Bedeckter Himmel auf der Schwägalp AI. Nebelschwaden ziehen um die Wände des Säntis. Der Südtiroler Sigi Paulmichl, Wanderleiter der Zürcher Wanderwege (ZAW), steigt mit heiterer Miene auf einen kleinen Grashügel: «Es freut mich, dass ihr euch vom schlechten Wetter nicht habt abhalten lassen. Jetzt gehts los, via Pfingstboden, Ellbogen zum Hinterfallenchopf und hinunter nach Nesslau.»

110 Wanderlustige haben sich eingefunden, die Frauen sind in der Mehrheit. Der Altersdurchschnitt dürfte bei über 60 liegen. Ausreisser nach unten sind eine 28-Jährige, die ihre Mutter begleitet, und eine etwa 30-jährige Koreanerin, die seit zwölf Jahren in der Schweiz lebt und dem koreanischen Nationalsport Wandern frönt.

Ausreisser nach oben gibts auch. So etwa Hans Bögli, 82-jährig, im Aktivdienst einst Hauptmann der Radfahrerkompanie II/27, Wanderer seit eh und je – oder Max Landis, der als zweiter Leiter stets am Schluss der Gruppe marschiert und «schon gegen achtzig» geht. Beide sind topfit. Das ist auch nötig: Die Wanderung ist mit drei Sternen gekennzeichnet, also nur für gut trainierte Teilnehmer geeignet, die Höhendifferenzen nicht scheuen und viereinhalb Stunden wandern können.

Zuerst gehts bergab, über feuchte Holztritte und Wurzeln Richtung Hochmoor. «Wanderer sind Naturfreunde», verkündet das Wanderprogramm der Schweizer Wanderwege (SAW) – und schärft den Naturfreunden gleich ein, die Abfälle seien mitzunehmen. Das tun sie auch, gehen mit offenen Augen durchs Hochmoor, beachten das Wollgras und machen auch mal Halt, um Heidelbeeren zu geniessen.

Wandern – mit und ohne Radio
Beim Wort «Radiowanderung» reagieren die Teilnehmer irritiert. Die Tour sei im «gelben Wanderbüchlein» des ZAW angekündigt worden – so wie die andern Wanderungen auch. Radio DRS1 habe zwar einen Hinweis ausgestrahlt, «doch wer hört denn schon DRS1?», frotzelt eine rüstige Rentnerin. Auch ihre Kollegin hört die Bezeichnung «Radiowanderung» gar nicht gern, das töne zu sehr nach straffer Organisation und roten Socken.

Guido Wähli, Obmann der Wanderleiter und frühpensionierter Kantonsschullehrer für Geografie und Biologie, wandert auch mit. Der Begriff «Radiowanderung» entlockt ihm ein Lächeln. «Das Zeitalter der Radiowanderungen ist vorbei – und wir sind nicht traurig darüber.» Von der Dachorganisation SAW ergehe jeweils ein Befehl an die Sektionen, an bestimmten Daten eine Radiowanderung durchzuführen – egal, ob das nun ins Programm der Sektionen passe oder nicht.

Auch bei der SAW hält sich die Trauer über den baldigen Hinschied der Radiowanderung in Grenzen. Geschäftsführer Marcel Grandjean: «Wandern ist ja populärer denn je, selbst bei jungen Leuten; entsprechend trendige Kleider sind auf dem Markt. Aber die Radiowanderung entspricht keinem Bedürfnis mehr.»

Doch in diesem Jahr klappts noch; an 24 Sonntagen finden Radiowanderungen statt. Im SAW-Wanderprogramm ist denn auch vermerkt, dass die Routen jeweils am Samstag um 6.55 Uhr auf Radio DRS vorgestellt werden. Der Zeitpunkt dürfte mitverantwortlich sein, dass die Jungen von den Ausflügen nichts mitbekommen.

