Zehn junge Männer sitzen mit versteinerten Mienen um einen Tisch. Leises Klappern unterbricht die Stille, wenn die Spieler die vor ihnen gestapelten Türmchen aus Plastikgeld leicht anheben, um dann Chip für Chip auf den Tisch rattern zu lassen - eine Mischung aus Imponiergehabe und Nervosität. Der Raum mit dem Charme eines Bunkers ist rauchgeschwängert, zwei schief hängende Schwarzweissbilder vom Typ «Chicago der dreissiger Jahre» deprimieren eher, als dass sie schmücken, ein Fernseher flimmert in einer Ecke. Einzig die Panzertür im Hintergrund lässt die ehemalige Funktion des lieblos eingerichteten Zimmers erahnen: Es ist der Tresorraum der ehemaligen Solothurner Handelsbank. Während oben in der einstigen Schalterhalle Billard gespielt wird, markieren die Männer unten mässig erfolgreich den coolen Macker. Immer wieder steht einer auf und holt neue Chips. Ab und zu steigt einer aus. Vielleicht genug gewonnen, wahrscheinlicher genug verloren. Cash-Game nennt sich diese Spielvariante. Sie ist in der Schweiz ausserhalb von Kasinos verboten.

Betulicher und vor allem legal geht es derweil in einem alten Fabrikgebäude im Berner Vorort Köniz zu und her. 38 Personen haben sich zu diesem Turnier - Preissumme: 560 Franken - eingefunden. Per Beamer werden laufend aktuelle Infos über den Spielverlauf an die Wand projiziert. Die Spieler, die meisten zwischen 25 und 35 Jahre alt, haben bei Turnierstart je 20 Franken bezahlt und dafür Chips im Wert von 8000 Spielpunkten erhalten.

Mike Ritschard, 32, Präsident Verein Pokerhill
«Je höher wir bei Turnieren das Buy-in ansetzen, desto spezieller und unberechenbarer sind die Teilnehmer. Wer aber gross Geld ausgeben und zocken will, kommt nicht zu uns. Klar, die Kasinos profitieren von uns. Ich würde gern Kurse für Achtjährige oder ein Streetpoker organisieren, ähnlich wie Beachsoccer.»

Der Sieger steht erst nach Mitternacht fest. Er muss die Preissumme mit den drei nachfolgend platzierten Spielern teilen, ihm bleiben 266 Franken. «Wer gross Geld ausgeben und zocken will, kommt nicht zu uns», sagt Mike Ritschard, Veranstalter und Präsident des Vereins Pokerhill. Unter diesem Label wird inzwischen in einer Reihe von Billardhallen, Bars und Pubs gepokert. Das Fieber breitet sich von Köniz aus nach Bern, über Düdingen FR und Müntschemier im Grossen Moos, weiter nach Rüschegg Heubach in den Berner Voralpen bis nach Kandergrund.

Vom Saloon in den Landgasthof
1829 brachten französische Siedler das Kartenspiel in die USA. Dort breitete es sich insbesondere im Wilden Westen während des Goldrauschs rasant aus. Poker, wo im Gegensatz etwa zum Jassen zwingend um Geld gespielt wird, hängt der Ruch einer Geldbeschaffungsmethode arbeitsscheuer Zeitgenossen an: unlautere Gestalten, die auf Mississippidampfern mit locker sitzendem Schiesseisen Haus und Hof verzocken, Mafiabosse, die in Bordellhinterzimmern goldene Uhren und auch mal eine Dirne als Einsatz geben, Drogendealer, die die Wartezeit bis zur nächsten Lieferung überbrücken.

Zurück nach Europa fand das Spiel, das auf dem alten Kontinent bis dato fast nur im Internet stattfand, erst vor kurzem. Und zwar in aller Biederkeit: Es hielt Einzug in helvetische Schulhäuser, Mehrzweckhallen, Landgasthöfe und Kirchgemeindesäle. Als Mitauslöser gilt der James-Bond-Film «Casino Royale», bei dem die traditionelle Kasinoszene für einmal nicht am Roulettetisch, sondern beim Pokern stattfindet. Parallel dazu lancierte die Industrie eine breite Marketingoffensive, etwa mit Fernsehübertragungen von Pokerturnieren zur Hauptsendezeit. Mit Erfolg: «Seit März 2005 hat sich der Umsatz jedes Jahr verdoppelt», freut sich Detlef Erhardt, Geschäftsführer von Animazing, dem grössten europäischen Fachmarkt für Kasino- und Pokerbedarf. Zurzeit könne man Blumentöpfe verkaufen, wenn nur Poker draufstehe, liess er sich bereits im Jahr 2006 im «Spiegel» zitieren. 2007 erzielte Animazing allein mit Pokerzubehör einen Umsatz von sieben Millionen Euro.

