Einem Strassenmusikanten kann man aus zwei Gründen Geld geben: damit er weiterspielt oder damit er aufhört. In diesem Spruch liegt mehr als nur ein Quentchen Wahrheit. Unter Strassenmusikern gibt es wahre Virtuosen - und andere, die ihren Instrumenten die Töne eher abringen denn entlocken.

So unterschiedlich wie Können und musikalische Bildung sind auch die Lebensgeschichten der Strassenkünstler. Das war schon immer so (siehe nachfolgende Box «Gaukler, Gauner, Musikus»). Und noch immer haftet ihnen ein schlechter Ruf an. Dabei stehen längst nicht alle Strassenmusikanten am Rand der Gesellschaft.

Ein Augenschein in der Luzerner Altstadt: Ein Gebrüll wie ein Kriegsschrei erfüllt den Falkenplatz. Matz «Matze» Hoby beginnt seine Darbietung häufig mit demselben Lied, einem «Forró». Das ist Volksmusik aus dem Nordosten Brasiliens. Die Passanten bleiben irritiert stehen und hören genauer hin, wer da mit Akkordeon, Fusspauke und Rassel lautstark sein Können zum Besten gibt. «Strassenmusik macht Spass», sagt der 22-jährige St. Galler. «Bei den Zuschauern ein Lächeln zu hinterlassen, zu sehen, wie sie an mir vorbeitanzen und im Takt zu meiner Musik klatschen, das bereitet mir Freude.» Doch Strassenmusik sei auch harte Arbeit.

Matze, der letztes Jahr seine Grafikerausbildung abgeschlossen hat, verdient damit seinen Lebensunterhalt. Seine Einkünfte können sich sehen lassen: Diesen Sommer hat er sich eine halbjährige Afrikareise zusammengespart, die er demnächst antritt.

Die Handorgel vom Abfallhaufen

Und wie ist er zur Strassenmusik gekommen? Vor vier Jahren - es war kurz vor Weihnachten - habe seine Mitbewohnerin auf einem Abfallhaufen eine Handorgel gefunden. «Daraufhin lernte ich zwei französische Lieder aus dem Kinofilm ‹Amélie›, setzte mich vor die Haustür und spielte während Stunden nur diese.» Dabei verdiente Matze gutes Geld. Die Weihnachtszeit sei grundsätzlich lukrativ. «Die Leute haben wohl das Gefühl, etwas Gutes tun zu müssen.» Im Winter hätten die Menschen ein bisschen Wärme besonders nötig, und mit seiner Musik spende er sie ihnen. «Ich selbst friere mir dabei die Finger ab.»

Doch viel nerviger als die kalten Finger seien die Vorschriften. Luzern sei noch relativ liberal. Man darf vier Mal pro Monat ab 17 Uhr überall spielen, muss aber nach einer halben Stunde den Standort wechseln. Er hält die Vorschriften für völlig unnötig: «Ist doch super, wenn die Leute etwas tun und die Strasse zum Leben bringen. Wozu braucht es da Regeln?»

«Weil zu viel des Guten auch schlecht ist», sagt Urs Geissbühler, Sekretär der Konferenz der kantonalen Polizeikommandanten. «An schönen Tagen nähme das Ganze sonst überhand - sowohl was den Lärm wie auch die Geldforderung angeht.» Die Leute hätten ein Recht, vor Störungen durch die Strassenmusiker geschützt zu werden, sagt Geissbühler - «zumal Strassenmusiker nicht ausschliesslich begabte Künstler sind».
In einzelnen Städten wie Biel, Genf und Lausanne müssen die Musikanten der Polizei beweisen, dass sie ihr Instrument beherrschen. Die Ordnungshüter hoffen, damit gewöhnliche Bettler zu entlarven, die sich bloss mit einer Klampfe tarnen. Betteln ist nämlich vielerorts verboten. Und wenn durch das Vorspielen das musikalische Niveau steigt, umso besser.