Im Schwägalpgebiet fallen bereits nach einer Stunde die ersten Tropfen, nicht intensiv, aber regelmässig. Grund genug für eine Fünfergruppe, auf direktem Weg dem Tal zuzusteuern. «Fahnenflüchtige gibt es immer», kommentiert ein Veteran. Danach steht die erste Anstrengung bevor: Es geht bergauf Richtung Ellbogen.

Mutter und Tochter reduzieren ihr Marschtempo, aber nicht wegen der Mutter. Wenn überhaupt, dann nehme sie das nächste Mal an einer Zwei-Sterne-Wanderung für trainierte anstatt gut trainierte Wanderer teil, keucht die Tochter.

Die rund 100 Wanderer haben sich mittlerweile auf zwei Kilometer verteilt. In früheren Zeiten muss die Kolonne fast endlos gewesen sein. So im Boomjahr 1964, als im Schnitt noch etwa 460 Teilnehmerinnen und Teilnehmer dabei waren und an den beliebtesten Radiowanderungen gar 1000 bis 1500 rot besockte Frauen und Männer mitmarschierten. Zum Teil wanderten sie nicht nur, sie sangen auch. Und um den Wohlklang zu verbessern, wurde schon mal ein Dirigent mitgeschickt.

Zärtlichkeiten fürs Braunvieh
Alles begann im Jahr 1961. Damals wollten die Macher von Radio Beromünster, wie DRS1 damals hiess, die Stubenhocker hinter dem Ofen hervorlocken. Man feierte das Rousseau-Jahr und befand, im Namen des grossen französischen Philosophen sei den Schweizerinnen und Schweizern die Natur wieder näher zu bringen.

Oder nur den Männern? Die Radiosendung zur Verbreitung der Wanderlust hiess «Chum Bueb und lueg dis Ländli a» – in Anlehnung an die gleichnamige Zürcher Hymne, Pflichtlied aller helvetischen Schulen. Natürlich fühlten sich jüngere und ältere Meitli auch angesprochen; sie sangen ja auch die Hymne kräftig mit.

Der Höhenflug der Radiowanderungen hielt bis 1970 an. Dann begannen die Teilnehmerzahlen zu sinken. 1972 waren es im Durchschnitt noch rund 200 Personen, knapp 150 zehn Jahre später. 1990 liessen sich noch 94 hinter dem Ofen hervorlocken, 2000 noch 37 und letztes Jahr gerade mal 36. Die Wanderung auf den Hinterfallenchopf ist somit – auch wenn die Teilnehmer davon nichts wissen – einer der letzten Erfolge in der Geschichte der Radiowanderungen.

Die ersten Wanderer erreichen den Ellbogen. Neben dem Bauernhaus kläfft ein giftiger Appenzeller Bless. Aus Richtung der Churfirsten blitzt es bedrohlich. Vor dem Abstieg ziehen auch die wetterfesten Wanderer ihre Regenjacken an. Wieder kommt die Freude an Fauna und Flora zum Zug. Einige Teilnehmerinnen verpassen den Kühen Streicheleinheiten, andere wenden sich lieber den üppig spriessenden Pilzen zu.

Für Verena Schuppisser machen gerade solche Zwischenhalte den Reiz einer ZAW-Wanderung aus: «Für so etwas kann man sich Zeit lassen, die Letzten sind eh sehr langsam.» Sie selbst ist nun zum dritten Mal dabei und wird wieder mitgehen.

Der Blickkontakt zu den Vorderleuten ist verloren gegangen. Doch das macht nichts. Wanderleiter Sigi Paulmichl steckt in regelmässigen Abständen gelbe Fähnchen, die Schlussmann Max Landis wieder einsammelt. «Zwei Wanderleiter brauchts unbedingt, besser sind aber drei – der dritte für Unvorhergesehenes», sagt Guido Wähli. Hie und da komme es halt schon vor, dass sich ein Teilnehmer überschätze. Der dritte Leiter kümmere sich dann um den Übermüdeten – man könne ja nicht die ganze Gesellschaft warten lassen.