Rino Mathis, 36, Profi-Pokerspieler
«Pokern ist für mich lukrativ. Ich verdiene heute wesentlich mehr als in meinem früheren Beruf. Für mich ist Spielsucht kein Thema. Denn ich muss nicht pokern, ich will. Das Wichtigste beim Pokern ist die Selbstdisziplin. Es sind reine Disziplin und das spielerische Geschick, die den besseren Pokerspieler ausmachen.»

Promis vor den Karren gespannt

Das Spiel, das über Jahre in den staatlich lizenzierten Kasinos ein Mauerblümchendasein fristete, setzte plötzlich zum gesellschaftlichen Boom an. Das Grand Casino Bern nennt Poker einen «Trendsport» und organisiert dieses Jahr zum zweiten Mal eine Turnierreihe, in der Krethi und Plethi gegen Promis pokern können. Letztes Jahr liess sich Stadtpräsident Alexander Tschäppät ebenso für die Kasinowerbung einspannen wie Sänger Gölä, die Snowboarderin Tanja Frieden oder Ex-Regierungsrätin Elisabeth Zölch (SVP). Wie viel das Lokalfernsehen TeleBärn an Sponsoringgeldern für die Übertragung der Spiele erhält, wollen die Beteiligten nicht bekanntgeben.

Als Ende 2007 die Eidgenössische Spielbankenkommission erklärte, die Turniervariante Texas Hold’em sei aufgrund der geringen Geldeinsätze und der langen Spieldauer nicht primär ein Glücks-, sondern ein Geschicklichkeitsspiel, durfte unter Einhaltung gewisser Regeln plötzlich auch im privaten Rahmen gezockt werden. Seither darf jedermann ein Pokerturnier organisieren, sofern nicht kantonale Vorschriften das explizit verbieten. So finden heute ausserhalb der Kasinos Monat für Monat über 450 Texas-Hold’em-Turniere mit bis zu 300 Teilnehmern statt sowie eine unbekannte Anzahl - illegale - Cash-Games. Die Schweizer Pokerszene wird inzwischen auf 300'000 bis 400'000 Personen geschätzt, vorwiegend junge Männer.

Das Lamento der Kasinoindustrie über diese plötzlich erwachte Konkurrenz ist gross. Der Verband setzte zur Gegenoffensive an und reichte beim Bundesverwaltungsgericht gegen den Erlass der Spielbankenkommission Beschwerde ein - die diesen Frühling in einem Zwischenentscheid allerdings abgeschmettert wurde. Der definitive Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts steht noch aus.

Die Gegenwehr der Spielbanken ist zwar heftig, aber nicht weniger scheinheilig: «Die Kasinos profitieren von unseren Turnieren», sagt Mike Ritschard von Pokerhill. Mit der Pokergemeinde wächst auch die potentielle Kasinokundschaft: Poker wird über die legalen Turniere in breite Bevölkerungsschichten getragen. Die Migros-Klubschule etwa organisiert allein dieses Jahr mehrere Dutzend Pokerkurse. In Biel, Bern, Thun, Olten, Aarau und Zofingen ermöglicht sie dem Grand Casino Bern direkten Zugang zu Pokeranfängern: Die Referenten sind Kasinoangestellte. Und die Stadt Bern wird in diesem Sommer im jährlichen Ferienpass-Programm Schulkindern Pokerkurse anbieten. «Unfassbar», so der Bremer Spielsuchtexperte Gerhard Meyer. Denn für Suchtgefährdete können die legalen Turniere gleichsam eine Einstiegsdroge sein.

