«Das Gefühl ist unbeschreiblich. Das kannst du nie kriegen, wenn du auf der Erde bleibst.» Stefan Oberlander zwinkert vielsagend: «Fliegen.»

Es ist kurz vor Mittag. Die Wengernalpbahn rumpelt aus Lauterbrunnen bergan. Auf der Wytimatte leuchten Butterblumen, es ist heiss. Im Waggon asiatische Touristen. Oberlander, 35 Jahre alt, wohnhaft im Schwarzwald, sucht den freien Fall.

Die Zahnräder packen die 18 Prozent Steigung. Oberlander stellt seinen Höhenmeter auf null. Im kleinen Rucksack auf seinen Knien sind 22 Quadratmeter Fallschirmstoff gepackt, 90 Meter Leinenschnur, die Traggurte, die Steuerleine. Stefan Oberlander spricht leise: «Es ist reiner Fun.»

Der Begriff Basejumping stammt aus den siebziger Jahren. «Base» vereint die Anfangsbuchstaben von möglichen Sprungplätzen: «buildings», «antennas», «spans», «earth» (Gebäude, Antennentürme, Brücken, Felswände). Der erste belegbare «Basejump» fand in Osteuropa statt: 1617 sprang der Kroate Faust Vrancˇic´ vom 86 Meter hohen Dom von Bratislava. Und 1912 liess sich ein Frederick Law von der Freiheitsstatue in New York fallen.

«Fliegen ist nicht schöpfungsgemäss»
Stefan Oberlander wird sich in knapp einer Stunde von der Staldenfluh stürzen. Noch sitzt er in der Wengernalpbahn. Die Höhenmessung zeigt 80 Meter über Lauterbrunnen. Ein Kind schreit.

Unten im Dorf, unter Denkmalschutz, steht das Pfarrhaus hinter 250 Parkplatzfeldern. «Hier wohnen Eichenbergers», steht auf dem farbigen Emailschild. Peter Eichenberger, in Lauterbrunnen seit 15 Jahren im Amt, serviert Pulverkaffee. «Die Springer sind anständige Leute», sagt er. «Mit denen kann man tipptopp reden - da seit jede grüessech.»

Eine Frau habe ihm aber neulich dargelegt: Im Sprung merke sie, dass sie lebe. «Da ist doch etwas falsch. Ich möchte auch im Sitzen merken, dass ich lebe.» Luft sei nicht das Element des Menschen. «Um biblisch zu reden: Fliegen ist nicht schöpfungsgemäss.»

Eichenberger arbeitet in der Notfallseelsorge des Kantons. Er betreut auch Angehörige von tödlich verunfallten Basejumpern. «Da kommt mir manchmal die Galle hoch. Wegen eines Blödsinns wird so viel Leid angerichtet.»

Die Abneigung einiger Bewohner gegen das Basejumping erstaunt ihn keineswegs. Es sei auch schon vorgekommen, dass Jugendliche während einer Beerdigung gesprungen seien. «Ein gellender Lustschrei vom Staubbach her, und wir stehen vor dem offenen Grab. Das macht doch wütend. Das geht nicht.»

Der Pfarrer richtete vor knapp einem Jahr in seiner Kirche eine «Besinnungs-, Fürbitte- und Gedenk-Ecke für Gebirgsopfer» ein. «Jesus Christus, wir bitten Dich für alle Menschen in unseren Bergen: Begleite Du einen jeden auf seinem Weg», steht im Erinnerungsbuch.

380 Meter über dem Tal. Unten glitzert die Lütschine. Eine Japanerin winkt aus dem Bahnfenster. Stefan Oberlander verschränkt die Arme. «Ich hab mich oft gelangweilt in der Schule», sagt er. «Alles ging so schleppend voran. Das Neue war toll, aber das Interesse daran schwand schnell.» Ursprünglich Fotograf, erwarb er 1996 in Mannheim sein Patent als Fallschirmlehrer.

Am Bahnhof Wengen warten lärmende Touristen. 480 Meter über Lauterbrunnen. Ein alter Hund kläfft vor der Waggontür. Hans Jörg Wegmüller, Gründer und Inhaber von Taxi Wegmüller, bringt in seinem Mitsubishi «bis zu zehn Jumper aufs Mal» Richtung Absprung. Nein, an der Sprungstelle sei er noch nie gewesen: «Bim Taxi muess geng eine da sy.» Aber es nähme ihn schon wunder, «wie die abegeend, da vore». Unter den Springern habe es die verschiedensten Leute: «Norweger, Schweden, Kanadier; Ingenieure, Handwerker, Arbeitslose; Männer, Frauen. Viele treffen sich im Taxi das erste Mal.»

Bei Todesfällen ruft man nach Verboten
«Bergkäse, Mutschli, Roh-Esswürste ab Hof», steht auf dem Schild vor dem «Chalet bir Buchen» im Süden des Dorfs. Bäuerin Kathrin von Allmen wuchs «am anderen Ende, vier Kilometer nördlich» auf. Viele Basejumper landen auf ihrem Grundstück - rund 100 Meter vom Haus entfernt. «Sie stören mich nicht», sagt sie. «Die richten keinen Schaden an.»

