Es ist heiss, Hochsommer 2003. Oberhalb von Lenzerheide ereignet sich eine bizarre Szene: Drei Wanderer «kleben» mit gespreizten Armen und Beinen in einer steilen Geröllhalde. Sie können weder hoch noch runter und stecken im oberen Drittel der etwa 300 Meter langen Runse fest.

«Noch nie musste ich Leute aus einer so gefährlichen Lage befreien», erzählt Forti Niederer, Rettungschef des Schweizer Alpen-Clubs (SAC) im Prättigau. Ein direkter Anflug des Rega-Helikopters war zu gefährlich. Niederer muss sich mit einem Kollegen aus der Luft abseilen. Sie holen einen Wanderer nach dem anderen mit dem Rettungsgurt in den Helikopter. «Die drei waren völlig ungesichert und drohten ständig abzustürzen», sagt Niederer.

Es gebe immer wieder Situationen, bei denen er nur den Kopf schütteln könne, so Hans Jaggi, Bereichsleiter alpine Rettung beim SAC. «Die Leute überschätzen sich und informieren sich zu wenig.» Seit Statistik geführt wird, sind noch nie so viele Bergnotfälle verzeichnet worden wie 2003. 1771 Personen waren betroffen.

Letzten Herbst verunfallte der 32-jährige Umweltingenieur Daniel Rensch aus Winterthur auf einer Tour in Ligurien. Der erfahrene Kletterer stürzte fünf Meter tief ins Seil. «Kurz bevor ich den Karabiner einhaken konnte, fiel ich runter», erinnert er sich. Das Ganze sei sehr schnell gegangen, ein «typischer Kletterunfall». Seine Unfallbilanz: beide Bänder des einen Fusses angerissen, zwei Wochen Arbeitsunfähigkeit und eine versaute Wintersaison. «Das hat mich schon gewurmt.»

Unfallkosten von 1,7 Milliarden Franken
Das letzte Jahr war meteorologisch ein Ausnahmejahr mit besten Schneeverhältnissen und einem sehr heissen Sommer. Die Freizeitgesellschaft zeigte sich entsprechend unternehmungslustig. Neben den Bergunfällen nahmen auch die Töff- und Skiunfälle gegenüber dem Vorjahr um 20 Prozent zu. Das Jahr 2003 bestätigte aber nur einen langfristigen Trend. Insgesamt stieg die Zahl der Freizeitunfälle in der Schweiz in den letzten Jahren rapide an: Zwischen 1996 und 2003 nahmen sie von 421'412 um 13 Prozent auf 477'118 zu.

Diese Entwicklung spiegelt sich in den drastisch gestiegenen Unfallkosten: 1,7 Milliarden Franken zahlte die Suva im letzten Jahr an Freizeit-Unfallkosten – 108 Millionen mehr als im Vorjahr. «Die Risikorechnung geht seit zwei Jahren nicht mehr auf – jetzt führt nichts mehr an einer Prämienerhöhung vorbei», sagt Franz Steinegger, Verwaltungsratspräsident der Suva. Der grösste Schweizer Unfallversicherer versichert rund 100'000 Unternehmen mit 1,8 Millionen Berufstätigen. Jetzt sieht sich die Suva gezwungen, die Prämien für die Nichtberufsunfall-Versicherung um «durchschnittlich zehn Prozent» zu erhöhen. Am 18. Juni befasst sich der Verwaltungsrat mit dem Thema.

Und diesen Prämienschub werden die Angestellten bezahlen müssen. Bis anhin haben viele Firmen die Nichtberufsunfall-Prämien (NBU) für ihre Mitarbeitenden übernommen. Das wird sich jetzt ändern. «Die bevorstehende Erhöhung der NBU wird weitere Arbeitgeber dazu veranlassen, die Prämien auf die Angestellten abzuwälzen», sagt Peter Hasler vom Arbeitgeberverband. Er findet das auch richtig, denn das Unfallrisiko gehe von den Angestellten aus. Die Statistik liefert Hasler gute Argumente: Während die Zahl der Berufsunfälle abnimmt, steigen die Freizeitunfälle stetig an. Heute kommen auf einen Arbeitsunfall knapp zwei Freizeitunfälle. Statistisch gesehen verunfallt jede Person alle vier Jahre einmal.