«Reich wird man dabei nicht»

Eine fraglos qualifizierte Musikerin ist Marianne Amsler. Mit Bedacht stellt die 29-jährige Cellistin ihren Notenständer an der Zürcher Seepromenade auf. Seit zwei Monaten ist die Thalwilerin hier als Strassenmusikerin anzutreffen. In Zürich ist Strassenmusik ohne Bewilligung eigentlich verboten, und zwar auf Strassen, Plätzen und in Cafés - also überall dort, wo es Sinn machen würde. Am Seeufer zwischen der Badeanstalt Mythenquai und dem Museum Bellerive werden Darbietungen allerdings ausdrücklich toleriert, sofern nichts aufgebaut wird und die Instrumente mitgetragen werden können. Nach 20 Minuten müssen die Künstler auch hier den Ort wechseln. Sie verstehe, dass man nicht überall musizieren darf, sagt Marianne. «Aber ich spiele sowieso am liebsten hier. Die gemütliche Atmosphäre passt am besten zu meiner Musik.»

Sie befestigt das Notenheft mit Wäscheklammern am Ständer und setzt sich auf ihren Küchenschemel. Kurz darauf erklingen die ersten Töne - Marianne interpretiert eine Courante von Johann Sebastian Bach. «Ich habe eine emotionale Beziehung zu meinem Instrument», erzählt die Künstlerin. «Ich liebe seine tiefen Töne.» Sie spielt seit 21 Jahren Cello. Zurzeit ist sie Teil eines Streichquartetts. «Ich wollte aber schon immer auf der Strasse spielen», sagt sie. Strassenmusik bedeute Freiheit. «Ich kann mein Cello einfach auf meinen Rücken packen und mit ihm Geld verdienen, egal wo.»

Ganz besondere Freude bereiten ihr die vielen Begegnungen. «Man lernt Menschen kennen, mit denen man sonst nicht sprechen würde. Und man erlebt lustige Augenblicke, vor allem mit Kindern.» Vor kurzem habe sie an einem windigen Tag gespielt. Der Notenständer sei ständig umgefallen, und der Spendenhut sei umhergewirbelt worden. Da seien Kinder herbeigeeilt und hätten ihren Ständer gehalten und den Hut mit Steinen beschwert. Leider nur mit Steinen. «Reich wird man als Strassenmusiker bestimmt nicht», lacht Marianne. Noch bestreitet die gelernte Bewegungsschauspielerin ihren Lebensunterhalt als Aushilfskassiererin im Theater am Hechtplatz. «Ich möchte aber jetzt ausprobieren, ob ich von der Kunst allein leben kann.» Den ersten Schritt hat sie getan.

In einer rechtlichen Grauzone

Jean-Louis Röthlisberger verdient sich sein Geld bereits seit Jahren mit seinen Künsten, aber reich wird auch er nicht dabei. An schönen Tagen streift er über die Berner Münsterplattform und spielt den Leuten auf Wunsch «ein jazziges Bluesstück» auf seiner Mundharmonika. Weil er die Leute anspricht und nur für jene spielt, die etwas hören möchten, hat Jean-Louis ein eigenes Verständnis von seinem Treiben: «Ich bin eigentlich kein Strassenmusiker, ich bin Auftragskünstler», sagt er.

Die Beglückten vergelten ihm seine Ständchen mit etwas Kleingeld, Bier oder Rauchwaren. «Einmal gabs eine Zehnernote, aber das ist selten.» Er habe auch schon vor einem Stand für eine Crêpe gespielt, als er Hunger hatte. In der kalten Jahreszeit, wenn das Geschäft schlecht läuft, spielt Jean-Louis in Alternativbeizen - «mit Einverständnis der Wirte». Mit dem Gesetz kommt er so selten in Konflikt.

In Bern gibt es eine Sperrzone in der oberen Altstadt; am Nachmittag ist dort Musizieren verboten. Ansonsten kann ausser an Sonntagen und mit einigen zeitlichen Einschränkungen ziemlich frei musiziert werden. Genaue Auskunft über die Regeln gibt ein Merkblatt, das sich direkt an Strassenkünstler richtet. Die meisten Städte haben dies. Und wie fast überall wird auch in der Berner Version darauf hingewiesen, dass zwar ein Hut hingestellt, aber nicht aktiv Geld gesammelt werden darf. Jean-Louis bewegt sich mit seiner Methode also in einer Grauzone.