Hindernisse fürs Wandervolk
Nun gehts hinauf zum Hinterfallenchopf. «Lieber langsam, dafür konstant gehen», rät die Mutter ihrer halb so alten Tochter, die wie eine Dampflok schnauft. Aber sie kommt voran.

Der Regen zeigt Wirkung, die Kuhpfade sind voller Wasser, und das Gras wird glitschig. Die ansässige Bauersame scheint die Wanderer nicht sonderlich zu mögen. Die künstlich errichteten Barrieren sind jedenfalls zahlreich: elektrische Drähte, die der Wandertrupp unterqueren muss, Stacheldrahtzäune zum Überqueren. Keine Spur von Drehkreuzen oder abgewinkelten Durchgängen.

Anhand der Landkarte lässt sich auf dem Hinterfallenchopf die Aussicht erahnen, die man hätte, wenn Regen, Wolken und Nebel nicht wären. Doch dann gehts bergab Richtung Alphütte, nochmals über drei, vier Stacheldrahthindernisse. Einmal mehr ist das Vorstellungsvermögen gefordert: Hier, in der sanften Mulde, im trockenen Gras könnte man alle viere von sich strecken, lustvoll in die mitgebrachten «Eingeklemmten» beissen und sich von der Bergsonne bräunen lassen.

Beim Abstieg nach Ennetbühl hört auch der Regen auf. Max Landis erzählt von seiner Arbeit in der technischen Kommission. Er ist verantwortlich für einen Teil der Orientierungstafeln auf dem Üetliberg. Das bedeute: immer wieder die Wege abmarschieren, neue Tafeln besorgen, wenn Wegweiser zerstört oder abgedreht worden seien, um Wanderer in die Irre zu führen. Auf die kleine Entschädigung, die ihm zustehen würde, verzichtet er.

Seit sich auch der Bund mit den Wanderwegen befasst (siehe «Wandern») und einzelne Sektionen Sponsoren gefunden haben, müssen nicht mehr alle Arbeiten ehrenamtlich verrichtet werden. So erhalten die Wanderleiter etwa 100 Franken für eine Tagestour. Nicht sehr viel, wenn man bedenkt, dass sie die Tour zuerst allein absolvieren. Dies nur kurz vor der Publikumswanderung, damit es keine unliebsamen Überraschungen gibt.

Das Dorf Ennetbühl ist erreicht, Mutter und Tochter sind erleichtert. Sie besteigen hier das Postauto nach Nesslau. Kommentar der Tochter: «Hut ab vor all den fitten Senioren!» Der Rest der Gruppe nimmt nach einem Halt im Restaurant die restliche Stunde Weg unter die Füsse.

Das Totenglöcklein läutet
In Nesslau geht die Radiowanderung zu Ende. Man besteigt miteinander den Zug. Wie üblich hat alles geklappt, die Wanderleiter haben die Dankesbezeugungen redlich verdient. Guido Wähli hat noch einen Wunsch an den Beobachter: «Vielleicht wäre es besser, nichts über das Ende der Radiowanderungen zu schreiben. Ich habe gerade gehört, das letzte Wort sei noch nicht gesprochen.»

Hier irrt er. Das Ende der Radiowanderung hat schon stattgefunden – auch wenn Wähli und die «Schweizer Wanderwege» vom Gegenteil überzeugt sind. Der Beobachter hat an zwei Samstagen den Test gemacht: Um 6.55 Uhr kündet DRS1 alles Mögliche an, nur nicht die Radiowanderung vom Sonntag. Gelassene Reaktion bei den Radiomachern: Seit Anfang dieses Jahres stelle man die Routen nicht mehr vor – die «Schweizer Wanderwege» hätten auch keinen Antrag mehr gestellt.

Fazit: Der Tod der Radiowanderung ist erst auf Anfang 2003 angesagt. Doch der Patient ist schon ein Jahr zuvor sanft entschlafen – klammheimlich. Das hat die Radiowanderung nicht verdient.