Geschlecht, Alter und die berufliche Tätigkeit beeinflussen das Unfallrisiko: Generell verunfallen mehr Männer als Frauen und mehr Junge als Alte. Diese unterschiedlichen Risikofaktoren schlagen sich schon heute in den NBU-Prämien nieder, die zwischen 0,5 und 2,1 Lohnprozente betragen. Am höchsten sind die Prämien im Baugewerbe, wo meist junge Männer arbeiten, die ihren Beruf nur körperlich vollständig gesund ausüben können und auch in ihrer Freizeit mehr Risiken eingehen.

Oft ohne Helm oder sonstigen Schutz
«Die Fortschritte bezüglich Sicherheit werden kompensiert durch immer neue Sportarten», sagt Remo Molinaro, Leiter der Suva-Agentur Zentralschweiz. Tätigkeiten mit hohen Geschwindigkeiten wie Inlineskaten, Velofahren oder Carvingskifahren erfreuten sich immer grösserer Beliebtheit. Geschwindigkeiten von weit über 50 Kilometer pro Stunde sind dabei nicht ungewöhnlich (siehe Artikel zum Thema «Ein geiles Gefühl: Warum sich der vierfache Schweizer Meister im Downhillen trotz zahlreichen Unfällen weiterhin auf den Sattel schwingt»). Bei Stürzen führt dieses hohe Tempo zu sehr schweren Verletzungen. «Oft sind solche Unfallopfer auch noch ungeschützt, ohne Helm oder entsprechende Schutzausrüstung – welcher Autofahrer rast denn schon mit Tempo 30 ungebremst in eine Wand?» Bei Mountainbikern oder Snowboardern passiert laut Remo Molinaro aber genau dies.

Mit dem Tempo steigen die Unfallkosten. Ein Gleitschirmunfall verursacht einen Aufwand von rund 11'000 Franken. Durchschnittlich verunfallen jährlich etwa 600 Delta- und Gleitschirmflieger. Einer davon ist Stephan Egger. Der 35-jährige Elektromonteur aus Unterterzen SG ist ein leidenschaftlicher Gleitschirmflieger und Fallschirmspringer. «Es ist dieses Freiheitsgefühl, das Fliegen wie ein Vogel. Das ist einfach unbeschreiblich schön.» Dies sagt er auch heute noch, nach zwei schweren Unfällen, derentwegen er jeweils ein halbes Jahr nicht arbeiten konnte. «Gleitschirmfliegen ist nicht risikoreicher als das Leben selbst», lautet Eggers Fazit.

Geht jedoch etwas schief, sind die Verletzungen meist schwer. Solche Unfälle treiben die Kosten in die Höhe. «Die Folgen der Verletzungen sind oft so gravierend, dass sie früher oder später zur Invalidität führen», erklärt Suva-Sprecherin Barbara Salm. Die Zahl der wegen Freizeitunfällen zugesprochenen Renten hat sich zum Beispiel in der Zentralschweiz zwischen 2001 und 2003 mehr als verdoppelt. Rund 100 Millionen Franken für 100'000 Unfallrenten zahlt die Suva monatlich aus.

Längst begleichen die Versicherungen nicht mehr bei allen Freizeitunfällen den vollen Betrag. Laut Gesetz kann der Versicherer die Geldleistung bei Sportarten, die generell als Wagnisse gelten, um 50 Prozent kürzen. Darunter fallen Tauchen in einer Tiefe von mehr als 40 Metern, Abfahrtsrennen mit Mountainbikes, Autocross oder Fullcontact-Thaiboxen.

Stete Suche nach dem schnellen Kick
Das hindert Freizeitsportler nicht daran, Risiko und Abenteuer zu suchen: Immer riskanter, immer krasser, lautet ihr Credo. Voll angesagt ist derzeit Kitesurfen, bei dem man auf einem Surfbrett von einem Drachen über das Wasser gezogen und dabei oft mehrere Meter in die Luft gehoben wird. Ein extrem gefährlicher Sport, doch die Nachfrage nimmt «explosionsartig» zu, sagt Viviane Wegrath von der Swiss-Kitesurfing-Schule in Silvaplana GR. «Die Leute fahren auf neue Sportarten ab», erklärt die ehemalige Weltmeisterin.

