Pferde, Wind und Freiheit. Das war mein Eindruck vom Jura. Damals, als ich 17 war und mit einer Freundin und zwei Ponys durch die Freiberge streifte. Freilaufende Rosse kamen uns entgegen, wenn wir durch die Dörfer ritten. Ständig wehte eine Brise, die uns durch Haar und Gemüt fuhr. Und wir begegneten Menschen, die uns mit ihrer Eigenwilligkeit beeindruckten.

Inzwischen bin ich statt mit einem geliehenen Pferd mit meinem Fahrrad oder meinen Langlaufskiern unterwegs. Statt im Stroh oder Heu übernachte ich in einem Hotel mit Charme. Die Faszination für den wilden Westen der Schweiz aber ist geblieben.

Was macht diese Gegend so speziell? Ist die Freiheit im Jurabogen tatsächlich grösser als im Rest der Schweiz? Gibt es hier wirklich so viele Abweichler, Querköpfe und Rebellen? Oder ist das bloss romantische Verklärung?

Meine Spurensuche beginnt in Saignelégier, dem Hauptort der Freiberge, im Café du Soleil. Nicolas Barth, mit dem ich verabredet bin, hat den genossenschaftlich geführten Gastro- und Hotelbetrieb als Treffpunkt ausgewählt. Kunst an den Wänden, Flyer auf dem Fensterbrett und Oldies aus dem Radio – das Ambiente passt zum Bild, das ich mir im Vorfeld des Treffens von Barth gemacht habe. Der Wahljurassier ist ein Aussteiger. Ein Deutschschweizer, der seit 20 Jahren im Jura lebt. Einer, der seine Vorstellung von einem sinnvollen Leben umgesetzt hat. Der im Jura die Freiheit gefunden zu haben scheint. Darum will ich mit ihm sprechen.

Barth fährt vor, sein Kombi erfüllt das Klischee des Nonkonformismus. Das Chassis ist mit Blumen, Sonnen und einer Krone über der Frontscheibe verziert. Der 51-Jährige selber wirkt recht normal: kurze Haare, filigrane Brille, sportliche Statur. Das Gespräch beginnt allerdings sonderbar. Statt auf meine Fragen zu antworten, will Barth philosophieren. Als ich mir Notizen mache, muss er zurück ins Auto. Er möchte zeichnen und braucht dazu einen Bleistift der Härte 4B und unliniertes Papier.

Auf meine Fragen geht Barth erst ein, nachdem wir ins 500 Meter tiefer gelegene Soubey gefahren sind. Die Gemeinde zählt 150 Einwohner, ist bei Forellenfans beliebt und als Funkloch bekannt. Abseits vom Dorf, am Ufer des Doubs, besitzt Barth einen Bauernhof. Er, der Rechtswissenschaften studiert hat und als Enkel des Theologen Karl Barth aus einer intellektuellen Familie stammt, hat das einfache Leben gewählt. Dank Erbschaft konnte er vor zwölf Jahren den Hof erstehen. Die Einkünfte stammen hauptsächlich aus Subventionen für den Biobetrieb.

Warum ist seine Wahl auf diesen Ort gefallen? «Im Jura hat es Platz. Nicht nur physisch, sondern auch ideell – wobei das eine natürlich das andere beeinflusst.» Barths Anwesen umfasst eine Fläche, die mehr als 50 Fussballplätzen entspricht. Die Toleranz der Jurassier gegenüber Andersdenkenden erklärt der Aussteiger mit der räumlichen Distanz: «Meine Nachbarn wohnen rund drei Kilometer entfernt. Denen ist egal, was ich hier hinten auf meinem Hof treibe.»

Sein Bauernhaus ist ein Phantasiereich. Auf dem Scheunentor strahlt eine riesige Sonne. Die Küchendecke überziehen weisse Wolken auf blauem Grund. Und der Boden eines Zimmers ist mit Schotter aus dem nahen Flussbett bedeckt. Barth vermietet das Zimmer an Menschen, die Erholung in der Natur suchen.

Doch sein Paradies hat Schattenseiten. Vor ein paar Jahren ist Barths Frau mit den beiden schulpflichtigen Kindern nach Delémont gezogen. Seitdem lebt der Biobauer allein im riesigen Haus. Er wünscht sich neue Mitstreiter, die seinen Traum vom naturnahen Leben teilen, mehr Leben auf den Hof bringen und ihn mit der Welt verbinden. Zu viel Freiheit macht einsam.