Die Kunst im Blut

Obwohl der 42-Jährige mit der Mundharmonika sein Geld verdient, ist Musizieren für ihn auch ein Hobby. Wenn er genug Geld hat, fährt er an Festivals, wie kürzlich ans Piazza Blues in Bellinzona. Dort habe er an einer Afterhour-Party gar auf einer Bühne gespielt - mit einer Jazzband im Rücken.

Die Musik ist nicht Jean-Louis’ einzige Kunst. Nebenbei verkauft er auch selbst gezeichnete Karten - «Erotika», ergänzt er. Seine künstlerische Ader hat er vermutlich geerbt. Jean-Louis’ Vater war Kunstmaler; der Grossvater, Gustave Piguet, ein berühmter Bildhauer. Piguets Werke zieren nicht nur verschiedene Kirchen, sondern auch die Berner Kunsthalle und das Rathaus. Jean-Louis wäre auch gern Bildhauer geworden. «Ich wollte in der Münsterbauhütte die Lehre machen, aber der Sohn des Vorarbeiters hat die Stelle bekommen.» Also lernte Jean-Louis Steinhauer - und schloss als bester im Kanton ab; «wir waren vier». Nach der Lehre blieb er ein paar Jahre auf dem Beruf. Danach sei er dann «eine Weile weg vom Fenster» gewesen. Mehr sagt Jean-Louis nicht dazu.

Seither hält er sich mit verschiedenen Tätigkeiten über Wasser. Neben Musik und Kunstkarten verkauft Jean-Louis manchmal auch Kleider. Hin und wieder klappert er Brockenstuben nach Schnäppchen ab und verkauft sie weiter. Die besten Stücke behält er allerdings jeweils für sich. So ist auch seine Arbeitskleidung entstanden.

Jean-Louis trägt immer Zylinder und Frack, darunter verschiedenen Westen, ein weisses Hemd und einen Stoffgürtel mit Taschen. Alles in allem sieht er ein bisschen aus wie ein Zeitgenosse Franz Kafkas. Das sei aber eher zufällig. «Manchmal trage ich auch einen Minijupe und Strumpfhosen; so grün-gelb gestreifte - dann sehe ich aus wie ein Ritter.»

Wie lange er noch für Geld musizieren wird, weiss er nicht. «Aber meine Musik wird noch hier sein, wenn ich es schon lange nicht mehr bin», sinniert er - um nach einer kurzen Denkpause anzufügen: «Nein, das stimmt wohl nicht.»

Gaukler, Gauner, Musikus

Belege für die Existenz von Spielleuten gibt es seit dem 8. Jahrhundert. Zu ihnen zählten neben Schauspielern, Künstlern und Gauklern aller Art auch Musikanten. Mit ihren sogenannten Zeitungsliedern erfüllten die fahrenden Musiker eine wichtige gesellschaftliche Funktion: Sie verbreiteten Nachrichten. Trotzdem standen sie als rechtlose Vagabunden am Rand der Gesellschaft. Vor allem mit dem Entstehen eines gehobenen Musikerstandes in der Kirche und an den Höfen wurden sie zunehmend diskriminiert.

Allerdings waren die fahrenden Spielleute nie eine einheitliche soziale Schicht. Schon im frühen Mittelalter mischten sich Studenten, Kriegsversehrte, arbeitsscheue Gauner und entlaufene Mönche unter die Spielleute - ein «buntes Volk» eben.

Auch als sich die Strassenmusikanten später in Zünften organisierten, konnten sie sich ihrer niedrigen Stellung nicht ganz entledigen. Der Begriff «Musikant» beschreibt laut einem Wörterbuch um 1800 einen, «der die Musik verstehet und ausübet», aber nur «als ein blosses Handwerk um Lohn treibet». Für «Instrumentisten besserer Art» sei der Begriff zu niedrig, diese seien «Musicus» oder «Virtuose» zu nennen.