Mit der Stiftung Safety in Adventures versuchen Bund und Kantone mit Partnern wie der Suva, Abenteuersportarten so sicher wie möglich zu machen. «Wir prüfen Firmen im Outdoorbereich wie Canyoning, Riverrafting oder Paragliding punkto Ausbildung, Materialwartung, Abläufe und Verantwortlichkeiten. Daraufhin vergeben wir ihnen ein Sicherheitslabel», so Geschäftsführerin Eveline Lanz. Die Idee zur Stiftung entstand nach dem Saxetbach-Drama im Sommer 1999, als 21 junge Menschen beim Wildwasser-Canyoning in einer Flutwelle starben.

Die Extremsportarten verursachen im Einzelfall enorme Unfallkosten. Die Masse der Unfälle geschieht aber in den traditionellen Sportarten wie Rad- oder Skifahren. Selbstüberschätzung, mangelnde Fitness und falsche Vorbereitung sorgen für volle Arztpraxen. Nach wie vor liegt Fussball mit über 50000 Unfällen pro Jahr an der Spitze der Unfallstatistik. «Fussballspielen ist ein gefährlicher Sport», sagt Sportarzt und Ex-Nati-Goalie Roger Berbig.

Dabei schafft auch der zunehmend polysportive Ehrgeiz Probleme. «Man macht vier bis fünf Sportarten gleichzeitig, beherrscht aber keine richtig», sagt René Mathys, Sportchef bei der Schweizerischen Beratungsstelle für Unfallverhütung. Die Leute unterschätzten die Anforderungen. Das kann Martin Sarbach, 32, bestätigen. Der Jurist fährt Ski, seit er laufen kann. Letztes Jahr wollte er es einmal mit dem Snowboarden probieren. Er mietete sich ein Brett und fuhr los – ohne Lehrer. Nach zehn Minuten das Aus: «Ich stürzte, es tat wahnsinnig weh.» Sarbach brach sich die Schulter und renkte sich das Schultergelenk aus. Nach einwöchigem Spitalaufenthalt und einem Jahr Physiotherapie wird er sich nie wieder auf ein Snowboard stellen: «Ich habe mir neue Carvingski gekauft.»

Aber auch das Carven hat seine Tücken. Anfänger sind mit Carvingski automatisch schneller unterwegs, und die Kurventempi sind generell höher. 1980 gab es 26'000 Skiunfälle, 2001 bereits 42'970. Die Zürcher KV-Angestellte Yvonne Breitenmoser war letzten Winter in den Flumserbergen am Carven. Plötzlich hakte sie in einer Kurve ein und stürzte. Die Folgen: Kreuz-, Seiten- und Aussenband im Knie gerissen und ein Trümmer- und Splitterbruch im Kniegelenk. Die 30-Jährige hat zwei Operationen hinter sich und immer noch starke Schmerzen. «Treppensteigen tut weh, und Rennen geht gar nicht», sagt sie. Yvonne Breitenmoser wird nie mehr Ski fahren: «Das Risiko ist mir zu gross.»

Professionelleres Freizeitverhalten
Dennoch bleibt der Nutzen des Sports unbestritten. Laut einer Studie des Bundesamts für Sport verhindert das Sporttreiben 2,3 Millionen Erkrankungen und jährliche Behandlungskosten von 2,7 Milliarden Franken. Demgegenüber verursachen die Sportunfälle Kosten in der Höhe von 1,1 Milliarden. «Die Leute sollen nicht auf den Sport verzichten», sagt Remo Molinaro von der Suva, «aber sie sollten sich auch in der Freizeit so professionell verhalten wie am Arbeitsplatz und sich besser vorbereiten» (siehe Artikel zum Thema «Prävention: Die fünf goldenen Regeln der Unfallverhütung»). Sein simpler Rat: «Nehmt die Freizeit ernst.»