Das Thema Freiheit treibt auch Michel Nemitz um. Der Sozialarbeiter ist bekennender Anarchist und administrativer Leiter des linksalternativen Kulturzentrums Espace Noir in St-Imier im Berner Jura. Pferdeschwanz, Dreitagebart und Charakternase. Ein schräger Vogel. Sein Büro im Parterre ist vollgestopft mit Büchern und Zeitschriften – ein einziges Chaos. Auch auf seine Erscheinung scheint er keinen Wert zu legen. Umso mehr beeindruckt der 53-Jährige mit seiner Analyse des Wesens der Jurassier: «Der Jurabogen war schon immer ein Carrefour, ein Knotenpunkt, wo sich die Menschen und die Ideen vermischten. Deshalb kann hier so viel Neues und Eigensinniges entstehen.» Das verlangt nach einer Erklärung, denn eigentlich ist die Gegend mit ihren zwischen ausgedehnten Wäldern und Weideflächen verstreuten Weilern doch alles andere als Tokios Trendbezirk Shibuya.

Nemitz holt aus und beginnt im 17. Jahrhundert. Damals wurden im reformierten Kanton Bern zahlreiche evangelische Sekten wie die Wiedertäufer und Mennoniten von der Obrigkeit verfolgt. Der Bischof von Basel erlaubte den Anhängern dieser Glaubensgemeinschaften, die zu seinem Bistum gehörenden Jurahöhen zu besiedeln. Unter einer Bedingung: Sie durften ihre Häuser nicht unterhalb einer Höhe von 1000 Metern über Meer bauen. Ein cleverer Schachzug des Kirchenmannes. Denn zuvor war das Hochplateau wegen seines rauen Klimas kaum bewohnt gewesen. Und das, obwohl die katholische Kirche im 14. Jahrhundert einen Freibrief ausgestellt hatte, der die Bauern der höher gelegenen Gebiete von Steuern befreite und der Gegend den Namen Freiberge eintrug.

Die Sekten existieren noch heute. Im 4300-Seelen-Dorf Tramelan leben Angehörige von über zehn Religionsgemeinschaften. Die Gegend scheint Spirituelle anzuziehen, wie etwa das 1999 eröffnete Meditationszentrum Dhamma Sumeru auf dem Mont Soleil beweist.

Die Uhrenindustrie bescherte der Region im 19. Jahrhundert einen zweiten Schub. Die Bevölkerungszahl von St-Imier verfünffachte sich innert weniger Dekaden und erreichte 1890 mit 7600 ihren Höchststand. Beinahe hätte es die Kleinstadt hinter dem Chasseral zu Weltruhm gebracht. 1872 konstituierte sich hier die Anti-autoritäre Internationale. Die kommunistische Splittergruppe lehnte die zentralistischen Ideen von Karl Marx ab und strebte eine föderalistische Gesellschaftsform an, die die Freiheit des Individuums gewährleisten sollte. Die Geschichte nahm bekanntlich einen anderen Lauf.

Ganz ausgestorben sind die Ideen von damals nicht. Kommenden August treffen sich in St-Imier 2000 Anarchisten aus aller Welt. Sie werden das Städtchen, in dem heute viele Häuser leerstehen, gehörig aufmischen. Die Veranstalter wollen Bilanz ziehen über die bisherigen Kapitel des Anarchismus und vorwärtsblicken. Auch Anarchisten gehen mit dem Zeitgeist: Geplant sind Konferenzen und Workshops zu Stichworten wie «Décroissance» oder «Selbstverwaltung».

Aufmüpfig waren die Jurassier schon immer. Das zeigte sich auch in der Jurafrage, der umstrittenen Abspaltung des Nordjuras vom Kanton Bern. 1979 gründeten die drei Bezirke Ajoie, Franches-Montagnes und Delémont einen eigenen Kanton. Vorangegangen waren dem Entscheid, der der Einwilligung des Schweizer Stimmvolks bedurfte, während Jahrzehnten Scharmützel und einige Bombenanschläge.

