2002 100 Jahre alt. Für die Feier im Jubiläumsjahr sind noch immer Renovationsarbeiten im Gang. Laut alter Auffassung sollen Bundesbauten «Nationaldenkmal und Tempel der Eidgenossenschaft» sein.

Nach der Einweihung 1902 waren die Kritiker allerdings nicht zimperlich: Sie sahen im neuen Bau einen «Strauss von Geschmacklosigkeiten». Neuzeitliche Kritiker bemängeln eher die Sicherheit. Grund: die acht Kurden, die das ehrwürdige Haus am 19. Dezember 2000 betraten.

«Sie verhielten sich erst ruhig», erinnert sich Elisabeth Thürlemann. «Ich stutzte nur, dass sie alle in der hintersten Reihe sassen.» Dann ging alles schnell. Die Kurden verbarrikadierten sich im Vorzimmer des Ständeratssaals, entrollten ein Transparent und schrien «Victory!» durchs offene Fenster. Weitere Landsleute rannten ins Gebäude. Elisabeth Thürlemann setzte ihre Führung zunächst unbeirrt fort. Dann kam die Weisung, das Haus sei zu räumen.

Bis zur Besetzung der Kurden wurde von den Besuchern kein Ausweis verlangt. Heute muss der Pass jedes Gastes am Eingang deponiert werden. Er wird erst nach Rückgabe des Badge wieder ausgehändigt. «Verlieren Sie Ihren Badge nicht», pflegt Elisabeth Thürlemann ihrem Publikum zu sagen. «Sonst kommen Sie hier nie wieder raus.»

Julia Sue ist chinesischer Herkunft. Sie wohnt heute in den USA. Das State House von Boston sei «einiges grösser» als das Bundeshaus, sagt sie; und doch sei dieses eindrücklich. Nein, viele Parlamentsgebäude habe sie auf ihrer Europareise nicht besucht. Aber: «Switzerland is special, for sure.»

Jährlich besuchen 60000 Personen das Bundeshaus. Eine Führung dauert drei viertel Stunden, der Eintritt ist gratis. In der Loge sind «preisgünstige Kugelschreiber» zu kaufen: drei Franken das Stück, mit der Aufschrift «Bundesversammlung». Das grosse Sackmesser mit Kuppelsignet verfügt über Schraubenzieher, Büchsenöffner und sechs weitere Klingen. Kostenpunkt: 15 Franken. Das kleinere, für Damen: zwölf Franken. Die Porträts von Peter Hess und Françoise Saudan werden gratis abgegeben.

«Ich habe eine Ratefrage», sagt die Führerin. «Wer kann mir sagen, wie viel die Infrastruktur unseres Parlaments einen Bürger im Jahr kostet?» «Three hundred Francs.» «Cinq cent, peut être?» «Viil! Jedefalls zviil!», ruft der Rentner aus Köniz. Elisabeth Thürlemann setzt die Pointe langsam. Unter Betonung jedes Wortes sagt sie: «Es sind acht Franken.» «Mann! Ihr seid günstig!», sagt ein Amerikaner.

«Politik hat immer mit Magie zu tun», erklärt Elisabeth Thürlemann im Ständeratssaal. Zu ihren Füssen die Dreikäsehochs. «Wenn ihr jetzt ganz fest denkt: Eins, zwei, drei, dann passiert etwas.» Die Kinder schauen die Führerin fragend an. Und plötzlich ist der eineinhalb Tonnen schwere Kronleuchter hell: 208 Glühbirnen leuchten, «das erste elektrische Licht der Stadt Bern», ein Geschenk aus Luzern, «a long time ago».

«Läck!», sagt ein Mädchen. «Wie putzt man den?», fragt ein Bub. «Ich glaube, mit der Leiter», sagt Elisabeth Thürlemann.

Es ist 14.50 Uhr. Das Wetter in Bern: noch immer regnerisch. Die Besucher bedanken sich. Die Drehtür geht geräuschlos. Die nächste Führung beginnt bereits in zehn Minuten.