Quing Nguyen, 31, Produktmanager IT-Branche
«Das erste Mal spielte ich Poker in der Schulzeit. Seit drei Jahren pokere ich intensiv und bezeichne mich als fortgeschrittenen Spieler. Ich spiele lieber live als im Internet. An Turnieren macht es mehr Spass. Nebenbei betreibe ich das Internetportal Pokerfreunde.ch und organisiere Turniere mit bis zu 300 Teilnehmern.»

Im Kasino klingelt die Kasse

Das eine sagen und das andere tun scheint in Sachen Poker das Motto der Kasinos zu sein. Sie veranstalten nicht nur selber täglich Pokerturniere, bieten kostenlose Schulungsabende mit Gratischips, Gratisgetränk und «Schulungszertifikat» an. Das Casino Baden - Eigenwerbung: «Epizentrum der Schweizer Pokerszene» - investiert inzwischen selber ausgerechnet in die Szene, die Marc Friedrich, Geschäftsführer des Dachverbands, anfangs als «Parallelbranche» verteufelte: Über 20'000 Franken steckt die Marketingabteilung beispielsweise zurzeit in eine laufende Turnierreihe der Internetplattform Pokerfreunde.ch. Bezahlen kann die Spielbank die Investition in künftige Kunden aus der Portokasse - letztes Jahr liessen Glücksspieler in Baden über 106 Millionen Franken liegen.

Am meisten aber sahnen Online-Pokerportale ab, für 2005 schätzte die Münchner Beratungsfirma MECN den weltweiten Umsatz auf 60 Milliarden Dollar, Tendenz steigend. Fulltiltpoker etwa, eines der weltgrössten Online-Portale, bindet als Sponsor in verschiedenen Ländern Profispieler als Sympathie- und Werbeträger an sich. In der Schweiz ist Rino Mathis Fulltiltpoker-Aushängeschild. Der wohl erfolgreichste Schweizer Pokerspieler der letzten Jahre ist für viele der Beweis, dass sich mit Pokern Geld verdienen lässt. Über seinen Verdienst sagt er jedoch nur so viel: «Pokern ist für mich lukrativ. Ich verdiene heute wesentlich mehr als in meinem früheren Beruf.» Doch Mathis ist eine Ausnahmeerscheinung. In früheren Jahren verpasste er nur knapp den Schweizer Juniorenmeistertitel im Schach. Darauf gewann er die Europameisterschaften im Backgammon. Heute verbringt er täglich ein bis zwei Stunden am Computer und testet Strategien, am Abend absolviert er kleinere und grössere Turniere im In- und Ausland. Aber auch er ist vor Verlust nicht gefeit: Vor kurzem verlor er an einem Turnier in Monte Carlo (Preissumme: 2,5 Millionen Euro) stolze 30'000 Franken. Investieren nennt er das.

Poker und andere Glücksspiele sind keineswegs Spass und Unterhaltung in glamourösem Ambiente, wie das Veranstalter und Kasinos gerne beschreiben. Frauen und Männer, die offensichtlich auch ausserhalb der Kasinos nicht gerade auf der Gewinnerseite des Lebens stehen, setzen mit starrem Blick ihr sauer Verdientes, ihre Rente, ihr Haushaltsgeld. An den Spieltischen herrscht eisiges Schweigen, der soziale Kontakt beschränkt sich allenfalls auf Small Talk vor und nach dem Spiel. Der 31-jährige Quing Nguyen, Betreiber der Website Pokerfreunde.ch, schreibt in einem Eintrag im Forum der Pokerfreunde: «In den meisten Fällen nehmen Pokerspieler ihre Mitspieler als andere Spieler wahr und nicht als Menschen. Fragt euch mal, wie gut ihr eure Pokerfreunde kennt.»

Martin Abgottspon, 24, Online-Sportredaktor
«Ich pokere pro Woche etwa zehn Stunden. Es ist schon ein wenig verrückt: Als ich noch studierte, habe ich das wenige Geld, das ich hatte, oft verloren. Seit ich aber ein festes Einkommen habe, läufts viel besser. Ich wage eher die mutigen Entschlüsse, die gewisse Situationen erfordern, und habe so bessere Gewinnchancen.»