Pierre-André Marchand war damals an vorderster Front dabei. Allerdings warf er nicht Molotowcocktails, sondern vertraute auf die Wirkung seiner scharfen Zunge und seiner spitzen Feder. Er gehörte der separatistischen Jugendgruppe «Béliers» (französisch für «Widder») an und amtete als Chefredaktor des Satiremagazins «La Tuile», der Ziegel. Damals wie heute gibt er den Regierenden mit seinem zwölfseitigen Blättchen einmal pro Monat gehörig aufs Dach – wobei er inzwischen auch die jurassischen Potentaten nicht verschont.

«C’est une connerie. Früher haben wir gegen die Berner gekämpft, damit sie uns unsere Sprache und unsere Ruhe lassen. Jetzt müssen wir die Deutschschweizer holen, damit diese Dummköpfe von Jurassiern die Landschaft nicht verschandeln», poltert der 68-Jährige, als ich ihn in Soulce besuche, in einem kleinen Dorf, das sich wie viele andere Dörfer im Jura entlang einer Strasse entwickelt hat.

Marchand spricht von der Autoteststrecke in Vendlincourt. Sie wurde durch einen Bundesgerichtsentscheid verhindert, den eine kleine Gruppe von Einwohnern mit Unterstützung des Umweltschützers Franz Weber erwirkt hatte. Die Initianten wurden 2011 mit dem vom Beobachter verliehenen «Prix Courage» ausgezeichnet.

«Rebellen? Die Jurassier? Das war einmal!», winkt Marchand ab. Er zieht dabei die Mundwinkel so sehr nach unten, dass er aussieht wie eine der Karikaturen in seiner Zeitschrift. Theatralik und markige Worte: Der frühere Primarlehrer weiss, wie man Aufmerksamkeit gewinnt.

«Die Jurassier sind Arschkriecher geworden. Sie machen auf gute Schüler und wollen richtige Schweizer werden.» Vom Geist der Widerstandsbewegung sei wenig übrig, und von den Béliers, «ces pauvres gosses», gebe es auch nicht mehr viele. Überhaupt die Jungen! «Das sind alles Schafe, die brav mit der Herde ‹trotteln›.» Dabei sei es an ihnen, gegen Betonpisten und Windparks zu kämpfen. Aber nein. Wehren würden sich nur ein paar Alte.

Die einst schlagkräftigen Widder sind tatsächlich am Einnicken. Früher machten sie mit medienwirksamen Aktionen auf sich aufmerksam. 1984 etwa entführten sie den Unspunnenstein, 2009 klauten sie den Triangulationspunkt von der geographischen Mitte der Schweiz.

Heute sind die Jungrebellen still. Sie betreiben zwar noch eine Website, aber das Kontaktformular funktioniert nicht; Anfragen via Facebook bleiben unbeantwortet. Und das, obwohl seit langem wieder einmal etwas passiert: Der Südjura wird voraussichtlich 2013 über den Anschluss an den Kanton Jura abstimmen. Sagt die Region Nein, können die bernjurassischen Gemeinden innert zweier Jahre eigene Abstimmungen beantragen. Auch Exklaven wären dann möglich, also Gebiete ohne direkten Anschluss an den Kanton Jura.

Neuzugänge wie das einwohnerstarke Städtchen Moutier wären ein Segen für den jüngsten Kanton der Schweiz. Denn der Jura hat ein grosses Problem: Er ist arm. Ein Jurassier muss mit bloss 38'000 Franken jährlich auskommen, dem im Kantonsvergleich tiefsten Nettoeinkommen. Zudem zahlt er 40 Prozent mehr Steuern als der Durchschnittsschweizer. Ohne die Zuschüsse aus dem Finanzausgleich wäre es noch mehr. Gleichzeitig leistet sich der Kanton eine Verwaltung mit 900 Beamten, einen «Wasserkopf», wie böse Zungen behaupten.

Der Regierungssitz in Delémont ist bescheiden: Das Büro der Regierungspräsidentin Elisabeth Baume-Schneider befindet sich in einem grauen Wohnblock am Stadtrand. Der kecke Auftritt der 47-Jährigen bietet einen perfekten Kontrast zur tristen Umgebung. Kurzer Rock, blaue Lederjacke und rötliche Haare. Sie spricht in atemberaubender Geschwindigkeit französisch. Und selbst, wenn sie zwischendurch in akzentfreies Berndeutsch fällt, rattert die Bildungsministerin im Schnellzugtempo weiter.