Anfänglich, «vor zehn Jahren vielleicht», sei sie jedes Mal rausgerannt, wenn mit einem Knall dieser Schirm aufging. «Heute zucke ich schlimmstenfalls noch kurz zusammen.»

Im Laufe des Gesprächs kommt aber Wut auf: Letzten Herbst beobachtete Kathrin von Allmen, wie eine Mutter mit Kinderwagen ihrem über die Fluh springenden Mann zuschaute. «Den hätte ich ohrfeigen können. Wenn mein Mann damit anfinge, liesse ich mich scheiden.» Die zwei Todesstürze vom Osterwochenende haben sie bis in den Schlaf verfolgt.

Im alten Schulhaus befindet sich die Klöppelstube. Hier trifft sich der Klöppelverein jeden Freitag von 14 bis 17 Uhr. Noch in den fünfziger Jahren wurde das Kunsthandwerk am Strassenrand angeboten - heute droht es ganz zu verschwinden. Elsbeth Gertsch, Klöpplerin: «Die Basejumper sollen doch tun, was ihnen Spass macht.» In einem Schaufenster beim Bahnhof präsentiert die Theatergruppe Staubbach Szenenfotos aus «Viktor in Nööte».

Lauterbrunnen hat 1030 Hotelbetten und zahlreiche Ferienwohnungen. Die meisten der 900 Einwohner arbeiten in der Tourismusbranche. Der Prospekt lockt mit «Wandern, Fischen, Hallenbad, Minigolf, Natureisbahn». Im Dorfzentrum wirbt eine Agentur mit «Bungee-Jumping, River-Rafting, Paragliding, Canyoning, Sky-Diving, Glacier-Trekking».

Letzte Ostern verfing sich der Fallschirm von zwei Basejumpern an der Felswand. Beide Springer stürzten zu Tode. Einmal mehr wurde die Forderung laut, «die lebensmüde Sportart» zu verbieten.

Bruno Durrer, Notarzt der SAC Air-Glaciers und Bergführer, lebt seit 20 Jahren in Lauterbrunnen. Auf seinem Tischchen im Praxiszimmer liegen ein Nussgipfel, das Stethoskop und das Arzneimittelkompendium. Seit 1994 - dem Beginn des hiesigen Basejumpings - barg Durrer die meisten der 57 Verunfallten. Bei zehn kam jede Hilfe zu spät. Der Arzt gibt jedoch Entwarnung: «Es wird immer mehr gejumpt. Aber es passieren immer weniger Unfälle.»

Es wiederhole sich, was er von anderen Sportarten kenne: «Ich war junger Rettungsarzt, als in den achtziger Jahren die Gleitschirmfliegerei aufkam. Bei den ersten Unfällen hiess es gleich: verbieten. Dieselbe Reaktion gab es nach der ersten Canyoning-Katastrophe. Auch beim Basejumping wird sich diese Aufgeregtheit legen», ist der Arzt überzeugt. «Die Zeit der waghalsigen Einzelkämpfer ist vorbei. Längst tauschen die Sportler übers Internet Tipps und Warnungen aus.» Zum Beispiel diese: «Basejumping ist ein Risikosport. Behandlungskosten werden zwar vom Versicherer bezahlt; Renten und Taggelder werden jedoch um die Hälfte gekürzt - ja, sie können auch ganz verweigert werden.»

«Hier springen auch die Faulen»
492 Meter über Lauterbrunnen. Noch knapp vier Kilometer auf und ab bis zum Absprungsort. Stefan Oberlander schätzt, dass er mit 180 Kilometern pro Stunde ins Tal fliegen wird, bis der Schirm ihn bremst. Und was, wenn dieser sich nicht öffnet? «Richtig gefaltet, wird sich der Schirm mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch öffnen», so Oberlander ernst. Grosse Probleme entstehen, wenn er dies in die falsche Richtung tut - gegen die Wand. Der Jumper wird mitgerissen.

«Einen kühlen Kopf zu bewahren, flexibel und blitzschnell zu reagieren» - dies sei die «zentrale Kunst» dieses Sports. «Ich möchte noch keine Kinder haben», sagt Stefan Oberlander dann spontan: «Kinder brauchen jemanden, auf den sie sich verlassen können. Noch bin ich in der Lage, bloss im Augenblick leben zu können. Meine Freundin akzeptiert das.»

481 Meter. Ein steiler Weg abwärts liegt vor dem deutschen Jumper. «Früher haben wir uns hier durchs Dickicht geschlagen», sagt Oberlander. «Heute ist das ein Trampelpfad. Tausende sind da durchgegangen.» In der Tat: Einheimische schätzen zu Spitzenzeiten bis zu 50 Base-Sprünge pro Tag. Tendenz: massiv steigend.