«Ein katastrophales Signal»

Selbstkritik ist in der Szene selten. Von Sucht spricht kaum einer, erst wenn wirklich alle Geldquellen versiegt sind und der totale Zusammenbruch des sozialen Gefüges ansteht, gestehen sich Spielsüchtige ihre Abhängigkeit ein. Dabei kann Pokern, wie stoffgebundene Substanzen, beispielsweise Heroin, körperlich süchtig machen. «Es gibt mehr Süchtige, als man denkt, sie streiten meist ab, süchtig zu sein, und bringen Ausreden wie: ‹Ich will etwas erreichen, dafür muss ich trainieren›», schreibt etwa der 24-jährige Marco Orlandi in einem Pokerforum. «Ich selber habe die Sucht auch schon bemerkt. Wenn ich mehrere Tage in jeder freien Minute nach Hause gehe, um vor dem PC online zu zocken, dann nagt das schon sehr an mir. Dann muss ich wirklich eingestehen, dass ich einer Sucht schon sehr nahe bin. Dann brauchts wieder einmal eine Pause, um ein bisschen davon wegzukommen.»

«Dass die Spielbankenkommission Pokerturniere mit festem Startgeld als Geschicklichkeitsspiel definiert, ist ein katastrophales Signal», sagt denn auch die Spielsuchtspezialistin Christa Bot von der Suchtberatungsstelle Perspektive Mittelthurgau. «Das Prädikat Geschicklichkeit bedeutet: Du musst nur genug üben, dann wirst du früher oder später auch gewinnen», erklärt sie. Die meisten, die an Turnieren teilnehmen, «üben» online im Internet. Ein fatales Verhalten, denn dort liegen die Erfolgs- respektive Misserfolgserlebnisse zeitlich extrem nah beieinander - ein Hauptwegbereiter zur Sucht.

Von der Teillegalisierung profitieren auch jene, die illegale Cash-Games organisieren. Kontrollen gibts wenige bis gar keine. In keinem der acht vom Beobachter angefragten Kantone sind derzeit Verfahren wegen illegalen Pokerspiels hängig. Eine Übersicht der Szene über die Veranstalter ist schier unmöglich, Kontrollen der Polizei nahezu aussichtslos - der Unterschied zwischen Cash-Game und legalem Turnier ist für Aussenstehende auf die Schnelle kaum erkennbar. Auch in Solothurn besuchten neulich Polizisten die Bar im Untergeschoss der einstigen Handelsbank - und zogen unverrichteter Dinge wieder ab.

Die Sucht entsteht im Kopf

Früher oder später lechzt das Hirn nach Belohnung - beim Sex wie beim Pokerspiel.

Das mesolimbische System im Gehirn spricht auf eine Vielzahl von Reizen an. Eine Schlüsselrolle in diesem Belohnungsnetzwerk spielt der Nucleus accumbens. Er reagiert auf Essen, Sex oder Drogen, aber auch auf den Kick beim Glücksspiel. Dabei ist die Reaktion auf Heroin und andere Rauschmittel ungleich heftiger als auf Wurstbrot und Co. Ab-hängig von der Reizstärke, kommt es zur Ausschüttung des Botenstoffs Dopamin durch das ventrale tegmentale Areal und zu einer Stimulation des Nucleus accumbens. Folge: ein Gefühl der Euphorie. Doch nicht allein der spontane Glücksrausch entscheidet darüber, ob wir eine Hand-lung später wiederholen. Verschiedene Hirnareale analysieren die Situation und versorgen den Nucleus accumbens mit weiteren Informationen: Der Mandel-kern bewertet, wie angenehm eine Erfahrung ist. Die Abschätzung möglicher mit dem Ereignis verbundener Risiken erfolgt im medialen Teil des präfrontalen Kortex, im Stirnlappen. Die nötigen Koordinationen über das Wo und Wie der belohnenden Erfahrung liefert der Hippocampus - das Eingangstor zum Gedächtnis. Um eine schädliche Überreizung des Systems zu vermeiden, wird es bei chronischer Stimulation herunterreguliert - wie, ist noch nicht bis ins Detail geklärt. In dieser Gewöhnungsphase gräbt sich die Sucht in das Gehirn ein: Der ersehnte Rausch lässt sich nur noch erleben, wenn der Reiz gesteigert wird - beim Pokern etwa, indem immer öfter oder um mehr Geld gezockt wird. Bald reagiert der Süchtige schon beim Anblick des Objekts der Begierde.