Baume-Schneider ist sich der wirtschaftlichen Probleme ihres Kantons bewusst, setzt jedoch grosse Hoffnungen in die Zukunft. «Wir haben jetzt den TGV ab Belfort. Im Sommer kommt die Tour de France. Und ab 2016 wird die A16 von Biel nach Boncourt durchgängig befahrbar sein.» Die neuen Verkehrswege würden den Jura sowohl für Touristen wie auch für Unternehmer attraktiver machen. Als Beispiele nennt sie die Firmen Swatch Group und Tag Heuer, die beide im Pruntruter Zipfel neue Uhrenfabriken mit Hunderten von Arbeitsplätzen planen.

Birgt das nicht auch eine Gefahr? Wird der Jura bald so zersiedelt sein wie das Mittelland? Droht durch die Modernisierung ein Identitätsverlust? «Mais non, wir sind immer noch Jurassier. Wir mussten lange für unsere Würde und Unabhängigkeit kämpfen. Darum gehen wir auch zukünftig eigene Wege.» Ausländer hätten längst das Recht, auf Gemeinde- und Kantonsebene an Abstimmungen teilzunehmen. Auch die Aufnahme zweier Uiguren aus Guantánamo sei ein Akt der Solidarität gewesen. Und was die Zersiedelung betrifft: «Wir lernen von den Fehlern, die man anderswo in der Schweiz gemacht hat.»

Die Magistratin wirkt sympathisch. Selbst wenn sie das Gespräch für einen Werbespot missbraucht und von tiefen Immobilienpreisen, unberührter Natur, innovativen Hoteliers, spektakulären Grotten, sensationellen Saurierspuren und der französisch angehauchten Freundlichkeit der Jurassier schwärmt. Sogar der Satiriker Marchand findet: «La petite Baume? Elle, ça va!» Was aus dem Munde dieses Mannes einem Ritterschlag gleichkommt.

«Madame la Ministre» legt sich für ihren Kanton ins Zeug. Auch wenn es darum geht, für gute Presse zu sorgen. Sie nennt mir eine ganze Reihe von Querköpfen, die ich auch noch besuchen könnte. Etwa den 18-Punkte-Koch Georges Wenger in Le Noirmont, der sich gegen ein Restaurant an bester Lage entschieden hat und seinen Gästen eine lange Anfahrt zumutet. Den Festivalorganisator Gilles Pierre, dem es Jahr für Jahr gelingt, 20'000 Besucher zum «Chant du Gros» in die Freiberge zu locken. Oder den gebürtigen Argentinier Facundo Agudin, der das jurassische Symphonieorchester leitet.

Ich entscheide mich für einen Besuch beim Künstler Oscar Wiggli. Eine beeindruckende Erscheinung: tiefe Furchen im Gesicht, eine schneeweisse Mähne auf dem Kopf und viel Schalk um die Augen. Nicht nur optisch hat er etwas von Albert Einstein. Wiggli scheint ebenfalls ein Multitalent zu sein. Ausser für riesige Eisenplastiken ist der 85-Jährige auch für seine Klangexperimente bekannt.

Wiggli lebt in Muriaux bei Saignelégier. Vor mehr als 50 Jahren sind er und seine Frau Janine aufs Hochplateau gezogen. «Unsere Freunde in Paris sagten: ‹Ihr geht ins Exil›», erinnert sich die Bretonin und muss lachen. Sie hätten zwar die Abgeschiedenheit gesucht, aber abgeschnitten von der Welt hätten sie sich nie gefühlt.

Den Menschen im Jura scheint es wie den Fichten in diesem stillen Winkel der Schweiz zu ergehen. Die offene Landschaft bietet ihnen Raum zum Wachsen – sei es, um knorrige Äste zu bilden oder eigene Ideen zu entwickeln.

Ist das der Grund, weshalb das Künstlerpaar Wiggli in den Jura gezogen ist? «Ich wuchs in Solothurn auf und besuchte als Bub mit meinem Vater den Marché-Concours, den jährlich stattfindenden Pferdemarkt in Saignelégier. Die Landschaft hat mich schon damals magisch angezogen.» Bei der Frage, warum die denn so speziell sei, muss der Künstler lange überlegen. Er nippt an seinem Cognac und sagt dann: «Hier oben ist man dem Himmel ein Stück näher.»