Donald Campbell, 63, pensionierter Mechaniker aus Soest in den Niederlanden, hat seit 15 Jahren im Camping Breithorn seinen Standplatz - als Ausgangspunkt für Wanderungen. Neben seinem Wohnwagen stehen Mini-Chalets mit den Namen «Daheim», «s Träumli» und «Gemschiblick» - davor Autos, Zelte, Liegestühle. Eine Sprungwand befindet sich gegenüber dem Campingplatz. «Alles sieht immer sehr verstohlen aus», sagt Campbell: «Kaum sind die Jumper unten, rasen sie auch schon mit dem Auto wieder weg.» Er will ausserdem «regelmässig» die Polizei bemerkt haben, die das Gelände mit Feldstechern absucht: «Mir ist das nicht geheuer.» Die Liebe zu Lauterbrunnen aber schmälere dies «keineswegs». Donald Campbell schmunzelt lange.

«Have fun, don’t die»: So lautet ein Ratschlag für Basejump-Einsteiger auf der privaten Homepage www.base1007.ch. «Lass dir Zeit», «Schau zu, stelle Fragen, lerne», lauten weitere Tipps. Ein zentraler Rat dürfte der folgende sein: «Lerne Fallschirmspringen.» Stefan Oberlander: «Als ich anfing, hiess es: Nach 1000 Sprüngen aus dem Flugzeug kannst du an den ersten Basejump denken. Heute heisst es: nach 200. Und Realität ist, dass viele nicht einmal 150 hinter sich haben.»

Lauterbrunnen werde häufig unterschätzt. «Die Sprungorte sind hier leicht zugänglich. Es gibt keine strapaziösen Anmärsche. Mit anderen Worten: Auch Faule kommen hierher.»

601 Höhenmeter. Ein Bergbach muss mit Hilfe eines Handseils überquert werden. Danach fällt der Weg steil ab. Zwischen Fichten und Eschen blendet das Grün des Tals.

Höhenmeter 583. Stefan Oberlander trinkt. Wie soll man sich ihn vorstellen, als Kind? «Meinen Vater sah ich nach meinem zwölften Lebensjahr nie wieder. Er starb, als ich 16 war. Meine Eltern trennten sich früh. Es gibt Menschen mit grösseren Problemen.»

Das Thema scheint abgeschlossen. Ruhe. Dann sagt er: «Zwischen 17 und 21 hab ich exzessiv gekifft. Dauernd Musik gehört. Bin mit Freunden rumgehangen. Alles war endlos bunt.» In Thailand konsumierte er auch «Pilze und Pillen. Der Sport gab mir das Körpergefühl wieder.»

Der Wasserfall als Windmesser
Jenseits des Tals stürzt der Staubbach über die Felsen: Lauterbrunnens Erkennungszeichen. Eine Strähne stiebenden Wassers, 297 Meter lang. Er liefert nicht die einzige Geräuschkulisse. Insgesamt 320 Bäche erfüllen die Luft mit einem dauernden, leisen Tosen - zu hören vor allem in höheren Zonen. «Der Staubbach ist der ideale Windmesser», sagt Oberlander. «Wenn sein Wasser schon in der Hälfte ganz zerstäubt, dann sollte niemand springen.»

Nach drei tödlichen Base-Unfällen erlaubte sich Jost Brunner, Gemeindepräsident von Lauterbrunnen, eine Bemerkung: Auch die Eigerwand verdanke den Ruhm ihren Toten. Es hagelte Protestbriefe. Inzwischen ist Brunner überzeugt: «Das Basejumping ist eine Randerscheinung. Das Gros unserer Gäste sucht hier den konventionellen Sommer- und Wintersport.»

Rechtliche Abklärungen hätten zudem ergeben, dass sich der Extremsport grundsätzlich nicht verbieten lasse: «Jeder Sprung geschieht in Ausübung der persönlichen Freiheit. Es sei denn, er ende auf verbotenem Grund.»

Rund 30’000 Jahre ist es her, da bahnten sich hier gewaltige Kräfte ihren Weg. Wuchtige Wasser und schweres Geröll, bedeckt von unvorstellbaren Eismassen, brachen sich durch den Stein.

Der Vorgang endete zirka 16’000 Jahre vor unserer Zeitrechnung: Die Eiszeit klang aus, das Lauterbrunnental war geboren - und mit ihm bis zu 700 Meter hohe Felswände.

545 Höhenmeter. Stefan Oberlander hat seinen Helm aufgesetzt, die Skibrille, die Sprungschuhe angezogen. Wenige Zentimeter trennen seine Fussspitzen vom Abgrund. Er bittet um Stille, öffnet die Arme, geht den Sprung innerlich durch. Wenige Sekunden steht er reglos da. Dann springt er.

Seine Jacke flattert leise in der Luft. Innerhalb von zwei, drei Sekunden hat der Körper Streichholzgrösse und verschwindet unter einem Felsvorsprung. Kurz darauf taucht der geöffnete Fallschirm auf. Der Basejumper ist heil auf Höhe null gelandet.

«Was der Sinn von allem ist?» Stefan Oberlander überlegt nicht lange. «Ich denk doch, um glücklich zu sein. Mich wohl zu fühlen in meiner Haut.»